Vierzig Jahre haben Alfred Bergmiller und seine Frau in einer riesigen Altbauwohnung mitten in München gelebt. Zuerst mit anderen als WG, später als Familie mit den beiden Kindern, seit vielen Jahren nur noch zu zweit. Die 150 Quadratmeter waren voller Erinnerungen, hier standen alte Möbel und volle Bücherregale, an den Wänden hingen Bilder. „Trotzdem haben wir uns entschlossen, in eine kleinere Wohnung zu ziehen“, sagt der 72-jährige Bergmiller. Statt auf 150 lebt das Ehepaar nun auf 72 Quadratmetern. Gründe dafür gab es genug, sagt der frühere Hauptschullehrer: „Irgendwann hätten wir die Miete nicht mehr bezahlen können, außerdem wird es im Alter immer anstrengender, eine so große Wohnung in Schuss zu halten.“ Und wohnungspolitisch gesehen sei es einfach Unsinn, zu zweit auf so großem Wohnraum zu leben.
Darum nimmt die Wohnfläche pro Person zu
In der Generation der Bergmillers geht es mittlerweile vielen so: Wegen des Nachwuchses hatte man sich vor langer Zeit vergrößert oder gleich ganz neu gebaut. Sind die Kinder irgendwann aus dem Haus, ziehen die wenigsten aber in kleinere Wohnungen. Und so wohnen beispielsweise in gerade mal 22 Prozent der rund 16 Millionen Einfamilienhäuser in Deutschland auch wirklich Familien mit Kindern.
Dem Umweltbundesamt zufolge lebt jeder Bundesbürger im Durchschnitt auf 47 Quadratmeter Wohnfläche. Diese Zahl wächst seit Jahren kontinuierlich. 1991 waren es noch 35 Quadratmeter pro Einwohner. Die Zunahme liegt auch daran, dass mehr und mehr Menschen alleine leben. Etwa nach einer Scheidung oder dem Tod des Partners.
„Groß Wohnen“ hat negative Folgen
Unser Hunger nach Platz hat jedoch gravierende Folgen: Einerseits wird dadurch Wohnraum knapp und teuer. Andererseits leidet die Umwelt darunter. Wohnungen müssen beheizt, beleuchtet und möbliert werden. All das kostet viel Energie, verbraucht Ressourcen und produziert Schadstoffe. Auch die Fläche, auf der neuer Wohnraum und die dazugehörige Infrastruktur entstehen, müssen in die Öko-Bilanz einbezogen werden. Denn jeder bebaute Quadratmeter Boden hat Auswirkungen auf die Umwelt. Auf ihm und unter ihm kann nichts mehr wachsen, nichts gedeihen. Regenwasser kann nicht absickern, der Boden unter der Betondecke ist praktisch verloren. Versiegelte Flächen wieder zu revitalisieren, kostet sehr viel Geld und ist mühsam.
Infos zum Klicken
Wie viele Quadratmeter Siedlungs- und Verkehrsfläche fallen in eurer Gemeinde oder Stadt pro Kopf an? Die Antwort findet ihr im interaktiven Flächenatlas des Statistischen Bundesamtes.
Warum Neubausiedlungen in der Kritik stehen
Laut dem Statistischen Bundesamt verbraucht jeder von uns eine Siedlungs- und Verkehrsfläche von durchschnittlich 620 Quadratmetern, etwa für Straßen, Bushaltestellen oder Spielflächen. Seit den 1990er-Jahren wurden allein über 250 000 Kilometer neue Straßen gebaut. Seither stieg laut Bundesumweltamt die Menge gefahrener Kilometer pro Person um etwa ein Drittel an. Kein Wunder, denn wer außerhalb der Stadt wohnt, kommt oft nur noch mit dem Auto zur Arbeit, zum Einkaufen oder zur Schule. Doch diese Fahrten belasten Umwelt und Klima zusätzlich – ganz gleich, ob sich die Garage vor einem neuen Standard- oder Passivhaus befindet. Der mit seiner Streitschrift „Verbietet das Bauen!“ bekannt gewordene Architekt Daniel Fuhrhop lässt deshalb selbst an umweltfreundlichen Neubauten kein grünes Haar. Wer in ein Öko-Haus ziehe, verbrauche eben auch viel Platz, Zement und Energie. Fuhrhop fordert deshalb eine Bauscham. „Keiner sollte mehr stolz darauf sein, gebaut zu haben“, schreibt er.
Keiner sollte mehr stolz darauf sein, gebaut zu haben.
Neubau oder Umbau?
Die Bundesregierung jedoch setzt immer noch ganz andere Anreize. So hat sie im Juni 2021 im Rahmen ihrer „Wohnraumoffensive“ eine Gesetzesnovelle auf den Weg gebracht, um den Wohnungsbau zu beschleunigen. Dabei wird es Kommunen baurechtlich erleichtert, Flächen zur Verfügung zu stellen. Ein heikles Thema. „Das ist aus einer ökologischen Perspektive und für eine nachhaltige Raumentwicklung fatal“, kritisiert Robert Knippschild, Professor am Leibnitz-Institut für ökologische Raumentwicklung, die sogenannte Baulandmobilisierung der Regierung.
Knippschilds Forschungsschwerpunkt liegt auf Klein- und Mittelstädten. Zieht es Menschen ins Grüne, spürt man die Landflucht dort oft zuerst. Indem nun bürokratische Hürden für Bauland abgebaut werden, würde auch zwangsläufig mehr gebaut. „Dadurch wird mehr Fläche versiegelt statt revitalisiert – das ist ganz klar ein Fehler!“ Dabei werde doch das Bauen von Eigenheimen bereits jetzt schon intensiv gefördert, etwa durch das Baukindergeld, die Pendlerpauschale oder andere Steuervorteile. Perspektivisch wird Wohnen durch solche gesetzgeberischen Maßnahmen aber weder ökologischer noch sozialer.
Das Mantra vom unausweichlichen Neubau muss durchbrochen werden, fordern immer mehr Planer und Architekten. Auch Daniel Fuhrhop rät, lieber alte Gebäude umzubauen als immer alles neu entstehen und versiegeln zu lassen. Alte Fabriken, Kaufhäuser oder Büros – viele bereits bestehende Gebäude könnten für Wohnungen umgenutzt werden. Und das mit deutlich weniger Materialverbrauch und damit klimafreundlicher als es beim Neubau nötig wäre.
Das steckt hinter der Idee „Stadt der 15 Minuten“
Klimafreundlich wohnen bedeutet also kleiner wohnen. Und das betrifft nicht nur unsere Wohnfläche, sondern auch den Radius, in dem wir uns bewegen. Ein visionäres Leitbild ist deshalb die Stadt der 15 Minuten. So nennen Raumplaner die Zukunftsidee von einem Wohnort, von dem aus im Umkreis von 15 Minuten Gehminuten alles Wichtige zu erreichen ist. Also kleine Geschäfte in der Nachbarschaft statt weit entferntes Einkaufszentrum am Stadtrand.
Im Prinzip ein alter Hut, sahen doch Städte vor der massiven Präsenz des Autos in etwa so aus. Alles, was man im Alltag benötigte, konnte schnell zu Fuß oder mit dem Rad besorgt werden. Wer im ländlichen Raum oder in einer Kleinstadt lebt, kann von solchen Infrastrukturen aber aktuell oft nur noch träumen. Denn die wurden in den vergangenen Jahrzehnten nach und nach ausgedünnt, weiß Knippschild.
Ob nun ÖPNV, Krippenplätze, Einkaufsmöglichkeiten oder Arztpraxen – vor allem im Osten der Republik sei das Netz in manchen Regionen so weitmaschig geworden, dass dort niemand mehr hinziehen möchte. „Diese Politik zu reparieren, ist wahnsinnig schwer. Denn Strukturen, die einmal weg sind, kann man nicht ohne Weiteres wieder aufbauen“, sagt der Forscher.
Umweltfreundlicher wohnen – so geht's
Doch das Bedürfnis nach nachhaltigem und sozialerem Wohnen ist bei vielen Menschen aber groß. Deshalb wachsen gerade an vielen Ecken Strukturen, die kleineres und Gemeinschaftswohnen ermöglichen. Alfred Bergmiller und seine Frau haben mit befreundeten Senioren die Gruppe „Anders leben im Alter“ (Alia) gegründet und sind 2019 in einen genossenschaftlichen Neubau gezogen – mit mehreren Wohnungen und großem Gemeinschaftsraum. Mitglieder von solchen Wohnungsgenossenschaften können ihre Wohnungen gegen eine andere tauschen und sich so vergrößern oder verkleinern – je nach der jeweiligen Lebensphase.
Projekte wie das der Bergmillers gibt es auch in anderen Städten, etwa das Mehrgenerationen-Wohnprojekt Allmende in Gundelfingen. In den kommenden Jahren soll dort ein ökologisches und soziales Wohnprojekt entstehen, in dem rund 70 Menschen günstig zur Miete leben. Mit vielen Gemeinschaftsflächen – dadurch verbraucht jeder Bewohner im Schnitt gerade mal 30 Quadratmeter. Was in Gundelfingen noch Zukunftsmusik ist, wird in Dresden schon gelebt. In einer alten Kantine der Deutschen Bahn ist 2017 die „Betriebsküche“ eingezogen, in der nun 18 Menschen wohnen und in der regelmäßig Veranstaltungen stattfinden.
Wer auf eine solche Struktur nicht zurückgreifen kann, wird auf der Plattform tauschwohnung.com fündig. Ähnlich wie bei einer Dating-App suchen dort Mieter neue Wohnungen – und bieten dafür ihre eigene an. Anders als bei der üblichen, sehr anonymen Wohnungssuche kommen hier die Menschen wieder miteinander ins Gespräch.
Wohnprojekte in Deutschland
Wie grĂĽnde ich ein Wohnprojekt? Welche gibt es schon? Antworten gibt es hier:
- Kollektives Wohnen zum Erleben. Das Forum gemeinschaftliches Wohnen hat in Berlin ein Musterhaus.
- Das Mietshäuser Syndikat berät und initiiert Wohnprojekte, z.B. das „Allmende“ und die „Betriebsküche“.
- Der Verband zur Förderung wohnungspolitischer Initiativen bricht mit der herkömmlichen Wohnungspolitik und knüpft an Ideen der Selbsthilfebewegungen der 1970er-Jahre wie der Münchner Frauen Wohn- und Baugenossenschaft an.
- Plattform der Stiftung trias, die gemeinschaftliches Wohnen fördert. Aufgelistet sind über 1000 Wohnprojekte.
Die Idee der Gemeinschaft kann noch weitergesponnen werden. Es gibt viele Wohnprojekte, in denen die Bewohnerinnen und Bewohner auch Alltagsräume wie Küche oder Waschraum miteinander teilen. Denn warum sollte jeder Haushalt eine eigene Waschmaschine und Küche – mitsamt Platz für die Geräte – besitzen? Schon jetzt leben rund 4,8 Millionen Bundesbürger in einer Wohngemeinschaft, hat eine Analyse des Wohnungsmarkts ergeben. Davon ist ein großer Teil zwischen 20 und 29 Jahre alt.
Alfred Bergmiller jedenfalls hat die Entscheidung, die Altbauwohnung für eine kleinere Wohnung aufzugeben, nicht bereut. „Wir sind sehr erleichtert!“, sagt er. Mittlerweile finden sogar die erwachsenen Kinder die Entscheidung ihrer Eltern gut. Schließlich müssen sie so nicht irgendwann eine riesige Wohnung entrümpeln oder unter Zeitdruck eine barrierefreie Bleibe für die Eltern finden. „Zumindest dieses Problem“, sagt Bergmiller zufrieden, „ist also gelöst!“
Interview: „Holz ist ein sehr guter Ersatz für Beton“
Bettina Leuthner von Architects for Future Deutschland ist aktiv in der Ortsgruppe MĂĽnchen.
Frau Leuthner, Architects for Future sagen, dass es kaum Neubau braucht. Wieso das?
Deutschland ist schon gebaut. Es gibt so viele leer stehende Flächen in Bestandsgebäuden, dass wir von heute auf morgen den Wohnungsmangel decken könnten. Allerdings gibt es diesen Leerstand meist im ländlichen Raum. Die Menschen ziehen lieber in die Metropolen, einfach weil sie dort eine bessere Infrastruktur vorfinden.
Wenn schon Neubau, wie kann dieser ökologisch gelingen?
Das geht mit nachhaltigen Baumaterialien, nachwachsenden Rohstoffen und wiederverwendbaren Materialien.
Holz ist also das Baumaterial der Zukunft?
Genau, denn Holz ist insbesondere bei tragenden Strukturen ein sehr guter Ersatz. Mittlerweile kann man ohne Weiteres Häuser mit bis zu fünf Geschossen aus Holz bauen.
Ist Holz stabil und sicher genug?
Das fragen sich die Leute oft zuerst, weil sie Holz immer noch mit brennbaren Materialien assoziieren. Aber der Brandschutz ist auf jeden Fall gegeben. In anderen Ländern gibt es sogar schon Hochhäuser oder Treppenhäuser im Holzbau. Hierzulande ist das viel strenger geregelt und deshalb nicht erlaubt. Hier müssten dringend Hürden abgebaut werden, denn die Technik ist schon viel weiter als der Gesetzgeber. Alles in Beton zu bauen, ist vor allem im Hochbau nicht mehr zeitgemäß.
Welches Holz eignet sich am besten?
Sehr viele Holzarten. Am meisten verwendet wird Fichte. Interessanterweise eignen sich Bäume, die vom Borkenkäfer befallen sind, noch gut für den Hausbau. Denn Bauholz wird sowieso bearbeitet, damit es stabil genug ist. Aktuell wird viel davon direkt verbrannt.
Lesetipps
Links
Kleiner wohnen kann man üben, zum Beispiel beim Probewohnen in einem Tiny House bei gotiny.de, naturhäuschen.de oder tiny-houses.de.
Eine interaktive Karte zeigt, wo in einer Stadt Stationen des Alltags (Nahversorgung, Freizeit, Bildung ...) zu FuĂź oder mit dem Rad in 15 Minuten erreichbar sind.
Architects4future setzen sich fĂĽr einen nachhaltigen Wandel der Baubranche ein.
Buchtipps
Daniel Fuhrhop: Verbietet das Bauen! Streitschrift gegen Spekulation, Abriss und Flächenfraß. Oekom-Verlag 2020, 222 S.,15 €
Akademie der Künste: urbainable/stadthaltig. Positionen zur europäischen Stadt für das 21. Jahrhundert. ArchiTangle-Verlag 2020, 224 S., 38 €
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