Leben

Richtig atmen kann man lernen

Richtiges Atmen lindert Beschwerden und kann Krankheiten heilen. Und das Beste ist: Man kann es lernen und trainieren. Ein Selbstversuch.

Zwanzigtausendmal am Tag atme ich ein. Und aus. Vielleicht sind es auch zweiundzwanzigtausendmal, ich habe nicht nachgezählt. So oft atmet jedenfalls der Durchschnittsmensch. Und trotzdem kommt es mir so vor, als würde ich nicht oft genug tief durchatmen. Es ist, als bliebe der Atem irgendwo auf dem Weg in meinen Körper stecken.

Warum ist das so? Ich habe keine Probleme mit der Lunge oder den Bronchien. Meine Nase ist seit einer heilsamen Nasen-Operation vor vielen Jahren frei wie der Gotthardtunnel in einer verkehrsarmen Nacht. Wieso also atme ich trotzdem so flach? Warum habe ich das Gefühl, als könnte ich nicht befreit aufatmen?

Das frage ich Andrea Mertes, eine Journalistin, die – fasziniert vom Thema Atmung – eine Ausbildung zur Atem-Coachin gemacht hat. An sie wenden sich beispielsweise Sänger oder Lehrerinnen, die, wenn sie vor ihr Publikum treten, kurzatmig werden. Auch vom Stress Geplagte suchen den Rat der Expertin. Mit ihr verabrede ich mich zu einer 90-minütigen Sitzung – übrigens via Videokonferenz, was problemlos möglich und so üblich ist.

Falsche Atmung verursacht Erkrankungen

Vor Beginn der allerersten Sitzung macht Andrea Mertes eine Anamnese, um sich ein Bild von der, wie sie es nennt, „Atem-Realität“ ihres jeweiligen Gegenübers zu machen. Sie erkundigt sich nach Erkrankungen und Auffälligkeiten. Obgleich sie keine Medizinerin ist, kennt sie die Symptome und Zusammenhänge zwischen Atemproblemen und Asthma, Husten oder Zahnproblemen, hohem Blutdruck, Diabetes, Depressionen oder Erschöpfung.

All diese Krankheiten oder Beschwerden können durch eine falsche Atmung verursacht oder verstärkt werden. Falsch atmen: Was bedeutet das eigentlich? Wie atmet man falsch? Der Atem fließt doch quasi von allein in uns alle hinein – oder?

Nein, sagt Andrea Mertes, 90 Prozent aller Menschen atmen falsch: zu häufig, zu schnell oder zu flach. Und weil auch ich offenbar zu dieser riesigen Gruppe gehöre, fragt Andrea weiter. Jetzt nach meinen Gewohnheiten – guten wie schlechten. „Atmest du durch den Mund?“ – „Nein.“ „Rauchst du?“ – „Nein.“ „Arbeitest du im Sitzen?“ – „Immer.“ „Wie viel Bewegung hast du?“ – „Zu wenig.“ „Hast du viel Stress?“ „Gefühlt, ja“, sage ich.

Mund zu!

Mundatmung ist schädlich für den ganzen Körper. Die Folgen: Erschöpfung, Schnarchen, Schlaf-Apnoe (Atemaussetzer). Abhilfe schafft „Mouth-Tape“: Ein medizinisches Klebeband, vor dem Schlafen x-förmig über den Mund geklebt, verhindert, dass sich der Mund im Schlaf öffnet und man unbemerkt anfängt, durch den Mund zu atmen.

In der ersten Übung soll ich eine Hand auf die Brust, die andere auf den Bauch legen und spüren: Wo hebt und senkt der Körper sich? Andrea spricht vom „goldenen Bereich des Atmens“, den ich ansteuern soll. Damit meint sie den Bereich von Lunge und Zwerchfell bis hin zur Wirbelsäule. Aber dorthin fließt bei mir nix. Eindeutig. Mein Brustkorb schaukelt – der Rest des Körpers wirkt unbeteiligt. Und da kommt Andrea dem Problem auf die Spur: Mein Zwerchfell scheint aus der Übung zu sein. Dieser flache Muskel, der wie ein Schirm aufgespannt zwischen Brust- und Bauchraum liegt, ist für den Körper von entscheidender Bedeutung: Er massiert durch seine Auf- und Abbewegung die inneren Organe, zieht dabei Luft in die Lungen, sorgt für eine gute Verdauung und unterstützt den Blutkreislauf. Aber nur, wenn er trainiert wird – etwa durch tiefes Atmen. „Das Zwerchfell ist ein freundlicher Begleiter“, sagt Andrea, „es tut, was man will.“ Wenn es aber jahrelang nicht gefordert wird, dann wird es immer fester.

Die gute Nachricht ist: Zwerchfell wie Atmung kann man trainieren. Dazu braucht man weder Medikamente noch teure Sportgeräte. Man kann es immer und überall tun. Sogar in der Videokonferenz. Mit den Händen soll ich nun meine Rippenbögen umfassen und bewusst gegen den Widerstand atmen. Ich staune, wie viel Atmen in mich hinein passt. Andrea rät mir, dies von nun an mit einem Gürtel oder einem Yogagurt um die Rippen zu üben. Denn genau das trainiert Zwerchfell und Atmung.

Für den Notfall

Bei Enge im Hals und Schwindel und Asthmaanfällen sollte die erste Regel lauten: langsam atmen und länger aus- als einzuatmen. Für Notfälle rät Atem-Coachin Andrea Mertes, sich fünf Sekunden die Nase zuzuhalten, mit den Händen vor dem Gesicht zu atmen oder verbrauchte Luft aus einer Tüte einzuatmen. Das erhöht den Kohlendioxid-Gehalt im Körper.

Viele Pioniere der verschiedenen Atemtechniken wurden zu ihrer Zeit nicht ernst genommen – obwohl der Erfolg ihnen recht gab. Nachzulesen sind einige dieser Geschichten in dem äußerst lesenswerten Buch „Atem“ von Journalist James Nestor (siehe Buchtipp). Andrea Mertes berichtet mir außerdem vom russischen Arzt Konstantin Pawlowitsch Buteyko. Er entdeckte in den 50er-Jahren, dass übermäßiges Atmen die Ursache mehrerer chronischer Krankheiten sein kann. Und dass eine Atemtechnik, bestehend aus eingeschränktem Einatmen und ausgedehntem Ausatmen, auch bei akuten Asthmaanfällen Linderung bringen kann.

Wie kann das sein? Andrea Mertes erklärt es mir: Der durchschnittliche Mensch nimmt pro Minute 12 bis 20 Atemzüge. Mit jedem davon nimmt er 500 Milliliter Sauerstoff auf. Beim Sport noch mehr, bei Asthma-Erkrankungen auch. Der völlig falsche Gedanke ist, dass man immer mehr nützlichen, hilfreichen Sauerstoff bekommt, wenn man häufiger einatmet. „Richtig ist, dass wir immer mehr Sauerstoff zur Verfügung haben, als wir benötigen“, sagt sie.

Selbst beim Sport atmen wir nur ein Viertel des verfügbaren Sauerstoffs aus. Was wir tatsächlich dringend brauchen, ist das Abfallgas Kohlendioxid, und zwar für die Sauerstoffversorgung. Denn ohne Kohlendioxid können die roten Blutkörperchen, die den Sauerstoff an sich binden und in die Zellen transportieren, ihn dort nicht wieder entlassen. Wenn wir die Atmung verlangsamen und dadurch die Kohlendioxid-Menge im Blut erhöhen, dann werden wir leistungsfähiger, ruhiger und die Muskeln entspannen sich.

Der Tipp: länger aus- als einatmen

Sind wir hingegen krank, gestresst oder in Panik, atmen wir schneller ein, kurz aus und unser Kohlendioxid-Gehalt sinkt. Dann verengen sich die Gefäße in den Bronchien, um die hektische Atmung zu stoppen und die körperliche Konstitution verschlechtert sich weiter – bis hin zur Hyperventilation.

In meinem Fall scheint der zu schnelle Atem kein Problem zu sein – das finden Andrea Mertes und ich bei einer Atempause heraus. Die Atemtrainerin rät mir, zweimal am Tag zehn Minuten bewusst zu atmen: „Vier Zeiten einatmen, sechs Zeiten ausatmen und dazwischen eine Pause machen“, empfiehlt sie. Um im Takt zu atmen, könne ich mich eines Metronoms bedienen, oder einer Atem-App – mehrere sind frei verfügbar im Internet.

Und dann habe ich noch ein Aha-Erlebnis: In James Nestors Buch lese ich von der „E-Mail-Apnoe“: Im Zustand permanenter Ablenkung, der der moderne Büroarbeitende ausgesetzt ist, wird der Atem flach und unregelmäßig. Ich fühle mich ertappt – und ich verstehe! Ab sofort bin ich täglich mit meinem freundlichen Zwerchfell verabredet. Zu 20 bewussten Atem-Minuten, in denen wir uns beide mal so richtig entspannen.

Buchtipp

Der Journalist und Autor James Nestor erlitt mehrere Lungenentzündungen und hatte gravierende Probleme mit dem Atmen. Er machte sich auf die Suche nach den Atemtechnik-Pionieren und der vollkommenen Atmung. Das beschreibt er so informativ wie unterhaltsam-pointiert: unbedingte Leseempfehlung!

piper.de, 22 Euro

Veröffentlicht am

Ein Artikel aus dem Naturkosmetik-Magazin

cosmia

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