Essen

Gemeinwohl: Mehr Geld für nachhaltige Höfe

Viele Bäuerinnen und Bauern erbringen Extra-Leistungen für die Gesellschaft. Sie schützen ihre Böden, das Trinkwasser und Klima. Doch angemessen entlohnt werden sie dafür nicht. Wie es anders geht.

Christian Hiß will Unsichtbares sichtbar machen. Dem Bio-Bauern geht es dabei um Leistungen, die Landwirtinnen und Landwirte für das Gemeinwohl erbringen. Denn diese werden oft übersehen. Allen voran produzieren Landwirt:innen unser Essen und machen unser Ernährungssystem krisenfest. Doch auch in Sachen Naturschutz sind viele wahre Helden. Sie schaffen durch ihre Bewirtschaftung Oasen der Artenvielfalt. Sie speichern in ihren Feldern und Wiesen CO2 aus der Atmosphäre und sorgen dafür, dass viele heimische Tierrassen nicht aussterben. Und all das umsonst, nebenbei, in einem Job, der schon so viel fordert. Denn angemessen bezahlt werden sie für diese Leistungen nach wie vor nicht.

Die von der Landwirtschaft verursachten Umweltschäden betragen in Deutschland mindestens 90 Milliarden Euro pro Jahr, schätzt die Zukunftskommission Landwirtschaft.

Gemeinwohlleistungen der Landwirtschaft berechnen

Hiß kennt das aus eigener Erfahrung. Der gelernte Gemüsebauer machte sich mit 20 Jahren als Bio-Bauer selbstständig. Er schloss sich Saatgutinitiativen an, achtete auf geschlossene Nährstoffkreisläufe, baute 70 verschiedene Gemüsekulturen an. Doch enttäuscht musste er feststellen, dass all die Mehrwerte für Umwelt, Klima und Ernährungssicherheit nirgends beziffert werden. Deshalb gründete Hiß die Regionalwert Leistungen GmbH und entwickelte ein Online-Tool, das Landwirtinnen und Landwirten ermöglicht, den konkreten Geldwert ihrer Leistungen für Umwelt und Gemeinwohl auszurechnen – den Zusatzaufwand für den Schutz von Hamstern, Feldlerchen und Insekten ebenso wie den für den Erhalt von Bodenfruchtbarkeit, regionaler Wirtschaftskreisläufe und Wissen.

Podcast: Was Bio dir und dem Planeten wirklich bringt

Johanna Juni und Oskar Smollny

Warum sind Bio-Produkte teurer als konventionell erzeugte? Und sind wir als Individuen verantwortlich für Umweltschutz und Gesundheit oder sollte der Staat mehr Verantwortung übernehmen? Darum geht es im Schrot&Korn-Podcast „Weltretter Bio? Was Bio dir und dem Planeten wirklich bringt“. Johanna Juni und Oskar Smollny sprechen mit der Umweltökonomin Dr. Amelie Michalke und Michael Kruse vom Bio-Markt Seenplatte.

Fürs Gemeinwohl: Auf Pestizide verzichten, Nützlinge fördern

Der Bio-Hof Ritzleben in Sachsen-Anhalt ist einer der Betriebe, die die Regionalwert-Leistungsrechnung getestet haben. Geführt vom Vater-Tochter-Duo, Carsten Niemann und Laura Kulow, wurde der Bio-Hof im vergangenen Jahr mit dem Bundespreis „Ökologischer Landbau 2023“ ausgezeichnet. Die Bauernfamilie betreibt auf 500 Hektar Ackerbau, hat Wiesen, Weiden und hält Mastschweine. Sie setzt auf Fruchtfolge und schützt ihre Felder durch Winterbegrünung vor Erosion. Zudem verzichtet sie auf einem Großteil der Fläche komplett auf Pflanzenschutzmittel. Chemisch-synthetische Pestizide sind ohnehin tabu.

Niemann und Kulow fördern außerdem Nützlinge wie Schwebfliegen und Marienkäfer und achten auf Pflanzenvielfalt, damit Bestäuber auf ihren Äckern genug Nahrung finden. Durch die Verarbeitung regionaler, nicht vermarktungsfähiger Speisekartoffeln zu Bio-Stärke oder Flockenkartoffeln stärken sie zudem regionale Wirtschaftskreisläufe.

So viel sind einzelne Gemeinwohlleistungen wert

Dank der Regionalwert-Leistungsrechnung können Kulow und Niemann nun einen konkreten Wert hinter diese Bemühungen schreiben: 267 818 Euro pro Jahr. Für die Berechnung hat Laura Kulow rund 300 Kennzahlen zu Bereichen wie Fruchtfolge, Nährstoffbilanz, Tierwohl, Wasserschutz und Regionalität in den Online-Leistungsrechner eingegeben. Herausgekommen ist nicht nur der finanzielle Wert der Gemeinwohlleistungen, sondern auch der Nachhaltigkeitsgrad. Mit 81 Prozent liegt der Bio-Hof Ritzleben im dunkelgrünen Bereich. Das ist ein sehr gutes Ergebnis, der Durchschnitt der mittlerweile mehreren Hundert Betriebsauswertungen liegt bei 71 Prozent. „Das macht einen stolz und bestärkt einen auch, weiterzumachen und besser zu werden“, freut sich die Landwirtin. Ideen, wie das gelingen kann, hat Kulow auch schon. Im Bereich „Schaffung von Lebensräumen“ sei noch Luft nach oben, sagt sie. Deshalb will sie Agroforst anlegen, denn das Pflanzen von Bäumen und Sträuchern auf den Feldern schafft Rückzugsorte für Tiere und Insekten, erhöht die Wasserhaltefähigkeit und schützt vor Wind und Erosion.

True Welfare statt True Cost-Accounting

Das Neue an der Regionalwert-Leistungsrechnung: Statt die durch die Landwirtschaft entstandenen Schäden zu berechnen, setzt sie bei der Vermeidung von Schäden (True Welfare) an. Es wird also der Wert der positiven Leistungen, die der Gesellschaft durch die Landwirtschaft entstehen, berechnet. Dadurch ist die Regionalwert-Leistungsrechnung das Gegenmodell zum True Cost Accounting (Schadensbehebung), bei dem die sogenannten versteckten Kosten der Lebensmittelproduktion im Nachhinein berechnet und an anderer Stelle bezahlt werden – beispielsweise über Steuergelder, Krankenkassenbeiträge oder die Wasserrechnung. Häufig wälzen wir sie jedoch auch auf zukünftige Generationen oder auf andere Länder ab, wie beim Klimawandel oder dem Artensterben.

True Cost versus True Welfare

Viele landwirtschaftliche Praktiken haben schädliche Auswirkungen auf Umwelt, Tierwohl und Gesundheit. Beim True Cost Accounting geht es darum, die Kosten für die Behebung dieser Schäden zu berechnen. Stichwort „wahre Preise“. Die Kosten begleichen wir bisher nicht an der Supermarktkasse, denn sie sind nicht in die Lebensmittel eingepreist. Wir zahlen jedoch auf versteckte Weise dafür, zum Beispiel durch Gebühren für die Wasseraufbereitung oder Gesundheitsversorgung.

Anders als True Cost, setzt True Welfare auf die Schadensvermeidung. True Welfare betont vorbeugende Maßnahmen. Ermittelt wird der Wert der positiven Leistungen, die der Gesellschaft durch die Landwirtschaft entstehen. Diese Leistungen möchte auch die Regionalwert-Leistungsrechnung widerspiegeln.

Am Ende des Tages sei die Schadensvermeidung nachhaltiger und günstiger als die Schadensbehebung, sagt Philip Luthardt, Leiter Nachhaltigkeit bei der Bohlsener Mühle. Der Bio-Hersteller ließ gemeinsam mit dem Bio-Großhändler Bodan seine Bäuerinnen und Bauern, darunter den Bio-Hof Ritzleben, die Leistungsrechnung durchführen. Und hat auch schon erste Schlüsse aus den Ergebnissen abgeleitet: „Wir schauen jetzt, dass wir Weiterbildungen und Förderungen, die wir anbieten, eher auf die Bereiche lenken, in denen die Landwirte im Generellen noch Luft nach oben haben“, sagt Luthardt. Neben der Bohlsener Mühle und Bodan haben mit Barnhouse, EVG Landwege, Huober und Neumarkter Lammsbräu noch weitere Bio-Firmen das Konzept getestet. Auch 41 Demeter-Betriebe führten die Leistungsrechnung durch. Und ermittelten, dass sie allein im Jahr 2021 gemeinsam Nachhaltigkeitsleistungen im Wert von 4,9 Millionen Euro erbracht haben.

Die gewonnen Daten könnten in Zukunft die Grundlage für eine gerechtere, nachhaltigere Landwirtschaftspolitik sein. Deshalb wird das Projekt der Regionalwert-Leistungsrechnung wissenschaftlich begleitet, zum Beispiel vom gemeinnützigen Think Tank „Regionalwert Research“. Denn eine Frage, die sich nach der Berechnung natürlich stellt, liegt auf der Hand: Wie könnten die Betriebe für ihre Leistungen honoriert werden? Damit es nicht nur bei Zahlen auf dem Papier bleibt.

Umwelt

Die wahren Preise von Lebensmitteln

Die aktuelle Krise und die Inflation offenbaren die wahren Kosten von konventionellen Lebensmitteln. Warum Bio-Produkte im Preis stabiler bleiben – und sich aktuell gleich doppelt lohnen.

Warum die EU-Agrarförderungen anders verteilt werden müssen

Laura Kulow ist hoffnungsvoll: „Es wäre natürlich toll, wenn diese Leistungen gesehen und einen monetären Wert bekommen würden. Zumal einige Dinge, die wir tun, einen Mehraufwand bedeuten, dessen Kosten wir auf die Produkte umwälzen müssten.“ Es gibt auch schon Vorschläge: Einige Verbände, darunter die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL), setzen sich zum Beispiel für eine entsprechende Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) ein. Sie fordern, dass die EU-Agrarförderungen künftig an Gemeinwohlleistungen gebunden werden. Henrik Maaß, Referent für europäische Agrarpolitik in der AbL, erläutert: „In der GAP wird viel Geld von europäischen Bürgern eingesetzt und darum muss dieses Geld auch im Sinne der Gesellschaft ausgegeben werden.“

Dass Nachhaltigkeit durchaus im Sinne der Gesellschaft ist, zeigen Umfragen immer wieder. Doch Landwirt:innen spüren täglich die Diskrepanz zwischen dem, was die Gesellschaft sich wünscht, und dem, was für Bäuerinnen und Bauern wirtschaftlich ist. Laura Kulow sagt: „Ich bin überzeugte Öko-Landwirtin und Naturschützerin, und trotzdem befinden wir uns die ganze Zeit in einem Spagat. Denn auf der einen Seite muss ich schauen, dass ich kostendeckend wirtschafte und meine Mitarbeitenden, meine vier Kinder und ich vom Hof leben können. Und auf der anderen Seite möchten wir uns maximal ökologisch wertvoll verhalten.“ Für die Landwirtin ist klar, dass das eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe ist: „Wir Landwirte können das nicht allein schaffen, dafür müssen wir alle an einem Strang ziehen.“

Interview: „Gemeinwohlleistungen müssen bezahlt werden“

Henrik Maaß ist Referent für europäische Agrarpolitik in der Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL).

Die AbL fordert eine Reform der EU-Agrarpolitik (GAP). Alle Förderungen sollen an Gemeinwohlleistungen gebunden werden. Warum?
Herausforderungen wie Klimakrise, Höfe- und Artensterben machen deutlich, dass unser Ernährungssystem stabiler werden muss. Dafür braucht es dezentrale Strukturen mit vielen vielfältigen Betrieben, jeder Hof zählt dabei. Alle sozialen und ökologischen Gemeinwohlleistungen, die nicht im Produktpreis abgebildet werden können, müssen einkommenswirksam entlohnt werden, als Anreiz für den Wandel.

Gibt es schon Erfahrungen mit dem Ansatz „Förderung für Gemeinwohlleistung“?
Die Einführung der freiwilligen Öko-Regelungen bei der letzten GAP-Reform war ein wichtiger Schritt. Allerdings wird diese Möglichkeit hierzulande kaum genutzt, da den Betrieben keine ausreichende Entlohnung angeboten wird. Zudem braucht es strukturelle Anpassungen, beispielsweise sollten kleinere Betriebe höhere Prämien bekommen.

Welche Rolle könnte die Regionalwert-Leistungsrechnung spielen?
Sie ist ein guter Ansatz zur Beurteilung der Nachhaltigkeit der Betriebe, weil sie Ökologie, Soziales und Ökonomie verknüpft – und weil sie versucht, die Wirklichkeit gut abzubilden.

Was braucht es noch?
Der bürokratische Aufwand muss im Rahmen bleiben. Der ökologische Wandel ist nur möglich, wenn alle mitgenommen werden – die Menschen aus der Landwirtschaft, der Verarbeitung, dem Handel und die Verbraucher:innen. Damit Landwirt:innen faire Preise erhalten und Verbraucher:innen diese zahlen können, müssen auch Marktordnung und Sozialpolitik angepasst werden. Erst dann können die Fördergelder in vollem Umfang auf den Umbau des Ernährungssystems ausgerichtet werden.

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