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Interview: Gefangen in der Pestizidspirale

Rund 30.000 Tonnen Pestizide werden in Deutschland jedes Jahr ausgebracht. Die konventionelle Landwirtschaft scheint ohne sie nicht zu funktionieren. Wie ist es zu dieser Abhängigkeit gekommen? Und gibt es einen Ausweg? Ein Gespräch mit Professor Jürgen Heß, Vorstandsvorsitzender des Forschungsinstituts für Biologischen Landbau.

Wie ist es dazu gekommen, dass in der Landwirtschaft so viele Pestizide eingesetzt werden?
Seit den 1950er-Jahren erlebte die Landwirtschaft einen drastischen Wandel. Das lässt sich gut am Beispiel von Winterweizen zeigen. 1950 lagen seine Durchschnittserträge hierzulande bei 27 Dezitonnen pro Hektar, im Lauf der nächsten dreißig Jahre stiegen sie auf über 50 Dezitonnen an. Der entscheidende Faktor hierfür war, dass immer mehr industriell hergestellter Stickstoffdünger eingesetzt wurde. Dies führte einerseits zu höheren Ernten, stieß andererseits jedoch eine Kette von Entwicklungen an, die in der massiven Abhängigkeit von chemisch-synthetischen Pestiziden mündete.

Warum hat die Düngung mit Stickstoff den Pestizideinsatz gefördert?
In den 1950er-Jahren wurden Ackerwildkräuter in erster Linie noch durch Hacken und Striegeln sowie von Hand im Zaum gehalten. Das bedeutete viel Arbeit. Von der verstärkt einsetzenden Düngung mit Stickstoff profitierte aber nicht nur der Winterweizen, sondern auch die Ackerwildkräuter. Sie vermehrten sich rasant und konkurrierten in der Folge mit den Winterweizen um Nährstoffe und Wasser. Als Antwort entwickelte die Agrarindustrie sogenannte Unkrautbekämpfungsmittel (Herbizide). Der Haken an diesen ersten Herbiziden war jedoch, dass nur bestimmte Unkräuter von ihnen gut erfasst wurden, die sogenannten Zweikeimblättrigen. Gräser (Einkeimblättrige) hingegen konnten sich trotz des Herbizideinsatzes weiterhin ausbreiten, wurden also unbeabsichtigt begünstigt und damit selektiert. Infolgedessen entwickelte die Agrarindustrie als nächstes Spezial-Herbizide gegen Gräser und brachten diese erfolgreich auf den Markt.

Neben Herbiziden kamen weitere Chemikalien zum Einsatz, unter anderem Fungizide. Wie kam es dazu?
Die weiter gesteigerte Düngung vor allem mit Stickstoff und die Tatsache, dass immer dichter gesät wurde, machte das Getreide anfälliger für Schäden durch Sturm und Starkniederschläge. Durch Pflanzenzüchtung und die Anwendung des Wachstumsregulators Chlorcholinchlorid (CCC) entwickelte man Pflanzen mit immer kürzeren Halmen, um die Standfestigkeit zu erhöhen. Leider begünstigten kurze Halme auch neue Krankheiten: Pilze aus dem Boden erreichten nun leichter die Ähre, da der Infektionsweg von 1,5 m auf nurmehr 50 cm verkürzt war. Spezialisierte Fungizide gegen diesen Pilzbefall waren das nächste Mittel der Wahl.

Zur Person

Prof. Jürgen Heß studierte Agrarwissenschaften an der Universität Bonn und lehrt und forscht seit über 30 Jahre an der Universität für Bodenkultur Wien und an der Universität Kassel. Seit 2019 ist er Vorstandsvorsitzender des Forschungsinstituts für Biologischen Landbau Deutschland (FiBL).

Um die Erträge weiter zu erhöhen, säten die Landwirt:innen den Weizen noch enger. Da dichte Bestände jedoch weniger winddurchlässig sind und deshalb nach Niederschlägen langsamer abtrocknen, verbesserte sich dadurch im Pflanzenbestand das Klima für pilzliche Schaderreger. Die Folge waren weitere Krankheiten wie zum Beispiel der Mehltau. Er forderte den Einsatz eines weiteren Spezial-Fungizids.

Welche Rolle spielt die Trennung von Ackerbau und Viehhaltung beim Einsatz von Pestiziden?
Im Laufe der 1960er-Jahre wanderte die Viehhaltung zunehmend aus den sogenannten Gunststandorten ab und konzentrierte sich auf die weniger fruchtbaren Böden. Gleichzeitig wurde der Ackerbau an Gunststandorten intensiviert. Die Landwirt:innen verzichteten auf vielfältige Fruchtfolgen und lange Anbaupausen einzelner Kulturen – und damit auf die Vorteile, die diese mit sich bringen. Denn der Anbau von Tierfutter wie Luzerne und Klee, der – vereinfacht gesagt – einer Bodensanierung gleichkommt, wurde an Ackerbaustandorten überflüssig. In den Tierhaltungsregionen wurden diese Futterpflanzen zunehmend durch Maisanbau und Sojaimporte ersetzt. Die Folge der verengten Ackerbau-Fruchtfolgen waren neue pilzliche Krankheiten, die sogenannten Fußkrankheiten, gegen die erneut neue Fungizide eingesetzt werden mussten.

Wie ist die Situation heute?
An dem Muster der letzten Jahrzehnte hat sich nicht viel geändert. Die Anwendung von Pestiziden erfolgt vor, während und nach der Aussaat. Schadschwellen, die festlegen sollten, wann das Spritzen ökonomisch gerechtfertigt ist, sind in der Praxis schwer zu bestimmen und haben sich daher wenig durchgesetzt. Rückblickend ist dieser schleichende Weg zu immer mehr chemischen Hilfsmitteln erschreckend, Verbraucher:innen gegenüber auch nur schwer vermittelbar. Viele Landwirte halten es aber für normal, sie sind da ja auch über Jahrzehnte mit in dieses System hineingewachsen.

„Rückblickend ist dieser schleichende Weg zu immer mehr chemischen Hilfsmitteln erschreckend.“

Prof. Jürgen Heß

Sie sind Professor für ökologischen Landbau. Was macht der Bio-Landbau anders?
Der ökologische Landbau bietet eine alternative Herangehensweise. Während konventionelle Landwirtschaft viel zu häufig noch bei der Symptomfrage stehen bleibt und beispielsweise bei einem Schädlingsbefall überlegt, welches Pestizid eingesetzt werden kann, befasst sich der Öko-Landbau mit dem Gesamtsystem und sucht nach den Ursachen. Was lief in der Vergangenheit schief? War es die falsche Sorte oder stimmte etwas mit der Düngung nicht? Braucht es eine andere Fruchtfolge oder passt diese Pflanze vielleicht gar nicht an diesen Standort? Grundsätzlich setzt der Öko-Landbau, wo auch immer es geht, auf Selbstregulation, auf Eigenstabilität und Prävention. Erst wenn dieses Potenzial ausgeschöpft ist, kommen Mittel zum Einsatz. Wir sehen heute mehr denn je, dass wir die langfristigen Aus- und Nebenwirkungen der Landwirtschaft berücksichtigen müssen, um nachhaltig und zukunftsfähig Lebensmittel zu erzeugen.

Kooperation

Die Autorin Anna Becker ist Biologin und seit 2020 Projektmanagerin und Fachreferentin beim Bündnis für eine enkeltaugliche Landwirtschaft e.V. (BEL). Der Verein setzt sich für die ökologische Landwirtschaft und den Ausstieg aus der Nutzung chemisch-synthetischer Pestizide ein. Zu diesem Zweck initiiert das BEL Studien, informiert die Öffentlichkeit und vertritt die Bio-Branche in politischen Entscheidungsprozessen. Eine ungekürzte Fassung ihres Interviews mit Jürgen Heß gibt es auf www.enkeltauglich.bio

Veröffentlicht am

Kommentare

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Rita Roloff

Ein toller Beitrag. Er macht deutlich, wie die Landwirtschaft sich überhaupt erst in die Abhängigkeit der wachstumseuphorischen Agrarchemie begeben konnte.

Wir müssen dringend umsteuern, hin zu einer echten Agrarwende - und die Story von der "wir brauchen Pestizide wegen der Ernährungssicherheit" immer wieder gemeinsam wiederlegen.



Danke an das Bündnis enkeltauglich (ein toller Verein) für diesen Beitrag und eure Arbeit. Bitte macht weiter so!! (Ackergifte Nein Danke!!!)

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