Kolumne

Fred Grimm: Und jetzt alle!

Was hilft aktuell dabei, die vielen negativen Nachrichten zu verdauen? Dieser Frage stellt sich Fred Grimm in seiner neuen Kolumne.

In der Medienforschung macht gerade das Wort von der „Nachrichtenvermeidung“ die Runde. Gemeint ist der Impuls, angesichts der vielen deprimierenden Meldungen keine Nachrichten mehr zu lesen, zu hören oder anzuschauen. Die Tage, an denen man morgens am liebsten die Decke über den Kopf ziehen würde, wenn man an die krisenbeladene Welt denkt, sind niemandem fremd. Auf einmal scheint nicht mehr sicher, dass das Gute am Ende wirklich gewinnt. Vielleicht ist das Gute und damit der Glaube an eine bessere Welt aber auch einfach nur sehr leise geworden, in Deutschland auf jeden Fall.

Ein wenig erinnert mich diese Zeit an die späten Siebzigerjahre. Nach dem Aufflackern der 68er-Utopien lag etwas Bleiernes über dem Land. Viele der vor allem jungen Menschen, die für eine friedlichere Gesellschaft ohne Ausbeutung und Ungerechtigkeit kämpften, wurden als potenzielle Terroristen oder DDR-Anhänger geschmäht. Ein bescheiden angedachter Kongress in Berlin, das „Treffen in Tunix“, Ende Januar 1978, wollte Menschen zusammenbringen, die über ein alternatives Leben jenseits von Spießigkeit und Stalinismus nachdenken und reden wollten. Mit ein paar Hundert Teilnehmern hatten die Veranstalter gerechnet, rund 20 000 kamen zu dem dreitägigen Treffen, das heute als Geburtsstunde der Alternativbewegung gilt und seinen Namen Tunix Lügen strafte.

Es war vor allem das Gefühl, mit seinen und ihren Träumen nicht allein zu sein, das damals motivierte. Auch dass viele kleine Schritte mindestens so wichtig sind wie die ganz großen. Ich stelle mir die Millionen Menschen in Deutschland vor, die heute ganz ähnlich empfinden mögen wie die Utopisten vor fast 46 Jahren: Einerseits engagiert, etwas zu verändern und sicher, auf dem richtigen Weg zu sein, aber auch entnervt davon, wie wenig sich beim Klima- und Umweltschutz tut.

Viele kleine Schritte sind mindestens so wichtig wie die ganz großen.

Fred Grimm

Es sind wirklich Millionen, wenn man sie alle mal zusammenzählt: Jene, die Straßenbäume pflegen und Bäche renaturieren, die Gemeinschaftsgärten anlegen oder sich um hilflose Tiere kümmern. Dazu die Beharrlichen, die Rad- und sichere Schulwege einklagen, die Kinder, die sich Aktionen gegen Plastikmüll ausdenken, die Familien, die mit Abo-Gemüsekisten Öko-Höfe unterstützen oder mit ihrem Einkauf die Bio-Lebensmittelproduktion, die Tüftlerinnen und Tüftler, die alternative Energiespeichersysteme entwickeln oder klimaneutrale Materialien, die Klimaforschenden, die Zahlenliebenden, die neue, grünere Finanzprodukte ersinnen, die Hunderttausenden in internationalen oder kleinen örtlichen Umweltorganisationen, die Demonstrierenden – sie alle arbeiten für die gleiche große Sache und kommen sich doch viel zu oft viel zu klein vor.

Wie gern würde ich 2024 einmal ein Riesentreffen dieser vielen sehen und erleben, wie die wirkliche Mehrheit im Lande den Bremsern und Nörglern zeigt, wie Zukunft geht. Man könnte es ja – Tuwas nennen. Oder, noch viel besser: Und jetzt alle.

Fred Grimm

Der Hamburger Fred Grimm schreibt seit 2009 auf der letzten Seite von Schrot&Korn seine Kolumne über die Wege und Umwege hin zu einer besseren Welt. Er freut sich über die rege Resonanz der Leserinnen und Leser und darüber, dass er als Stadtmensch auf ein Auto verzichten kann.

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Kommentare

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Uwe Lindau

Endlich einmal ein positiver Ansatz! Jeder kleine Schritt ist gut und sinnvoll. Unsere Medien sind seit geraumer Zeit nur noch negativ eingestellt. CO2 Ausstoß in China+4%, BEV sind zu teuer, PV Anlagen bringen nichts.... Fazit: wir können sowieso nichts erreichen, also fliegen wir nach Malle und warten darauf,dass die Chinesen anfangen.
Aber die Leser der Schrot&Korn müssen sicherlich nicht besonders motiviert werden und leider steht so ein Artikel nicht einer normalen Tageszeitung und Fr. Slomka ändert auch nicht ihren Interview-Stil.

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