Umwelt

Die Kraft der Gedanken

PSYCHOLOGIE Wundersame Heilungen, Energieleistungen und die Kunst der Selbsttäuschung – die Wissenschaft erforscht, wie viel wirklich in unseren Köpfen steckt.

Deryn Blackwell hatte alles sorgfältig geplant: Einen pinkfarbenen Irokesenschnitt wollte der 14-Jährige sich noch schneiden lassen. Der dazu passende Anzug lag bereit. Und auch die Musik, die bei seiner Beerdigung gespielt werden sollte, war längst ausgesucht. Der nahe Tod erschien dem leukämiekranken Jungen „wie eine offene Tür, hinter der ein Licht scheint. Du gehst hindurch und alle Schmerzen haben ein Ende“, erzählte Deryns Mutter der britischen Boulevardzeitung Daily Mail. Aber womöglich ausgerechnet dieser Moment tiefer innerer Entspannung beschenkte Deryns Körper mit unglaublichen Kräften: Der Krebs verschwand. Beinahe vier Jahre ist das jetzt her. Deryn lebt noch immer. Warum, das kann sich kein Mediziner erklären.

Studie: Das Prinzip Hoffnung

Am Uniklinikum Marburg arbeiteten Psychologen für eine vor Kurzem veröffentlichte Studie mit 124 Herzpatienten zusammen. Ein Teil der Kranken sollte für die Zeit nach einer Bypass-Operation Pläne schmieden; den Balkon bepflanzen, eine schöne Reise machen und dergleichen. Mit den anderen redete man nur über die OP. Hinterher stellte sich heraus, dass die Patienten mit Zukunftsplänen ihre Operation weitaus besser verkraftet hatten. Ihr Blutbild verzeichnete weniger Entzündungsmarker und Stresshormone. „Wenn man so will, haben wir da die Kraft der Hoffnung gemessen“, erklärte Professor Dr. Winfried Rief, der Leiter des Psychologen-Teams, der Wochenzeitung „Die Zeit“.

Geschichten dieser Art hört man immer wieder: Gelähmte, die plötzlich wieder gehen können, weil ihr Gehirn sich auf einmal an Schritte „erinnert“, Schwerkranke, die nach der Einnahme von Placebo-Tabletten an ihre Heilung glauben – und tatsächlich gesund werden. „Im Klinikalltag begegnen uns immer wieder Dinge, die sich wissenschaftlich nicht erklären lassen“, wird die amerikanische Ärztin und Autorin Lissa Rankin in der Zeitschrift „Welt der Wunder“ zitiert. Bei den Recherchen für ihr Buch „Mind over Medicine – Warum Gedanken oft stärker sind als Medizin“ stieß sie auf über 1000 wissenschaftlich erfasste Fälle von „Spontanheilungen“ angeblich unheilbarer Krankheiten. Bei allen sei die positive Grundhaltung der Patienten besonders ausgeprägt gewesen.

Gibt es also in unserem Kopf Kräfte, die uns quasi unverwundbar machen? Und könnten wir ��� die richtige Hirnsteuerung vorausgesetzt – kraft unserer Gedanken nicht nur gesunden, sondern, zum Beispiel, auch endlich abnehmen, das Rauchen aufgeben oder uns besser konzentrieren?

Was den Menschen gesund und glücklich macht

Die amerikanische Psychologieprofessorin Ellen J. Langer fasste diese Überlegungen vor einigen Jahren in eine simple Frage: Warum erforschen wir eigentlich immer, was den Menschen krank macht, anstatt das, was ihn gesunden und glücklich werden lässt? Langer geht davon aus, dass Geist und Körper nicht getrennt voneinander operieren, sondern der Körper vom Denken deutlich stärker beeinflusst wird, als den meisten Menschen klar ist. In ihrem Hauptwerk „Mindfulness. Das Prinzip Achtsamkeit“ beschreibt sie, wie wir uns „mindless“, also unbewusst, von gedanklichen Automatismen prägen lassen. Langer, die an der renommierten Universität von Harvard forscht und lehrt, sucht nach Wegen, unseren Blick aufs Leben durch unsere Gedanken zu verändern – und damit das Leben selbst. In einem ihrer Experimente wurden ältere Herren in ein Haus verfrachtet, das man exakt so hergerichtet hatte, wie sie das aus ihrer Jugend kannten. Sie sollten eine Art innerer Zeitreise unternehmen, so reden und sich so benehmen wie früher, die gleiche Musik hören, die gleichen Sachen tragen. Nach wenigen Tagen stellte man fest, dass die Zeitreisenden besser hören und sehen und sich auch wieder geschmeidiger bewegten. Zwar nicht wie die Zwanzigjährigen von früher, aber immerhin. Ihre Gedanken hatten den Körpern signalisiert, dass Alter vor allem eine Einstellung ist und kein Gebrechen.

Leichtes Spiel oder harte Arbeit?

Für eine andere ihrer zahlreichen Studien ließ Langer zwei Gruppen von Studierenden die gleichen stupiden Tätigkeiten verrichten: Bücherstapel einordnen und dergleichen. Die eine Gruppe wurde dabei auf ein „Spiel“ vorbereitet, die andere auf „schwere Arbeit“. Tatsächlich waren die „Spielenden“ hinterher deutlich weniger erschöpft, obwohl sie exakt das Gleiche getan hatten wie die „Arbeiter“. Die innere Einstellung beeinflusst Langers Forschungen zufolge also dramatisch unsere Fähigkeiten, Herausforderungen zu begegnen. Aber wo liegen die Grenzen?

Eigentlich gibt es keine, verspricht die amerikanische Psycho-Schule des „Positive Thinking“, die den wissenschaftlichen Ansatz von Ellen J. Langer und ihrer Kollegen in gebrauchsfertige Lebenshelfer verwandelt. „Sorge dich nicht, lebe!“ (Dale Carnegie) lautet seit Jahren die immer gleiche Botschaft: „Durch positive Gedanken erschaffen Sie genau die Situation in Ihrem Leben, die eintreten soll.“ Doch wenn das so einfach ist, warum erreichen dann so wenige Menschen ihre Ziele wirklich? Umfragen zufolge fasst jeder dritte Deutsche an Silvester gute Vorsätze für das nächste Jahr. Doch leider gelingt es nur den wenigsten, diese durchzuhalten.

Gabriele Oettingen, eine deutsche Psychologieprofessorin, die wechselweise an den Universitäten von Hamburg und New York lehrt, war eigentlich auf der Suche nach wissenschaftlich fundierten Bestätigungen für den Erfolg des positiven Denkens. Dabei stieß sie auf Widersprüche. Bei einer Studie mit Frauen, die abnehmen wollten, stellte sie fest, dass diejenigen, welche vor der Diät schon von ihrer zukünftigen Strandfigur fantasiert hatten, weniger erfolgreich waren als die Realistinnen. Gleiches galt für Studierende auf Jobsuche. Jene, die sich bereits auf dem Weg zum Traumjob wähnten, erhielten letztlich weniger lukrative Angebote als die jungen Frauen und Männer, die sich auch mit den Schwierigkeiten ihrer Bewerbung auseinandergesetzt hatten.

Vom planvollen Umgang mit Hindernissen

Aus diesen und ähnlichen Studienergebnissen entwickelte Gabriele Oettingen eine Art Psychostrategie: Der Name – WOOP – klingt zwar eher nach einem neuen Sportgerät, von dem man ständig wieder runterfällt, umfasst aber genau die vier Schritte, mit denen wir uns laut Oettingen für das Gelingen programmieren können. W steht dabei für „Wish“, den Wunsch, die Motivation, die am Anfang jeder Veränderung steht. Wenn wir beispielsweise fitter werden wollen, macht es durchaus Sinn, uns selbst als durchtrainierte Läufer in einem wunderschönen Park vorzustellen. Doch das gewünschte Ergebnis, O wie „Outcome“, kann nur in Kenntnis der Hindernisse – O wie „Obstacle“ – verwirklicht werden. Und dafür brauchen wir P, einen „Plan“. Oettingen sagt: „WOOP ist ein Werkzeug, das uns hilft, unsere Energie zu bündeln, die notwendig ist, um unsere Wünsche zu verwirklichen.“

Wir müssen uns also ganz konkret auch mit den Schwierigkeiten auseinandersetzen, die unseren Wünschen entgegenstehen. Dieses „mentale Kontrastrieren“, wie Oettingen es nennt, setzt an jenen Automatismen in unseren Gedanken an, die auch schon Ellen J. Langer beschrieben hatte.

Einfaches Beispiel: Es wäre wunderbar, solche Bauchmuskeln (Wish) durch die Gegend zu tragen wie Elyas M᾽Barek in „Fuck Ju Göthe“ und den nächsten Strandurlaub endlich wieder genießen zu können (Outcome). Doch jeden Morgen dafür eine Stunde eher aufstehen, die Tasche packen, den Protein-Smoothie mixen und dann ins Fitnessstudio rennen müssen (Obstacle)?

Damit einem die alten Gewohnheiten nicht ins Gehege kommen, sollte man einen konkreten Plan entwickeln: Zwei Wecker knapp zeitversetzt klingeln lassen. Die Trainingstasche am Abend vorher packen, ebenso die Zutaten für den Smoothie vorbereiten und statt jeden Tag erst mal mit zwei bis drei Tagen in der Woche anfangen. Die Wahrscheinlichkeit, dass es dann für Elyas M᾽Bareks imponierendes Bauchmuskelpaket reicht, sind zwar gering, aber der tatsächliche Erfolg fühlt sich am Ende wahrscheinlich besser an als der ewig unerfüllte Traum. Es geht also darum, sich darauf zu fokussieren, WIE man etwas schafft, statt ob – da sind sich die Professorinnen Langer und Oettingen einig.

Zwischen Illusionen und unerforschtem Neuland

Was den zahlreichen Rückmeldungen auf das WOOP-Programm zufolge beim Aufräumen, einer besseren Lebensorganisation, beim Abnehmen oder Sport durchaus gelingen mag, sollte aber nicht zu Illusionen führen, wenn es um wirklich schwere Krankheiten geht. „Spontanheilungen bei Krebs sind so wahrscheinlich wie fünf Richtige im Lotto“, rechnet Professor Dirk Jäger vom Zentrum für Tumorerkrankungen Heidelberg in einer ARD-Dokumentation zum Thema vor. „Ich halte es für gefährlich, Patienten zu suggerieren, dass sie allein durch eine bestimmte psychische Einstellung mit ihrer Tumorerkrankung fertig werden. Man verursacht bei ihnen Schuldgefühle, wenn das nicht funktioniert.“ Aber auch er bestätigt, wie die Schulmedizin vermehrt Methoden entwickelt, mit denen die Selbstheilungskräfte der Zellen aktiviert werden. Denn letztlich sind die wirklichen Möglichkeiten unseres Gehirns keine esoterischen Fantasien, sondern weitgehend unerforschtes Neuland für die Wissenschaft.

Für Einsteiger

Wie Sie Ihr Denken verändern können

Die umfangreiche Ratgeberliteratur zum Thema „Die Kraft der Gedanken“ enthält zahllose Tipps und Ideen. Hier sind einige davon, zum Nachmachen:
Visualisieren Sie! Stellen Sie sich konkret vor, wie Sie etwas tun. Dann ist der gute Vorsatz schon mal als festes Bild drin in Ihrem Kopf. Muskeln etwa wachsen laut zahlreicher Studien tatsächlich auch dann, wenn man sich nur vorstellt, dass man sie bewegt. (Beim Training wachsen sie allerdings deutlich mehr. Leider.)
Denken Sie durchsichtig! Denken Sie eine Woche lang so, als würden alle Menschen Ihre Gedanken sehen können. Sie werden staunen, wie man sich damit umprogrammieren kann und negative Energie verscheucht.
Setzen Sie erreichbare Ziele! Falls es eine Diät sein soll: Zehn Kilo leichter wären schön, sind aber nur ein ferner Traum. Ein Kilo weniger pro Monat, das kriegen Sie hin!

Interview

„Überfordern Sie sich nicht!“

Frau Dr. Zachenhofer, nach diesem Gespräch würde ich gern die halbe Tafel Schokolade essen, die meine Tochter gestern übrig gelassen hat. Wie werde ich diesen Gedanken wieder los?

Das sollten Sie gar nicht. Wenn Sie sich etwas verbieten, wird der Gedanke an die Schokolade übermächtig. Achten Sie lieber darauf, dass Sie Ihren Blutzuckerspiegel konstant halten. Dann signalisiert Ihr Gehirn Ihnen auch nicht, dass Sie dringend etwas essen müssen.

Was geht in meinem Gehirn vor, wenn ich ans Essen denke?

In Ihrem Kopf kämpfen zwei Gegenspieler: das Belohnungssystem, das ständig Genuss einfordert, und der präfrontale Cortex, Ihr Vernunftdenken. Wenn Sie beim Essen Automatismen durchbrechen wollen – wie die ständigen Zwischenmahlzeiten oder die Chips vor dem Fernseher –, müssen Sie sich neu programmieren. Nur noch drei Mahlzeiten am Tag, zum Beispiel, und zur Belohnung keine Schokolade, sondern stattdessen ein Besuch im Kino, im Museum, ein Spaziergang in der Natur oder was Ihnen sonst Spaß macht. Machen Sie kleine Zwischenschritte und überfordern Sie sich nicht. So schaffen Sie ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Belohnungssystem und Vernunft. Diese neuen Automatismen erlernen Sie langsam und geduldig, so wie Sie früher das Radfahren gelernt haben.

Kann ich auf diese Weise mein Gehirn nicht auch zu ganz anderen Themen neu programmieren?

Letztendlich geht es ja meistens um viel mehr als um einen flachen Bauch: Was macht mir Spaß im Leben? Wie gehe ich mit mir selbst um? Nehme ich mir Zeit zum Genießen? Wenn wir berücksichtigen, dass sich alle neuen Verhaltensweisen im Gehirn durch ständiges Üben, durch Wiederholen und Fehlermachen erst langsam abspeichern müssen, können wir jedes Ziel erreichen.

Mehr zum Thema

www.woopmylife.org/home-de
Die „Psychologie des Gelingens“ als Lebenshilfe

www.daserste.de/information/wissen-kultur/w-wie-wissen/sendung/spontanheilung-100.html
Ein Film aus der ARD-Reihe „W wie Wissen“

www.youtube.com/watch?v=4XQUJR4uIGM
Die charismatische Psychologieprofessorin Ellen J. Langer bei einem ihrer lustigen Vorträge

Veröffentlicht am

Kommentare

Registrieren oder einloggen, um zu kommentieren.

Das könnte interessant sein

Unsere Empfehlung

Ähnliche Beiträge