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Mein Kalb bleibt bei mir

In der modernen Milchproduktion werden Kühe und ihre Kälber bald nach der Geburt getrennt. Einige Betriebe machen es anders. Unser Autor hat einen davon besucht.

Rio stupst seine Mutter an und leckt sie am Ohr. Doch Robina will jetzt nicht aufstehen und den Kleinen an ihr Euter lassen. Und so stakst das graue Kälbchen hinüber zu Sahne, dem anderen kleinen Kalb, schnuppert an ihr, nimmt Kontakt auf. Noch ist alles so neu hier. Rio ist erst eineinhalb Wochen alt.

„Das ist unsere Mutter-Kind-Gruppe“, sagt die Bäuerin Mechtild Knösel und stellt die Damen vor: Neben Robina leben in der geräumigen, mit Stroh eingestreuten Box derzeit Hagebutte und Schlehe, die beide vor wenigen Wochen ihr erstes Kalb bekamen, Hirse und Sahne heißen die beiden. „Den ersten Monat verbringen Kuh und Kalb bei uns den ganzen Tag zusammen“, erklärt Mechtild Knösel. „Nur morgens und abends hole ich sie kurz in den Melkstand.“ Was die Kälbchen an Milch im Euter gelassen haben, bekommt die Bäuerin.

Lust auf Milchprodukte

Pro Kopf wurden 2015 in Deutschland 25 kg Vollmilch, 17 kg Joghurt, 25 kg Käse und 6 kg Butter verbraucht.

Mechtild Knösel ist auf dem Demeter Hofgut Rengoldshausen am Bodensee für 50 Milchkühe und ihre Nachzucht verantwortlich. Vor zwölf Jahren hat sie mit der muttergebundenen Kälberaufzucht begonnen. So heißt es, wenn die Kälber der Milchkühe nach der Geburt bei ihrer Mutter bleiben können. Zumindest eine Zeit lang. Hört sich selbstverständlich an, ist es aber nicht – auch nicht auf Bio-Höfen.

Ohne Kalb keine Milch

Kühe geben nur dann kontinuierlich Milch, wenn sie jedes Jahr ein Kalb bekommen. Schließlich ist die Milch von Natur aus für das Kalb gedacht. Auf Leistung gezüchtete Milchkühe geben weitaus mehr Milch, als ein Kalb trinken kann. Es wäre also genug für den Nachwuchs und den Menschen da. Doch unter den Bedingungen der modernen Milchproduktion rechnet sich das Teilen betriebswirtschaftlich nicht. Der Bauer verdient mehr Geld, wenn er die Milch an die Molkerei verkauft, anstatt das Kälbchen damit großzuziehen. Überspitzt formuliert: Die Milch ist zu wertvoll, um sie dem Kalb zu geben.

Deshalb ist es in vielen konventionellen Betrieben üblich, das Kalb sofort oder nur wenige Stunden nach der Geburt von der Mutter zu trennen. Statt Muttermilch bekommt es als Futter billigen Milchaustauscher, ein mit Wasser aufgerührtes Gemisch aus pflanzlichen Ölen und Molkepulver. Auch die meisten Bio-Milcherzeuger trennen Mutter und Kalb spätestens nach einigen Tagen. Genaue Vorgaben dazu gibt es weder in der EU-Öko-Verordnung noch bei den Bio-Verbänden. Dennoch gibt es zwei große Unterschiede zur konventionellen Kälberaufzucht: Milchaustauscher sind verboten, Bio-Kälber bekommen die ersten drei Monate Kuhmilch zu trinken. Sie soll vorzugsweise von der eigenen Mutter stammen, heißt es in den Richtlinien, muss es aber nicht. Die Milch bekommen die Kälber aus Eimern mit Saugnapf dran. Nach der ersten Woche müssen die Kälber auf Bio-Betrieben in Gruppen gehalten werden. In der konventionellen Aufzucht sind in den ersten acht Wochen Einzelboxen erlaubt. Erst danach ist die sozialere Gruppenhaltung ebenfalls vorgeschrieben – allerdings mit vielen Ausnahmen.

Ein Leben für die Milch

Weibliche Jungrinder werden konventionell zwischen dem 15. und 18. Monat das erste Mal besamt, auf Bio-Betrieben meist etwas später. Sie heißen nun Färse oder Kalbin, bis sie neun Monate später ihr erstes Kalb zur Welt bringen.

Jetzt beginnt ihr Leben als Milchkuh in der Milchproduktion. 20 bis 35 Liter geben sie jeden Tag, abhängig von der Rasse und vom Energiegehalt des Futters.

Zwei bis drei Monate nach dem Kalben werden die Tiere erneut besamt oder von einem Stier gedeckt, sodass sie etwa im Jahresrhythmus ein Kalb zur Welt bringen. Acht Wochen vor der Geburt nimmt der Bauer die hochträchtigen Tiere aus der Produktion, er stellt sie trocken.

Viele Kühe sind nach drei, vier Jahren Milchproduktion ausgelaugt. Sie werden durch ihre Töchter ersetzt – und geschlachtet.

Doch gibt es in den meisten Herden auch Kühe, die zehn und mehr Kälber zur Welt bringen und entsprechend alt werden.

Eine Patentlösung gibt es nicht

In Rengoldshausen blieben die Kälber früher fünf Tage lang bei ihrer Mutter, bevor sie getrennt wurden. Nach dieser Gewöhnungszeit war der Schmerz extrem groß. „Die Kälber und die Kühe haben tagelang sowas von gebrüllt. Ich wusste, da läuft was total falsch“, erinnert sich Mechtild Knösel. Zudem bekamen viele Kälber durch den Trennungsstress und die Umstellung auf Eimertränke Durchfall und wurden krank. „Es war für mich klar, ich musste etwas ändern.“ Also fing die heute 38-jährige Landwirtin an zu experimentieren. Vorbilder gab es damals kaum welche. „Ich habe mich an dem entlang entwickelt, was funktioniert hat“, beschreibt sie ihre Methode. Mit der Zeit entstand so ein System, das für sie passt „und mit dem mir die Arbeit Freude macht.“ Eine Patentlösung für alle Bio-Betriebe sei das nicht. Was machbar ist, hängt von vielen Faktoren ab: Vom Platz im Stall etwa und davon, ob junge Bullenkälbchen schon nach wenigen Wochen verkauft oder im Betrieb gemästet werden.

Eimer statt Euter

Bio-Kälber bekommen die ersten drei Monate Kuhmilch zu trinken, bei konventionellen Betrieben kann es ein Gemisch aus Öl und Molke sein.

In Rengoldshausen bleiben Mutter und Kalb nach der Geburt 24 Stunden alleine zusammen. Sobald das Kalb selbstständig trinken kann und die Mutter erkennt, kommen die beiden in die Mutter-Kind-Gruppe. „Das Kalb lernt dort, dass es andere Kälber gibt und erwachsene Tiere, die nicht die Mutter sind“, sagt Mechtild Knösel. Und es macht alles nach, was es sieht. „Die fressen schon am zweiten Tag das erste Heu und probieren das Grasen auf der Weide aus.“ Nach einem Monat Familie kommt der erste Trennungsschritt. Die Mütter gehen wieder mit den anderen Milchkühen auf die Weide. Weil der Weg dorthin für die Kälber zu weit ist, kommen sie in die Kälbergruppe, den „Kindergarten“. Morgens und abends vor dem Melken sehen sich Mutter und Kalb, dann ist Essenszeit. Mechtild Knösel ist es wichtig, den Übergang langsam und stressfrei zu gestalten. Deshalb bleibt das Kalb die ersten fünf Tage, während die Mutter weg ist, noch in der gewohnten Box. Tagsüber sind dort die ‚Tanten‘ und bei ihnen kann es auch mal trinken. Und nach dem abendlichen Melken ist die Mutter über Nacht noch da. Erst wenn sich das Kalb an die zwei Mahlzeiten und das Wegbleiben der Mutter gewöhnt hat, kommt es in die Nachbarbox zur Kälbergruppe, in der es die nächsten zwei Monate bleibt.

Im Alter von drei Monaten beginnt das endgültige Absetzen, wieder ganz langsam. Erst kommt die Mutter nur noch abends zum Tränken, schließlich gar nicht mehr. Das Kalb bleibt noch den vierten Monat in der Box und kann während der Tränkzeit hinaus zu den Tanten, um dort etwas Milch zu tanken. Doch auch das hört allmählich auf. Völlig schmerzfrei verläuft dieser Prozess nicht. „Eliminieren kann ich den Trennungsschmerz nicht“, sagt Mechtild Knösel. „Da müssen wir gemeinsam durch und das sage ich meinen Tieren auch. Damit sie vorbereitet sind.“

Muttergebunden vor allem Bio

Doch noch ist es nicht so weit. Die Milchkühe kommen von der Weide zurück. Mechtild Knösel steht an einem der Gatter im geräumigen Stall und sortiert die Tiere. Die Kühe ohne Kälber sammeln sich vor dem Melkstand. Die Mütter biegen ab in den Gang zur Kälberbox und stellen sich dort auf. Die jüngeren Kälber stehen schon am Tor, von dem sie wissen, dass es gleich aufgehen wird. Ruhig suchen sie sich ihre Mütter und dann ist es zehn Minuten still. Sie schmatzen nicht einmal. Nach der Mahlzeit lecken die Mütter ihren Kälbern das Fell, systematisch, von vorn bis hinten. Mechtild Knösel strahlt: „Das ist doch einfach schön!“

Und doch selten. Die Welttierschutzgesellschaft hat auf ihrem Portal kuhplusdu.de bundesweit 40 Höfe aufgelistet, die muttergebundene Aufzucht betreiben oder mit Ammen arbeiten. Bei diesem System versorgt eine Kuh jeweils zwei bis drei Kälber und kümmert sich um sie. Die meisten dieser Höfe sind Bio-Betriebe. Viele vermarkten ihre Milch wie Rengoldshausen direkt ab Hof, vereinzelt auch über benachbarte Bio-Läden. Andere liefern sie an die Molkerei, wo sie mit der Bio-Milch anderer Höfe in einen Tank kommt. Rund um Hamburg gibt es mit der 4-Jahreszeiten-Milch der Ökomelkburen Milch aus muttergebundener Aufzucht auch in zahlreichen Bio-Märkten.

Was ist Mutterkuhhaltung?

Allmählich wächst das Interesse der Landwirte und der Verbraucher an dieser Form der Aufzucht. Bei der Bio-Rindfleischerzeugung ist es gängige Praxis, dass die Kälber auf der Weide mit ihren Müttern aufwachsen und als Jungrinder mit zwei Jahren geschlachtet werden. Mutterkuhhaltung heißt das, und diese Kühe werden gar nicht gemolken. Doch auch bei der Milcherzeugung wird Bauern und Verbrauchern immer klarer, dass die schnelle Trennung von Mutter und Kalb nicht gerade artgerecht ist.

Eine ganz besondere Form der Rinderhaltung und -schlachtung gibt es auf dem sogenannten Uria-Hof in der Schwäbischen Alb. Wir haben uns dort umgesehen.

Alternatives Schlachten auf dem Uria-Hof

Kollegen kommen, sehen und lernen

Dass es dennoch nur langsam vorangeht, liege daran, dass sich „in den letzten Jahrzehnten die bauliche Gestaltung der Ställe und die Arbeitsabläufe auf die getrennte Aufzucht ausgerichtet haben“, erklärt Kerstin Barth, die am Thünen-Institut für ökologischen Landbau die muttergebundene Aufzucht erforscht (siehe Interview). Auf vielen Betrieben müssten die Landwirte also erst in Stallumbauten investieren, um den notwendigen Platz zu schaffen. Die Bauern fürchten außerdem, dass der Trennungsschmerz der Tiere noch größer wird, wenn sie länger zusammenbleiben. Dass es mühsam sei, Mutter und Kalb nach dem Säugen wieder zu trennen. Und dann sind da noch die Ängste, dass die Kälbchen zu viel Milch wegtrinken und alles zusammen viel mehr Arbeit macht – die letztlich keiner zahlt.

Mechtild Knösel kennt solche Bedenken von Kollegen, die Rengoldshausen besuchen, um sich die Praxis anzusehen. Sie erklärt ihnen dann, dass ihre Kälber im Schnitt über die vier Monate zehn Liter Milch am Tag trinken, dass sie die Menge aber auch über Eimer füttern müssten, wenn sie gesunde, stramme Kälber wollen. „Das rechnet sich allein über den Wegfall der Tierarztkosten“, sagt sie. Und sie spare Arbeitszeit, weil das Aufwärmen der Milch, das Säubern und Verteilen der Eimer wegfalle. Der Aufwand, um die Tiere zu sortieren, sie zu beobachten und zu schauen, dass alles ordentlich läuft, sei gar nicht so hoch. „Die kennen das und wissen, wo es langgeht.“ Neulich sei ein Landwirt da gewesen, der 400 Milchkühe hat. „Der wollte nicht wissen, ob das eine gute Idee ist, sondern wie es geht. Drei Wochen später kam eine E-Mail: ‚Läuft!‘“

Interview: „Das Verhalten der Kälber unterscheidet sich“

Kerstin Barth forscht am bundeseigenen Thünen-Institut für ökologischen Landbau seit dreizehn Jahren über muttergebundene Kälberaufzucht.

Wie geht es den Kälbern bei der muttergebundenen Aufzucht?

Den Kälbchen geht es gut damit. Sie entwickeln sich hervorragend und sind gesundheitlich gut drauf. Aber das ist nicht wesentlich anders als bei herkömmlichen Kälbern, die ähnlich viel Milch erhalten. Das Verhalten der Kälber unterscheidet sich aber; es gibt kein gegenseitiges Besaugen. Und sie lernen von der Mutter das Sozialverhalten der Erwachsenen viel früher als herkömmliche Kälber, die oft nur in ihrer Altersgruppe unterwegs sind.

Und was sagt die Mutter dazu?

Das kann ich noch nicht richtig beantworten. Es ist ein natürliches Bedürfnis der Tiere, die Mutterschaft auszuleben, und insofern tut es ihnen sicher gut. Aber emotionale Zustände lassen sich bisher wissenschaftlich nur schwer erfassen. Auch wissen wir noch nichts über mögliche Änderungen im Stoffwechsel. Was den Gesundheitsstatus angeht, gibt es keine großen Unterschiede zu anderen Milchkühen. Das liegt daran, dass er auch von vielen anderen Faktoren beeinflusst wird, etwa vom Futter oder der Stallhygiene.

Was haben Sie über die Erfahrungen der Bauern herausgefunden?

Die Landwirte, die das betreiben, haben eine hohe Arbeitszufriedenheit, es macht ihnen mehr Spaß, das höre ich immer wieder. Wirtschaftlich gesehen haben die Betriebe im Stall einen größeren Platzbedarf. Das schlägt zu Buche, wenn man sowieso gerade neu baut oder eigens umbauen muss. Der Arbeitsaufwand des Tränkens entfällt zwar, aber auch das Zuführen der Tiere und die Tierbeobachtung brauchen Zeit. Insgesamt kann man sagen, der Landwirt müsste mehr Geld für seine Milch bekommen, um seinen zusätzlichen Aufwand zu finanzieren. Gemeinsam mit dem Institut für Betriebswirtschaft werden wir uns dieser Fragen annehmen und versuchen, Vergleichszahlen zu bekommen.

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