Kolumne

Von der Arroganz der Gegenwart

Über seine Faszination für Künstler aus fernster Vergangenheit schreibt unser Kolumnist Fred Grimm.

Vor ein paar Wochen entdeckte man in einer Höhle auf der indonesischen Insel Sulawesi ein wundersames Kunstwerk. Unbekannte hatten dort aus Händen und Armen ein rhythmisches Wandgemälde komponiert, das jeder modernen Galerie zur Ehre gereichen würde. Spezialisten datierten das Alter der Höhlenmalerei auf 40.000 Jahre. Also noch mal rund 000 Jahre älter als die atemberaubenden Wandmalereien in der Chauvet-Höhle in Südfrankreich. Mich faszinieren diese Künstler aus fernster Vergangenheit. Wie haben sie ihre Welt erlebt? Wie kamen sie auf die Idee, ihre Eindrücke in Bildern festzuhalten? Waren sie uns in ihren Gedanken vielleicht sogar voraus, weil sie mit der Erde und dem Leben ganz anders verbunden waren als wir?

Beim Blick in die Menschheitsgeschichte stellen sich die meisten von uns Abgründe und Rückständiges vor, jedenfalls aus heutiger Sicht. Längst sind wir weiter und weiser als unsere Vorfahren, glauben sie. Hat man wirklich mal Frauen als „Hexen“ verbrannt? Afrikaner wie Stückgut verfrachtet und als Sklaven verkauft? Das Trinkwasser aus den gleichen Flüssen entnommen, in die man die Abwässer leitet? Unfassbar!

Doch je näher wir an unsere Gegenwart rücken, umso deutlicher wird, dass Fortschritt und Idiotie stets nebeneinander existierten. Erst seit 1962 dürfen deutsche Frauen ohne Einwilligung ihres Ehemanns ein Konto eröffnen. Und sogar erst 1997 stimmte eine Bundestagsmehrheit dafür, Vergewaltigung in der Ehe endlich zu bestrafen. Übrigens gegen die Stimmen von Männern wie Friedrich Merz oder Horst Seehofer, die danach noch erstaunliche Karrieren hinlegen durften.

Seit es Menschen gibt, scheinen sie in einer Art Arroganz der Gegenwart befangen. Als wären wir stets schlauer und reflektierter als die Generationen vor uns. Schließlich konnten wir ja aus deren Erfahrungen lernen. Und trotzdem haben wir es uns angewöhnt, die Lösung der großen Menschheitsfragen erst mal zu verschieben. „Bis 2050“ wollen wir in der EU „klimaneutral“ sein. Das ist noch sehr lange hin und hat den Vorteil, dass dann keiner mehr lebt, den man für gebrochene Versprechen zur Rechenschaft ziehen könnte.

Dabei dürfte heute schon klar sein, dass die Menschen des Jahres 2050 genauso verständnislos auf die heutige Zeit zurückblicken werden wie wir auf unsere Vergangenheit: Haben wir wirklich im Jahr 2019 noch massenhaft Kohle verbrannt? Unsere Felder mit Pestiziden vergiftet? Unsere urbanen Lebensräume durch Autos zerstört? Das Kopfschütteln zukünftiger Generationen dürfte uns gewiss sein.

Wären wir also wirklich weiter und weiser als die Menschen, die vor 40.000 Jahren die Höhlenwände bemalt haben, würden wir nicht bis 2050 warten. Ich fürchte, wir sind es nicht – ja, wahrscheinlich können wir nicht mal besser malen als sie.

Fred Grimm



Der Hamburger Fred Grimm schreibt seit 2009 auf der letzten Seite von Schrot&Korn seine Kolumne über gute grüne Vorsätze – und das, was dazwischenkommt. Als Kolumnist sucht er nach dem Schönen im Schlimmen und den besten Wegen hin zu einer besseren Welt. Er freut sich über die rege Resonanz der Leser und darüber, dass er als Stadtmensch auf ein Auto verzichten kann.

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