Herr Andrioli, vor Ihnen steht ein Glas Kuhmilch. Was hat diese in Deutschland gemolkene Milch mit Brasilien zu tun?
Sie ist mit Hilfe von Soja aus Brasilien erzeugt. Hochgerechnet benötigt man in Südamerika eine Fläche von der Größe Mecklenburg-Vorpommerns, um den Eiweißbedarf in deutschen Ställen zu decken. Das sind 2,3 Millionen Hektar.
Warum kommt dieser Bestandteil des Kraftfutters aus Brasilien und worin besteht das Problem?
Soja kommt oft aus Brasilien, weil es dort am billigsten ist. Hier in Deutschland werden damit Überschüsse erzeugt. Und was macht man dann mit der überflüssigen Milch? Die EU kauft die überflüssige Milch auf und schickt sie zum Beispiel als Milchpulver nach Afrika, was dort die lokale Produktion zerstört. Um den Fettgehalt zu erhöhen, mischt man Palmöl aus Indonesien drunter. Nun sind weder Soja noch Palmöl an sich schlechte Produkte, im Gegenteil. Aber die Art, wie Europa damit umgeht, zerstört unsere lokale Landwirtschaft, unsere Natur und kontaminiert unser Wasser in Brasilien, es belastet durch die Transporte die Umwelt.
Anders gesagt: Der deutsche Verbraucher hat eine Mitverantwortung für die Umweltprobleme in Brasilien?
Nicht nur die Konsumenten. Sondern auch die Politik. In die EU werden jedes Jahr 35 Millionen Tonnen Soja importiert. Das geschieht, weil die EU-Agrarpolitik auf billige Lebensmittel setzt. Die EU betreibt diese Politik, obwohl sie unter dem Strich teurer ist, wenn man sieht, welche Gesundheitsschäden mit Pestiziden angerichtet werden. Und Brasilien ist „Weltmeister“ im Verbrauch von Pestiziden.
Ein Schritt zurück: Im Sommer 2016 wurde die sozialdemokratische Präsidentin Rousseff mit einem parlamentarischen Putsch aus dem Amt geworfen. Seither regiert der liberal-konservative Michel Temer. Was hat sich seither verändert?
Die seit 500 Jahren anhaltende Entwicklung hat sich vertieft: Brasilien exportiert weiter seine Ressourcen, Kleinbauern werden von ihrem Land vertrieben, die Regierung wird von den Konzernen gelenkt, viele Politiker sind korrupt. Inzwischen sitzt die Agrarindustrie nicht nur im Parlament, sondern auf der Regierungsbank. Landwirtschaftsminister Blairo Maggi ist der Soja-König, der größte Soja-Produzent der Welt. Er ist dafür verantwortlich, dass im Bundesland Mato Grosso 40 Prozent der Wälder abgeholzt wurden, um dort Soja anzubauen.
Das heißt, die ohnehin seit Langem bestehende Verdrängung der Kleinbauern wird nun mit radikalen Schritten vollendet?
So ungefähr. Die auf Exporte orientierte Agrarpolitik führt zu mehr Abhängigkeit, Landkonzentration, Landflucht, Armut und Hunger. Die Agrarexporte bringen jedes Jahr 25 Milliarden Dollar Überschüsse ein. Damit wurden früher Hungerhilfen, die übrigens auch an Kleinbauern gingen, bezahlt. Das Geld wurde in Schulen, in Universitäten, in das Gesundheitssystem gesteckt. Das wurde unter Temer alles gestrichen. Bildung für indigene Völker? Abgeschafft! Heute profitieren nur noch die Großbauern, es geht nur noch um die Elite. Dabei sind drei Viertel der Farmer Kleinbauern, sie beackern aber nur ein Viertel der Fläche.
Regt sich dagegen Widerstand?
Ja, aber der steht noch am Anfang. Die Mobilisierung ist noch sehr schwach. Die Kleinbauern werden verdrängt, verfolgt, Landlose wurden erschossen, Studenten verhaftet. Da wird schon mal in unserer Region die Leitung einer Fachhochschule abgesetzt, nur weil die Hochschullehrer mit den Landlosen kooperierten.
Ist Soja allein eine Sache der Großbauern?
Auch Kleinbauern bauen Soja an, zudem Mais und Schwarzbohnen. Wir versuchen, zu einer Diversifizierung zu kommen. Aber das ist schwer: Das Wasser ist häufig kontaminiert mit Pestiziden, und geeignetes Saatgut, das man für eine Vielfalt an Kulturen bräuchte, ist nicht mehr vorhanden. Es ist sehr schwer, sich gegen Großagrarier und die hinter ihnen stehende Agrarindustrie zur Wehr zu setzen. Man darf zudem nicht vergessen, dass wir immer noch viel Urwald besitzen, der zerstört werden kann.
Derzeit wird Cerrado, eine Savanne mit Trockenwäldern in Brasilien, abgeholzt und zu Ackerland gemacht.
Richtig. Früher pflanzte man Soja bei uns nur im Süden an, später wurden Regenwälder abgeholzt, dann auch der Trockenwald. Der Siegeszug des Sojaanbaus und die damit einhergehende Vernichtung ganzer Landschaften begann, als man anfing, Soja an Schweine zu verfüttern. Heute hinterlässt diese Form der Landwirtschaft eine Spur der Verwüstung. Inzwischen liegen 70 Millionen Hektar brach, weil man auf vielen Böden Soja nur einige Jahre lang anbauen kann. Die Cerrado-Savannen sind eigentlich nicht wirklich geeignet für Soja. Es gibt zwar inzwischen angepasste Sorten, aber das geht nur drei bis fünf Jahre gut. Dann kann man noch kurze Zeit Zuckerrohr pflanzen, und danach geht gar nichts mehr. Alle reden sich raus. Die Sojabauern sagen, wir haben den Wald nicht gerodet, das waren andere, die das Holz wollten. Die Zuckerrohrfarmer behaupten später dasselbe. Eine Fläche, die zweimal so groß ist wie Frankreich, wurde zerstört, sie liegt brach. Mit viel Glück wächst dort eines Tages wieder Wald. Mitten drinnen aber leben indigene Gruppen. Spätestens an diesem Punkt muss man fragen: Was wiegt denn schwerer: die Rechte der Menschen, die dort leben und denen man die Basis ihrer Existenz entzieht, oder die Ansprüche der internationalen Konzerne, die unser Land ausbeuten? Die Konzerne stehen hinter dem Putsch vom August vergangenen Jahres.
Brasilien ist Weltmeister im Verbrauch von Pestiziden
Bisher galt Brasilien als verlässlicher Lieferant für gentechnik-frei erzeugtes Soja. Ist das noch so?
Brasilien erzeugt im Jahr 113 Millionen Tonnen Soja, davon sind 11,3 Millionen Tonnen frei von Gentechnik. Das reicht für Deutschland allemal. Aber Vorsicht: Die Ware ist deshalb nicht frei von Pestiziden. Und es besteht ständig die Gefahr, dass es eine Kontamination durch gemeinsame Nutzung von Maschinen, Lagern und Transportern gibt. Und nun kommt die schlechte Nachricht: Auch Blairo Maggi baut gentechnik-freies Soja an. Er macht das im Mato Grosso, in einer der am dünnsten besiedelten Regionen des Landes, und zwar auf Tausenden von Hektar. Die große Fläche und die großen Mengen vermindern allerdings die Gefahr, dass es zu einer Vermischung mit Gentech-Sorten kommt. Für Maggi ist es ein gutes Geschäft.
Gibt es in Brasilien auch einen ökologischen Landbau?
Aber ja! Wir sind einer der weltweit größten Exporteure von Bio-Honig. Im Urwald kann man das noch machen. Außerdem ist Brasilien Weltmeister im Anbau von Bio-Reis. Der geht auch nach Europa!
Hätte ein Glyphosatverbot in Europa Auswirkungen auf Lateinamerika?
Unbedingt! Ein Verbot in Europa würde bedeuten, dass auch keine Futtermittel mehr importiert werden dürfen, die Glyphosat enthalten. Das wäre ganz wichtig auch für uns. Im Übrigen kann man Soja auch in Deutschland anbauen.
Was in kleinem Umfang auch geschieht, sogar in Bio-Qualität.
Genau. Das funktioniert, und zwar mit demselben Ertrag wie in Brasilien. Der deutsche Soja-Anbau hat nur einen Haken: Er ist nicht so billig wie der in Lateinamerika. Man kann auch Lupinen oder Erbsen als Eiweißpflanze für die Tiere anbauen. Das reicht vielleicht von den Mengen her nicht. Aber müssen Europas Bauern denn derart viel Milch und Fleisch produzieren? Nein, das führt nur zu Massentierhaltung und niedrigen Preisen. Deutschland müsste stärker die regionale Landwirtschaft und die kleineren Bauern fördern. Das würde auch Brasilien helfen. Wenn hier eine kleinbäuerliche Landwirtschaft funktioniert, dann funktioniert sie auch in Brasilien. Dann wird auch unsere Agrarpolitik Abschied vom Export nehmen.
Was wünschen Sie sich von den europäischen Verbrauchern?
Die Konsumenten machen sich das zu einfach, wenn sie sagen, ich esse jetzt mal kein Fleisch, dafür Tofu, dann rette ich die Welt. Vielleicht ist das Soja genauso schlimm wie das Fleisch. Wenn ich das einem Vegetarier sage, dann dreht der natürlich durch. Aber die Produktionsbedingungen für Soja aus Brasilien sind mies. Ich kann auch den Import von Bio-Soja, weil es von weit herkommt, nicht gut finden.
Landraub, Umweltzerstörung, korrupte Politiker … Wie halten Sie das aus?
Ich bin unter einer Militärdiktatur aufgewachsen. Wir wurden in der Schule gefoltert. Das, was wir jetzt erleben, ist im Vergleich zur Vergangenheit nicht ganz so schlimm. Allerdings leben wir in einem Zustand der Diktatur unter dem Mantel einer Scheindemokratie. Die Meinungsfreiheit ist eingeschränkt. Aber ich kann meine Kritik an den Umständen im Land äußern, auch an meiner eigenen, einer staatlichen Universität, die auf Initiative von Kleinbauern und Indigenen entstanden ist. Ich muss das auch tun, damit es die jüngere Generation besser hat als ich.
Zur Person
Antonio Andrioli ist Professor und Vize-Direktor der staatlichen Universität Federal da Fronteira Sul in Brasilien. Er promovierte 2006 an der Universität Osnabrück zum Thema Landwirtschaft und Anbau von Gentech-Soja in Brasilien. Andrioli ist außerdem Autor des Buches „Die Saat des Bösen: schleichende Vergiftung von Böden und Nahrung“. Er bezeichnet sich selbst als Globalisierungskritiker und setzt sich intensiv für die soziale Bewegung der Kleinbauern und Landlosen ein. Ende 2017 war der 43-Jährige drei Wochen in Deutschland unterwegs, um über die Situation in Brasilien zu informieren.
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