Auf den Spuren der Nonnen und Mönche des Mittelalters
Was Ordensbrüder und -schwestern bereits vor Jahrhunderten wussten, können wir nun chemisch überprüfen: Vom Lungenkraut bis zur Nachtkerze viele Pflanzen besit-zen ganz spezifische Heilkräfte.Erste Erkenntnisse wurden bereits patentiertund stehen zum Kampf gegen chronische Krankheiten bereit.
Medizinische Grundversorgung aus dem Kloster
Betrachtet man heute ein christliches Kloster, dann kann man nur vage vermuten, wie der Alltag vor Jahrhunderten hinter diesen hohen Klostermauern aussah. Eine Kirche, stattliche Häuser, Ställe und Gärten lassen erahnen, welchen Stellenwert ein Kloster für die Bevölkerung hatte. Besonders auf dem Gebiet der Naturheilkunde besaßen die Klöster einen hohen Wissensstand und sorgten für eine medizinische Grundversorgung der Menschen. Alte Klosterpläne zeugen sogar von Klosterapotheke, Spital, Garten für Arzneikräuter oder Krankenzimmern, so genannten Infirmarien.
Schon im 8. Jahrhundert versuchte der Benediktinerorden einen Grundbestand an medizinischem Wissen zu sichern und praktisch anzuwenden. Eines der ersten komplexeren Werke ist das „Lorscher Arzneibuch“, welches bereits zahlreiche phytotherapeutische Rezepte enthält. Weitere Schriften über Heilkräuter von ‹ ‹ dem Abt von Reichenau oder das Werk des Benediktiners Odo de Meung folgten. Der ideale Garten mit Heilpflanzen wird beschrieben oder gar die Wirkung einzelner Kräuter erklärt. In seinem erstem großen Gartenbuch widmet Walafried Strabo gleich 27 Kapitel dem Aufbau eines Gartens, gefolgt von der Beschreibung verschiedener Heilpflanzen, von Ambrosia über Frauenminze bis zu Wermut.
Die Mönchsärzte aus dem Mittelalter behandelten nicht nur das einfache Volk. Auch Prominente wie Könige und Fürsten vertrauten ihnen ihre Gesundheit an. Unter anderem Notker aus dem Kloster in Sankt Gallen, einem schweizer Benediktinerkloster, das seine Blüte in Wissenschaft, Literatur und Kunst vom 10. bis 11. Jahrhundert erlebte. Dort hatte auch der Mönch Walafried Strabo zahlreiche Bücher über therapeutisch wichtige Pflanzen geschrieben. Die Werke wurden in Versen oder Lehrgedichten verfasst und auch gesungen.
Auf der Hitliste unter den klostermedizinischen Schriften stand das mittelalterliche Werk von Odo de Meung. Sein im 11. Jahrhundert verfasstes Buch, der „Macer floridus seu redivivus“ war überall in Europa verbreitet: In Deutschland, Dänemark, England, Frankreich, Italien und sogar in Spanien existierten Exemplare, betont der Medizinhistoriker Dr. Johannes Gottfried Mayer von der Universität Würzburg. Im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte geriet das alte Kräuterbuch nahezu in Vergessenheit. Doch annähernd 900 Jahre später bemüht sich nun die Arbeitsgruppe der Universität, dessen mittelalterliche Geheimnisse zu lüften und für das 21. Jahrhundert zu nutzen. Die Schwierigkeit liegt dabei nicht bei der Übersetzung aus dem Lateinischen, sondern vielmehr bei der Identifizierung der beschriebenen Pflanzen. Welches Kraut hieß Zauberkraut, und war seine Heilkraft nun in der Rinde, der Wurzel oder in der Blüte verborgen? Hinzu kommt, dass einige Übersetzer zum Teil neue Details in die Texte eingefügt hatten. Den alten Werken die Geheimnisse zu entlocken, ist somit wahre Meisterarbeit für Medizinhistoriker. Haben sie die Pflanze identifiziert, beginnt die Arbeit der Pharmazeuten: Sie müssen die Wirksubstanzen isolieren, aufreinigen und analysieren. Ein erstes Produkt für Neurodermitiker gibt es bereits auf dem Markt. Johannisbeerkernöl ist die Wunderdroge: Mit einem hohen Anteil an Linolensäure hilft es bei juckenden Hautkrankheiten.
Die Forschungstruppe ist sich einig: Alte Heilwerke sind ein wahrer Wissensschatz, von dem wir auch im 21. Jahrhundert noch profitieren können. Auf der Suche nach weiteren mittelalterlichen Heilwerken werden nun systematisch verschiedene Klöster durchforstet. Dabei ist es nicht immer einfach, Originale der Werke zu finden. Als die Klöster die Monopolstellung in der Kräutermedizin besaßen, entstanden im 12. Jahrhundert zeitgleich die ersten medizinischen Uni-versitäten. Die Orden suchten Anschluss an die akademische Medizin und gaben allmählich ihre umfassende medizinische Versorgung in den Klosterspitälern auf. Lediglich die Klosterapotheken blieben bis in das 18. Jahrhundert hinein erhalten. Die ärztliche Grundversorgung für das Volk übernahmen nun die medizinischen Universitäten. Damit verschwand auch das alte Wissen. Lediglich wenige alte Medizinschriften blieben erhalten und wurden im 20. Jahrhundert wieder entdeckt. Zu den wenigen erhalten gebliebenen Heilwerken gehören vor allem die der Äbtissin Hildegard von Bingen (1098-1179). Ganzheitliche
Hildegard-Medizin
Nahezu 900 Jahre später erleben nun die Schriften der Äbtissin ihre Wiedergeburt: Auf den Werken der berühmten Nonne stützend, hat sich die Hildegard-Medizin entwickelt und ist mittlerweile fest in der Naturheilkunde integriert. Der ambitionierte Arzt Dr. Gottfried Hertzka (1913-1997) aus Konstanz passte ihre Werke an das 20. Jahrhundert an und machte sie praxistauglich. Inzwischen wenden eine Reihe von Ärzten und Heilpraktikern diese ausgearbeiteten Rezepte an. Sie basiert auf mehreren Säulen: Edelsteintherapie, Ernährungsvorschriften, Fasten, Phytotherapie und ausleitende Verfahren, wie Aderlass oder Schröpfen. Beispielsweise wird Dinkel als hochwertig, wärmend und fettend beschrieben. Obwohl die Äbtissin in ihren Werken lediglich ganze acht Zeilen dem Dinkel widmete, überfluten die Produkte derzeit ‹ den Markt, von Dinkelkaffee bis zu -brot oder Kochbüchern.
Eigentlich war die heilig gesprochene Hildegard keine Klostermedizinerin: „Während viele Mönche ihr Wissen aus Erfahrungen und Überlieferungen erarbeiteten, bekam Hildegard ihr Wissen durch Gott offenbart“, betont die Ordensschwester Hiltrud Gutjahr aus der Abtei St. Hildegard. Sie war eine der bedeutendsten Frauen des Mittelalters und wuchs nicht nur in einem Benediktinerinnenkloster auf, sondern gründete sogar auf dem Ruppertsberg zu Bingen ihr eigenes Kloster. Bereits in jungen Jahren entdeckte sie ihre seherischen Fähigkeiten und schrieb mit Erlaubnis des Papstes Eugen III. ihr „Prophetisches Schauen“ nieder. Zahlreiche weitere christliche Werke folgten, darunter auch zwei Schriften zur Medizin und Naturkunde. In „Physica“ und „Causae et curae“ finden sich über 200 Kapitel über Edelsteine, Heilpflanzen, Krankheiten und Tiere.
„Fenchel lockere, so sagt man, die Blähung des Magens und fördere lösend alsbald den zaudernden Gang der lange verstopften Verdauung. Ferner vertreibt die Wurzel des Fenchels, vermischt mit Wein, Trank des Leneabus, und so genossen, den keuchenden Husten.“
(Walafried Strabo, im Hortulus um 840)
Die Hildegard-Medizin ist eine christliche Ganzheitstherapie: Sie betrachtet auch Krankheit als Schicksal und als Herausforderung, sich Gott und dem Kosmos zu stellen. Ziel der Therapie ist die kör-perliche, seelische und geistige Heilung in Harmonie mit dem Kosmos. Doch es gibt auch Anhänger, die ihre Methode als sanfte Heilmedizin verstehen. In der Hildegardischen Medizin wird der Patient als Ganzheit aufwändig untersucht. Der gesamte Körper, die Lebensweise, das soziale Umfeld, die seelische und geistige Verfassung spielen eine Rolle. Leib, Seele und Geist müssen im Einklang sein. Überall wo Disharmonie ist, kann Krankheit entstehen. Hildegard-Medizin, die vor allem im süddeutschen Raum verbreitet ist, stellt Krankheitsverhütung, Erhaltung und Aufbau der Vitalkraft in den Vordergrund. Sie will nicht nur Beschwerden beheben, sondern mit Hilfe von sanften Heilmitteln deren Ursache herausfinden und das Leben umbauen, ohne negative Begleiterscheinungen. Dabei trägt der Einzelne selbst die Verantwortung für seine Gesundheit. Als ganzheitliches Naturheilverfahren unterscheidet sich die Hildegard-Medizin von der klassischen Klostermedizin. Dennoch: Zahlreiche Beschreibungen und Wirkungsweisen der Pflanzen werden mittlerweile sowohl pharmazeutisch, als auch in der Praxis bestätigt.
„Die klostermedizinischen Werke sind ein wahrer Schatz für die heutige Phytotherapie“, betont auch der Biochemiker Dr. Ralf Windhaber aus Würzburg. Die Bücher stellen ein festes Fundament in der Therapie mit Pflanzen dar. Aufbauend auf dem überlieferten Wissen kann nun eine neue Ära der pharmazeutischen Klostermedizin eingeleitet werden: TEM heißt das Zauberwort – und bedeutet Traditionelle Europäische Medizin. Was vor wenigen Jahren noch ein Traum war, kann nun wahr werden und ein Fundament für Ärzte und Heilpraktiker in Europa bilden.
Dr. Leyla-Manuela Schmidt
Literaturempfehlungen:
- Johannes Gottfried Mayer, Bernhard Uehleke und Pater Kilian Saum: Handbuch der Klosterheilkunde, ZS-Verlag München 2002, ISBN 3-8988-3016-0.
- Johannes Gottfried Mayer und Konrad Goehl: Höhepunkte der Klostermedizin. Der Macer floridus und das Herbarium des Vitus Auslasser, Reprint-Verlag-Leipzig, Holzminden 2001, ISBN 3-8262-1120-0.
Weitere Infos zu dem Thema finden Sie auch im Internet, zum Beispiel
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