Kolumne

Der Fluch der ehrlichen Preise

Lebensmittel mit den negativsten Auswirkungen auf die Umwelt sind am billigsten. Das ist eine schreiende Ungerechtigkeit, findet unser Kolumnist Fred Grimm.

Man kennt das von Heimspielen aus dem Fußball. Die Hütte ist voll, die Stimmung wohlwollend, da traut man sich schon mal was. Ein Schnörkel mehr beim Dribbling, ein Doppelpass mit der Hacke – selbst wenn es nicht klappt, der Applaus des Heimpublikums ist einem gewiss. Der optimistische Versuch zählt.

Bei der Eröffnungsveranstaltung zur BioFach im Februar, der jährlichen Weltleitmesse für ökologische Lebensmittel in Nürnberg, fühlte ich mich an solche beifallsumtoste Ballkünstler erinnert, als Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir mit goldenen Worten die Öko-Bewegung pries. Bio sei „die Antwort auf die Klima- und Biodiversitätskrise“, erklärte er. „Wer das anders sieht, der sollte zum Optiker gehen.“ Der Bio-Handel sei eine „großartige Erfolgsgeschichte“. Der Grünen-Politiker referierte die wissenschaftlich belegten Vorzüge des Öko-Landbaus, die nur „Schwurbler“ in Abrede stellen könnten. Golden auch die Zukunft – 30 Prozent Bio-Anteil in der Landwirtschaft habe sich die Bundesregierung bis zum Jahr 2030 als Ziel gesetzt und der Minister lobte sich dafür, als hätte sie 300 Prozent versprochen.

30 Prozent Bio also, eine Verdreifachung des heutigen Flächenanteils. Auf den ersten Blick klingt das nach viel. Und auch wenn Özdemirs Ministerium zur Umsetzung bislang wenig Konkretes vorgelegt hat, ist es immerhin ein Ziel. Auf den zweiten Blick allerdings heißt das: Auch 2030 sollen noch immer siebzig Prozent der Flächen nach den zerstörerischen Prinzipien der Agrarindustrie bewirtschaftet werden dürfen.

„30 Prozent Bio. Auf den ersten Blick klingt das viel.“

Aus der Notfallmedizin kenne ich das Prinzip, im Falle des Falles erst einmal die Blutung zu stoppen. Übertragen auf die Landwirtschaft wären das ihr massiver Anteil an der Klimakrise, die unerträgliche Unmoral und Brutalität in der Massentierhaltung, die man nicht mit „Tierwohl“-Label überwindet, sondern durch Verbote. Dazu die Pestizidvergiftung, nitratverseuchtes Wasser, die Naturverödung undundund.

Ein Programm, das mehr Bio proklamiert, ohne zugleich den Ausstieg aus der heutigen Form der Landwirtschaft und unseres Ernährungssystems anzugehen – also die Blutung stoppt –, drückt sich um den grundsätzlichen Konflikt herum. Der „Markt“ wird das nicht korrigieren. Derzeit sind die Lebensmittelprodukte mit den negativsten Auswirkungen auf die Umwelt zugleich auch die billigsten, weil die Allgemeinheit noch immer klaglos für die wachsenden Folgekosten aufkommt. Bio-Lebensmittel sind schlicht nur deshalb teurer, weil dafür ein ehrlicherer Preis gezahlt werden muss, eine schreiende Ungerechtigkeit.

In seiner feurigen Rede hatte Cem Özdemir ermahnt, man müsse auch „an die Ernten in zehn, zwanzig, fünfzig Jahren denken“. Die seien „nicht mehr selbstverständlich, wenn man nur an die kurzfristigen Erträge denke“. Auch das ein schönes Dribbling. Doch mal ein echtes Tor gegen die Agrarindustrie wäre mir lieber gewesen.

Fred Grimm

Der Hamburger Fred Grimm schreibt seit 2009 auf der letzten Seite von Schrot&Korn seine Kolumne über die Wege und Umwege hin zu einer besseren Welt. Er freut sich über die rege Resonanz der Leserinnen und Leser und darüber, dass er als Stadtmensch auf ein Auto verzichten kann.

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