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Pestizide: das Gift von nebenan

Bio-Bauern spritzen keine synthetischen Pestizide. Trotzdem haben sie immer wieder Ärger damit. Denn die giftigen Wirkstoffe halten sich nicht an Grundstücksgrenzen.

Die kleinen Blätter der Vogelmiere schimmerten weißlich-welk. Als Philipp Steul die kränkliche Pflanze auf dem Acker sah, wusste er, dass etwas schiefgegangen war. Eine halbe Stunde später hatte er Hunderte Pflanzen mit ähnlichen Symptomen entdeckt – überall auf dem großen Gemüsefeld von Hof Mahlitzsch. „Uns war schnell klar, dass das ein Pestizid-Schaden war – und zwar ein richtig großer.“ Inzwischen klingt Philipp Steul ruhig, wenn er von den Ereignissen im vergangenen September erzählt. „Doch für uns war das damals katastrophal. Wir wussten oft nicht mehr, ob und wie es weitergehen kann.“

Hof Mahlitzsch ist ein großer Demeter-Betrieb nahe Dresden. Drei Familien wirtschaften dort seit über 20 Jahren als Betriebsgemeinschaft. Sie bauen Getreide und Gemüse an, halten Milchkühe, betreiben eine Bäckerei und versorgen Verbraucher und Bio-Läden in und um Dresden mit ihren Produkten. Neben Hof Mahlitzsch haben konventionelle Landwirte ihre Flächen. Einer von ihnen hatte Winterraps ausgesät und wollte noch schnell das Unkraut auf dem Feld wegspritzen – mit Clomazon, einem Breitbandherbizid. Dabei missachtete dessen Mitarbeiter die vorgeschriebenen Mindestabstände und Ausbringungsregeln. Als Folge waberte eine Pestizidwolke über das Bio-Gemüsefeld. „Wir haben sofort die Ernte eingestellt und alle informiert: unsere Kontrollstelle, den Demeter-Verband und unsere Kunden“, erzählt Philipp Steul.

Wenn Pestizid-Abdrift die Bio-Ernte zerstört

Die ersten Proben zeigten, dass die Erzeugnisse auf dem Feld gar nicht oder nur minimal belastet waren. Im Boden fanden sich keine Pestizidrückstände. Doch die amtlichen Analyseergebnisse und damit die endgültige Entscheidung der Öko-Kontrollbehörde ließen wochenlang auf sich warten. In dieser Zeit mussten die Kunden mit Ersatz versorgt werden. Befreundete Betriebe und der regionale Großhändler halfen den Mahlitzschern mit frischem Gemüse aus.

„Wir haben sehr viel Beistand und Hilfe bekommen“, berichtet Steul. Eine Spendenaktion brachte 16 000 Euro ein. Vier Wochen nach dem Vorfall kam endlich die amtliche Entscheidung: Die Kulturen innerhalb eines 50-Meter-Streifens zum konventionellen Nachbarfeld hin durften nicht als Bio-Erzeugnisse vermarktet werden. Der Boden selbst blieb Bio. Die Mahlitzscher rodeten auf den betroffenen zwei Hektar das noch vorhandene Gemüse und kompostierten es oder mulchten es in den Boden ein. Den Schaden bezifferte eine Gutachterin auf 70 000 Euro. Mitte Februar 2015 stand die endgültige Regelung mit der Versicherung noch aus. Doch Philipp Steul ist optimistisch. Der konventionell arbeitende Nachbar hatte von Anfang an zugegeben, dass er für die Abdrift verantwortlich war.

Kann Pestizid-Abdrift vermieden werden?

Spektakuläre Fälle wie der von Hof Mahlitzsch sind zum Glück selten. Doch immer wieder weht der Wind Pestizidwolken von konventionellen Äckern in die Umgebung. Betroffen davon sind nicht nur Bio-Betriebe, sondern auch Anwohner. Krampfhusten, Kopfschmerzen und Erbrechen können mögliche Folgen sein. Manche Betroffene melden solche Fälle an das Pestizid-Aktionsnetzwerk PAN. „Wir wissen aus vielen Gesprächen, dass die Menschen sich mit dem Problem von den Behörden alleingelassen fühlen“, sagt Susan Haffmans von PAN. Offizielle Zahlen über solche Vorkommnisse gebe es keine.

Abdrift sei „unerwünscht, aber nicht gänzlich vermeidbar“, schreiben die Pestizidexperten des bundeseigenen Julius-Kühn-Instituts. Je kleiner die Tröpfchen aus der Pestizidspritze, desto leichter trägt sie der Wind davon. Bei Windgeschwindigkeiten über fünf Meter pro Sekunde soll deshalb nicht gespritzt werden, heißt es in den Grundsätzen für „die gute fachliche Praxis im Pflanzenschutz“. Auch bei Temperaturen über 25 Grad muss die Spritze im Schuppen bleiben. Zu hoch ist dann das Risiko, dass ein Wirkstoff verdampft und als Gaswolke über weite Strecken getragen wird. In der Praxis werden diese Empfehlungen nicht immer eingehalten. Selbst gegen die gesetzlich vorgeschriebenen Mindestabstände gegenüber Gewässern verstoßen etwa zehn Prozent der Betriebe, heißt es im Pflanzenschutz-Kontrollbericht der Bundesländer.

Totgespritzt!

Jedes Jahr bringen die deutschen Landwirte zwischen 30 000 und 33 000 Tonnen Pestizidwirkstoffe aus. Die Gifte werden immer effektiver – und immer mehr Tier- und Pflanzenarten stehen auf der Roten Liste. „Die Landwirtschaft zählt heute zu den treibenden Kräften für den Verlust an biologischer Vielfalt“, warnt das Umweltbundesamt. Daran hat auch der „Nationale Aktionsplan zur nachhaltigen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln“ nichts geändert. Seit 2008 listet die Bundesregierung darin Maßnahmen auf, die den Pestizideinsatz verringern sollen. Bisher blieben sie ohne Erfolg. Umweltschützer werten den Plan als „Papiertiger“.

Warum Pestizide ein Problem sind

Nicht jede Abdrift wird gleich bemerkt. Nur Herbizide verursachen sichtbare Veränderungen an den Blättern. Mittel gegen Schädlinge oder Pilzkrankheiten werden oft erst nach der Ernte entdeckt – im Labor. Die Messgeräte können inzwischen ein Stück Würfelzucker im Schwimmbad nachweisen und finden auch in Öko-Erzeugnissen immer wieder Spuren von Pestiziden. Gesundheitsschädlich sind die winzigen Mengen nicht, aber sie bringen den Bauern in Erklärungsnöte. Er muss seiner Kontrollstelle und den Kunden glaubhaft machen, dass er nicht heimlich zur Giftspritze gegriffen hat. Aus dem Opfer nachbarlicher Schlamperei kann schnell ein Verdächtiger werden.

Um mit diesem Problem vernünftig umzugehen, hat der Bundesverband Naturkost Naturwaren BNN schon 2001 einen Orientierungswert entwickelt: 0,01 Milligramm Pestizid je Kilogramm Lebensmittel. Liegen die Spuren darunter, gelten sie als ungewollte Verunreinigung in einer mit Pestiziden belasteten Umgebung. Bei den wenigen klaren Überschreitungen suchen die Betroffenen zusammen mit ihrer Kontrollstelle und dem BNN nach der Ursache der Belastung. Meist handelte es sich um unabsichtliche Kontaminationen. Dabei zeigte sich, dass Pestizide nicht nur bei der Abdrift Probleme machen, sondern auch später. Deshalb müssen Maschinen, Anlagen oder Silos ordentlichst gereinigt werden, bevor sie mit biologischen Erzeugnissen in Kontakt kommen.

Ein Grenzwert für Pestizide?

Längst haben sich die 0,01 mg/kg in der Bio-Branche zu einem Maßstab entwickelt, den Händler und Verarbeiter auch an unabsichtliche Verunreinigungen etwa durch Abdrift anlegen. Liegt die Belastung deutlich über 0,01 mg/kg, ist die Bio-Ware unverkäuflich. Besonders drastisch haben das vor einigen Jahren brasilianische Kleinbauern erfahren. In deren Bio-Soja fanden sich 0,045 mg/kg des Pestizids Endosulfan. Nach intensiven Recherchen bestätigten drei in Brasilien tätige internationale Kontrollstellen, dass die Belastung aus Abdrift und Regen stammte. Trotzdem wollte kaum einer der Kunden diese Bohnen. Der Großteil musste unter enormen Verlusten konventionell verkauft werden. Das war möglich, weil die Belastung immer noch weit unter den amtlichen Grenzwerten lag.

Entschädigung gibt es in solchen Fällen nur, wenn sich der Verursacher gerichtsfest nachweisen lässt – also sehr selten. Wird die Belastung erst im nachhinein entdeckt, bleibt der Bauer immer auf dem Schaden sitzen. Auch Hersteller kann es treffen. Das Unternehmen Govinda zog vor einem Jahr ein Traubenkernöl zurück, nachdem ein Verbrauchermagazin darin 1,6 mg/kg Pestizide gefunden hatte. „Wir hatten vor Beginn der Produktion die Rohwaren geprüft. Hier gab es keinerlei Auffälligkeiten, auch nicht hinsichtlich der Pestizide“, berichtet Daniela Mack von der Govinda-Qualitätssicherung. Da für die Herstellung eines Liters Traubenkernöl etwa 50 Kilogramm Traubenkerne benötigt werden, konzentrieren sich schon geringste Spuren. Diese lassen sich bei den kleinteiligen deutschen Weinbergen kaum verhindern.

Um Abdrifte und Belastungen auszuschließen, kontrollieren Bio-Bauern, Verarbeiter und Händler ständig ihre Erzeugnisse. Die Kosten für die unzähligen Analysen tragen sie selbst, nicht die Pestizidhersteller und -verwender. Mit Abstandsflächen, Blühstreifen oder Hecken versuchen die Bauern, konventionelle Spritzmittel vom Feld fernzuhalten. All dieser Aufwand könnte noch größer werden. Die EU-Kommission will die 0,01 mg/kg als offiziellen Bio-Grenzwert für Pestizide festschreiben: Aus einem flexiblen internen Maßstab der Bio-Branche würde eine unverrückbare Grenze – mit gravierenden Folgen: Wer Ware in Verkehr bringt, die einen amtlichen Grenzwert nicht einhält, haftet für alle daraus entstehenden Schäden, etwa Rückrufkosten oder Produktionsausfälle.

Vom Winde verweht...

Ab Windgeschwindigkeiten von fünf Metern pro Sekunde ist mit Abdrift zu rechnen. Pestizid-Spritzungen sind bei solchen Windverhältnissen zu vermeiden, so steht es im Pflanzenschutzgesetz.

Wer dieses Risiko minimieren will, muss messen, messen, messen. „Da dies mit enorm hohen Kosten verbunden wäre, ist davon auszugehen, dass sich eine Vielzahl insbesondere kleinerer Unternehmen von der Bio-Produktion abwenden würde“, schrieb die Bundesregierung der EU-Kommission. Ein solcher Grenzwert stelle das Verursacherprinzip komplett auf den Kopf, argumentiert der Naturland- Präsidiumsvorsitzende Hans Hohenester: „Ausgerechnet die Öko-Bauern, die grundsätzlich keine Pestizide und keine Gentechnik verwenden, sollen für das verantwortlich gemacht werden, was von den Feldern ihrer konventionellen Kollegen herüber geweht wird.“

Ob sich die EU-Kommission mit ihren Grenzwert-Plänen durchsetzt, wird sich im Laufe des Jahres zeigen. Wesentlich länger wird es dauern, den Pestizideinsatz der konventionellen Landwirtschaft runterzufahren. Solange kann Philipp Steul vom Hof Mahlitzsch nicht warten. Dort haben sie ihr Gemüsefeld verlegt, sodass es keine konventionell arbeitenden Nachbarn mehr hat. Der Trägerverein des Hofes überlegt derzeit, was mit den Spenden passieren soll. Philipp Steul würde damit gerne weitere Schutzmaßnahmen vor Abdrift finanzieren und über diese Pestizidgefahr informieren. „Uns ist durch den Vorfall deutlich geworden, wie gefährlich unsere Nachbarn für uns sind.“

Pestizid-Einsatz in Deutschland

  • 99 287 Tonnen Pestizid-Zubereitungen wurden 2013 in Deutschland verkauft. Sie enthielten 32 551 Tonnen Pestizid-Wirkstoffe sowie 66 736 Tonnen zusätzliche Chemikalien. Diese unterstützen die Wirkung der Pestizide und machen sie leichter anwendbar. Einige von ihnen – etwa das Netzmittel Tallowamin – sind mindestens ebenso problematisch wie die eigentlichen Wirkstoffe.
  • Pro Jahr werden auf einem Hektar landwirtschaftlicher Nutzfläche im Mittel neun Kilogramm Pestizide mit 2,5 Kilogramm Wirkstoffen ausgebracht.
  • Zugelassen waren Ende 2013 in Deutschland 748 Pestizide mit 269 Wirkstoffen. Der mengenmäßig Bedeutendste war das Herbizid Glyphosat.
  • Konventionelles Obst enthält im Mittel 0,3 Milligramm Pestizidrückstände je Kilogramm. Bei konventionellem Gemüse sind es 0,4 Milligramm. Bio-Erzeugnisse sind um den Faktor 100 weniger belastet. Das berichtet das Öko-Monitoring Baden-Württemberg.
  • Die deutschen Pestizidhersteller haben 2013 im Inland 1,5 Milliarden Euro umgesetzt. Davon entfielen 58 Millionen Euro auf Mittel für Haus und Garten.
  • Die deutschen Konzerne Bayer und BASF sind hinter dem Schweizer Unternehmen Syngenta die größten Pestizidhersteller der Welt.

Interview

Vier Fragen an Susan Haffman, Projektkoordinatorin beim deutschen Ableger des weltweit tätigen Pestizid-Aktions-Netzwerkes PAN.

Bio- und Umweltverbände fordern eine Pestizidabgabe in Deutschland. Bringt es das?

Die Umwelt-, Kontroll- und Gesundheitskosten, die durch Pestizide verursacht werden, sind weder im Preis der Pestizid-Produkte noch im Preis der Lebensmittel enthalten. Die Kosten tragen wir alle und die Pestizidhersteller streichen die Gewinne ein. Mit einer Abgabe könnte man diese Kosten auf die Pestizid-Produkte aufschlagen.

Kämen dann weniger Pestizide zum Einsatz?

Landwirte handeln ökonomisch. Enthielten die Pestizide ihre tatsächlichen Kosten, wären sie deutlich teurer und würden vermutlich sparsamer eingesetzt. Dänemark hatte schon vor Jahren eine Pestizidabgabe eingeführt. Die erste Entwicklung war positiv, doch mit der Zeit stiegen die Pestizidmengen wieder. Seit 2013 ist eine Neuregelung in Kraft, die besonders gefährliche Pestizide deutlich verteuert. Die dänischen Landwirte kauften 2013 29 Prozent weniger Pestizide als im Jahr zuvor. Es muss sich aber noch zeigen, ob der Trend anhält.

Die Dänen wollen den Pestizideinsatz um 40 Prozent senken. Gibt es solche Ideen auch bei uns?

Mengenreduktionsziele fehlen im deutschen Aktionsplan zur nachhaltigen Anwendung von Pflanzenschutzmitteln. Die Umweltverbände sind 2011 geschlossen aus den Beratungen zu diesem Plan ausgestiegen. Es war offensichtlich, dass an wichtigen Stellschrauben nicht gedreht werden sollte.

Welche Schrauben wären das gewesen?

Wenn der Pestizideinsatz dauerhaft sinken soll, muss sich das ganze Agrarsystem ändern. Deshalb steht im Aktionsplan das Ziel 20 Prozent Öko-Landbaufläche. Es gibt aber weder eine Zeitvorgabe, bis wann das Ziel erreicht werden soll, noch sind die Maßnahmen geeignet, das Ziel mittelfristig zu erreichen. Gleiches gilt für andere Strategien, mit denen sich der Pestizideinsatz vorbeugend verringern lässt. Hier muss dringend mehr passieren.

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