Longyearbyen, 1300 Kilometer südlich vom Nordpol: Die Luft ist glasklar, der Himmel über dem Ort strahlend blau. In einiger Entfernung breiten sich schneebedeckte Gletscher aus, sie machen 60 Prozent der Gesamtfläche Spitzbergens aus. Eine atemberaubende Landschaft, die die norwegische Insel zu bieten hat. Oberhalb des kleinen internationalen Flugplatzes ist ein betoniertes, schmales Eingangsportal zu erkennen, das aus dem Berg zu wachsen scheint. Auf die Nutzung der Anlage weisen Buchstaben aus Metall hin: „Svalbard Global Seed Vault“. Hier, tief im Platåberget versteckt, lagern 1,1 Millionen Samenproben aus 230 Ländern der Welt. Proben von Mais, Reis, Weizen und anderen gängigen Nutzpflanzen, hinter Stahltüren gesichert, in Plastikboxen verpackt, geschützt vor Erdbeben, saurem Regen und radioaktiver Strahlung. Die arktische Kälte Spitzbergens soll die Samen schützen. Doch es gibt Probleme.
Der Klimawandel ist auch hier angekommen.
Der Fjord vor Longyearbyen friert nicht mehr zu, die Gletscher gehen zurück, noch in diesem Jahrhundert kann der gesamte arktische Raum im Sommer eisfrei sein. Ein Fakt, der auch den Global Seed Vault bedroht.
Dabei ist der „Weltweite Saatgut-Tresor Spitzbergen“ ein Back-up für den Katastrophenfall. Etwa wenn eine der 1.700 nationalen und regionalen Saatgutbanken auf der Erde vernichtet wird – zum Beispiel durch bewaffnete Konflikte, durch Hochwasser, Vulkanausbrüche oder Elektrizitätsausfall. Danach könnten die betroffenen Pflanzenspezies mit „Sicherungskopien“ aus dem arktischen Saatguttresor nachgezogen werden.
Saatgut aus allen Ländern der Welt
Jedes Land kann sein Saatgut kostenlos auf Spitzbergen archivieren, nur für den Versand müssen die einzelnen Länder aufkommen. Auch Nichtregierungsorganisationen (wie etwa die „Cherokee Nation“, der größte von drei staatlich anerkannten Cherokee-Stämmen in den USA) können ihr Saatgut hier einlagern. Geologisch betrachtet bietet die Lage im Berginnern hervorragende Isolationseigenschaften. Das Gebiet ist geologisch stabil und das Feuchtigkeitsniveau gering. Zudem befindet sich der Saatgut-Tresor 130 Meter über dem Meeresspiegel. Selbst Überschwemmungen oder das Schmelzen der Gletscher könnte ihm nichts anhaben. Und schließlich sorgt der Permafrost für natürliche Kühlung, selbst wenn die Technik einmal ausfallen sollte. Ab und zu kommt ein Mitarbeiter vorbei und schaut nach dem Rechten. Ansonsten wird alles per Video aus Longyearbyen überwacht. Das jedenfalls war der Plan, als die Anlage 2008 in Betrieb genommen wurde. Doch 2017 kam es zu einem Zwischenfall.
Unerwartet hohe Temperaturen im Herbst und Winter brachten den Permafrost zum Schmelzen und sorgten dafür, dass Wasser in den Eingangsbereich gelangte.
Das habe allerdings nicht die Lagerräume gefährdet, sagt Stefan Schmitz, Direktor beim Global Crop Diversity Trust. Der „Welttreuhandfonds für Kulturpflanzenvielfalt“ ist eine unabhängige internationale Stiftung mit Sitz in Bonn und zuständig für die Einlagerung des Saatguts. Keine der Saatgutproben sei durch das Wasser in Mitleidenschaft gezogen worden. Ob der „Klimawandel dafür verantwortlich war oder ein Konstruktionsfehler beim Bau des Zugangsstollens“ ließe sich nicht mehr genau klären, so Direktor Schmitz.
Weizen lagert bis zu 1200 Jahre
Im Tresorraum zeigt der von der Decke hängende digitale Temperaturmesser minus 17,9 Grad Celsius. Ein Kühlsystem hält die Temperatur auf diesen für Genbanken international empfohlenen Wert. Die Hände frieren nach einer halben Minute, ohne Handschuhe beginnen sie nach einer Minute zu schmerzen. Die Temperatur und die niedrige Feuchtigkeit im Tresorraum sorgen für eine geringe Stoffwechselaktivität, was die Samen über sehr lange Zeit hin lebensfähig halten soll. Weizen kann bis zu 1200, Rettich um die 80 Jahre gelagert werden. Agrarprodukte wie Kaffee, Tee, Avocados, Äpfel oder Süßkartoffeln lassen sich mit anderen Methoden besser konservieren, daher fehlen sie im Global Seed Vault auf Spitzbergen.
Schatzkammer für Bohnen und Weizen
Im Global Seed Vault lagern Bohnen aus Kolumbien, Hirse aus Usbekistan, Kartoffeln aus Peru, Kichererbsen aus Indien, Reis aus der Elfenbeinküste oder Weizen aus Deutschland. Nummer eins und am stärksten vertreten sind Weizensorten, gefolgt von Reis.
Die Entscheidung, welche Samen eingelagert werden, treffen die einzelnen Länder und Organisationen. Mit einer Ausnahme: Gentechnisch verändertes Saatgut muss draußen bleiben. Das schreiben die norwegischen Einfuhrgesetze vor. Die Pflanzensamen bleiben im Besitz des Herkunftslandes, das die Saat geschickt hat. Nur auf dessen Anfrage können sie aus dem „Svalbard Global Seed Vault“ geholt werden. Das ist seit der Eröffnung 2008 erst ein einziges Mal geschehen: 2016 wurden trockenheitsresistente Getreidesorten des „Internationalen Zentrum für Agrarforschung in trockenen Regionen“ zurückgefordert. Die ehemals im syrischen Aleppo beheimatete Saatgutbank wurde im Krieg völlig zerstört. Hinter dem Saatgut-Tresor steckt die Angst vor den Folgen einer „abnehmenden Artenvielfalt von Nutzpflanzen für die Menschheit“, so Hannes Dempewolf. Der Biologe arbeitet für den Global Crop Diversity Trust. „Da geht es um land races, alte Sorten, die von Bauern über Jahrhunderte gezüchtet und entwickelt wurden.“ Diese gelte es für künftige Generationen zu bewahren, sagt Dempewolf. Darunter befindet sich auch Bio-Saatgut.
Der Permafrost taut auf
Doch die Lagerung von Samenproben auf Spitzbergen hatte von Beginn an ihre Tücken. Nicht nur, weil beim Bau des Bunkers offenbar gepfuscht wurde, wie eine Dokumentation des öffentlich-rechtlichen Fernsehens Norwegens nahelegt. Jetzt machen auch noch steigende Temperaturen auf Spitzbergen zu schaffen. Durch die Bauarbeiten wurde das Berginnere künstlich erwärmt und der Permafrost dadurch zurückgedrängt. Die Kälte musste sich erst wieder ausbreiten, und sie tut das langsamer als erwartet. Der Sommer 2020 brachte für die Insel neue Wärmerekorde. Mit knapp 22 Grad war noch nie eine höhere Temperatur im europäischen Teil der Arktis gemessen worden. Und das heißt: überdurchschnittlich viel Regen, die Gletscher verlieren immer schneller ihren Eispanzer, der in Jahrhunderten entstandene Permafrost taut auf.
Warum der Saatguttresor gerettet werden muss
Auf dem Weg zurück von den Lagerräumen zum Ausgang geht es durch eine bombensichere Stahltür, dahinter befindet sich ein 120 Meter langer, sanft nach oben aufsteigender Tunnel. Noch immer hat sich in diesem Verbindungstunnel keine durchgängige Eisfläche gebildet. Dafür wurden die Betonrisse im Boden, entstanden durch Tauwasser, vollständig behoben, um den Saatguttresor zu schützen. Die Renovierungsmaßnahmen des Eingangsbereiches, des Verbindungstunnels zu den Lagerräumen inklusive neuem Notfall-Kühlsystem waren fast dreieinhalb Mal so teuer wie die ursprünglichen Baukosten.
Aber dass es sich lohnt, in den Global Seed Vault auf Spitzbergen zu investieren, davon ist Crop Trust-Direktor Stefan Schmitz überzeugt. „Der Verlust einer Kulturpflanze ist ebenso unumkehrbar wie das Ende der Dinosaurier.“
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