Essen

Harald Lemke: „Politik mit Genuss!“

Kaum etwas ist so politisch wie unsere tägliche Ernährung, findet der Philosoph Harald Lemke - und fordert eine Revolution bei Tisch. Allerdings eine genussvolle.

Ihre These lautet: Unsere Esskultur braucht eine „gastrosophische Revolution“. Bevor wir zur Revolution kommen – was ist denn Gastrosophie?

Das ist die Lehre von der Weisheit des Essens. Als Gastrosoph möchte ich Sie mit einem philosophischen Gefühl dafür ausstatten, dass Ihr Essen keine Privatangelegenheit ist, sondern ein politischer Akt.

Inwiefern ist Essen etwas Politisches?

Wer isst, schlägt sich nicht bloß den Bauch voll, er stellt vielerlei Weltbezüge her: Landeigentum, Klimawandel, Gentechnik, Tierethik, Alltagskultur, Gesundheit. Die Gastrosophie führt all diese Felder auf ihre gemeinsame Quelle zurück: das tägliche Essen.

Zur Person Harald Lemke

Harald Lemke hat in Konstanz, Hamburg und Berkeley Philosophie und Geschichte studiert. Er promovierte 1999 und habilitierte 2006. Der 49-Jährige lehrt an den Universitäten Hamburg und Salzburg Philosophie und ist Gastprofessor in Kyoto und Shanghai. Lemke lebt in Hamburg, wo er bei der „Keimzelle“ mitmacht, einer Initiative, die im Karoviertel in St. Pauli das soziale Gärtnern für alle zum Ziel hat (Foto rechts bei einer Veranstaltung der Organisation). Harald Lemke sagt: „Wer ethisch gut leben will, wird dafür auch gut essen müssen – zum Glück keine sonderlich unangenehme Aufgabe.“ www.gastrosophie.net

Darf ich es mir auch einfach schmecken lassen?

Auch das! Es geht um das Kochen als eine Lebenskunst. Sobald Sie darüber sinnieren, ob Sie den Gästen vegane Entenbrust servieren oder lieber Lachsfilet auf mit Algen umwickeltem Tofu, sautiert in Orangenpfeffersaft – sobald Sie über solche Dinge ins Philosophieren kommen, sind Sie Gastrosoph.

Das klingt, als müsste ich dazu auf Fleisch verzichten.

Viele Probleme entstehen aus unserer fantasiearmen Fleischküche: das Leid der Tiere in den Fleischfabriken, die Zerstörung der Regenwälder für den Anbau von Futterpflanzen, die prekären Arbeitsbedingungen in Schlachthöfen, die Skandale in der Fleischindustrie, die Gesundheitsschäden durch zu viel Wurst- und Fleischkonsum.

Müssen wir denn alle Veganer werden?

Veganer sind mir oft etwas zu dogmatisch; die Gastrosophie verbindet die Politik mit dem Genuss. Entscheidend ist nicht moralischer Rigorismus, sondern die Verbindung von Ästhetik und Ethik, das sinnlich-sittliche Zusammenspiel von gutem Geschmack und gutem Gewissen.

Kann sich der Gastrosoph mit einem Hamburger in der Hand sehen lassen?

Ich esse auch mal Fleisch oder Fast Food. Aber ich hoffe, dass jene kulinarische Tradition, die stumpf auf Fleisch setzt, langsam abstirbt. Nur so können wir die Menschheit in ihrer kulturellen Entwicklung voranbringen.

Wie soll sie gelingen, die Revolution unserer Esskultur?

Mit kulinarischer Neugier! Gastrosophische Forschungsfragen wären etwa: Was wird aus Knollensellerie, wenn man ihn vakuumiert oder bei Niedrigtemperatur gart? Was müssen wir mit Hirtentäschel und Giersch anstellen, um die Welt zu verändern? Wer mit Artischocke oder Süßdolde umzugehen weiß, braucht keine Kalbsknochen, um Kraft in einen Fond zu bekommen.

„Was ist schon Fleisch? Eine kulinarische Konstruktion.“

Harald Lemke

Ist Fleischessen eine schlechte Angewohnheit wie das Rauchen?

Was ist schon Fleisch? Eine kulinarische Konstruktion. Wir brauchen, um diese Lust beim Essen zu erfahren, kein Tier zu töten. Zumal wenn die Menschheit dadurch ein planetares Problem verursacht. Aber das Wunderbare ist: Wir können etwa von den Weisheiten der alt-asiatischen Küche lernen ...

In Zukunft also Tofu-Würstchen?

Es hat etwas Despektierliches, Tofu und Seitan zu schmähen, daraus spricht eine ideengeschichtliche Ignoranz gegenüber Hochkulturen, die sich über Jahrhunderte fleischlos ernähren – und sehr raffiniert übrigens. Fleisch? Braucht kein Mensch.

Woher rührt der ausgeprägte Fleischhunger unserer Kultur?

Je dicker das Steak, desto wichtiger der Esser – das ist die Tradition, in der wir stehen. Uns wurde eingeredet, dass Fleischkonsum bedeutsam ist, weil er einst ein aristokratisches Privileg war. Das Rindersteak ist Relikt einer Herrschaftssymbolik.

Wie viel Tier können wir denn guten Gewissens essen?

Deutsche essen 60 Kilogramm Fleisch pro Jahr. Das jedenfalls ist kein vernünftiges Maß. Wir können Tiere durchaus als Nahrungsergänzung nutzen. Ihre Haltung ist aber nur auf Flächen sinnvoll, wo entweder kein Nutzpflanzenanbau möglich ist oder Tierhaltung zur Landschaftsgestaltung dient. Wahrscheinlich wird dann ein vernünftiges Maß bei weniger als einer Fleischration pro Woche liegen.

Das heißt, Fleisch wird ein Stück Luxus.

Ja. War es ja die längste Zeit der Geschichte. Früher gab es keine Massentierhaltung, und wir sollten sie unbedingt wieder abschaffen. Fleisch ist eben ein an sich teures Produkt. Zurück also zum Sonntagsbraten.

Jetzt sind Sie aber bei nicht einem Veggie Day pro Woche, sondern bei deren sechs. Ist das realistisch?

Ja, weil unsere Ressourcen für den weltverschleißenden Konsum nicht reichen. Fleisch wird zur Nebensache.

Das Kilo Hühnerbrust vom Öko-Hof hat mit 25 Euro aber seinen Preis ...

Halt! Die Ausgaben für Lebensmittel sinken in reichen Ländern seit Jahrzehnten. Nie wurde so wenig Geld für eine der wertvollsten Quellen unserer Lebensqualität ausgegeben. Die meisten zahlen lieber mehr für Motoröl als für das Salatöl, das sie sich selbst einverleiben. Je billiger das Essen, desto mehr Geld für anderen Konsum – das ist unser Wertesystem.

Welche Rolle spielt dabei der einzelne Konsument?

Wir entscheiden. Die Käuferklasse ist sehr mächtig. Wir sind viele, und wir bestimmen über Erfolg oder Misserfolg von Produkten, Firmen, ganzen Branchen. Die Macht unserer Kaufentscheidungen ist wirksamer, als wählen zu gehen. Beim Einkaufen entscheiden wir, welche Wirtschaft wir wollen.

Wie weit sind wir von der „gastrosophischen Revolution“ noch entfernt?

Man sieht, wie in wenigen Jahrzehnten jene gesellschaftlichen Kräfte gewachsen sind, denen die Zukunft eines ethisch guten Essens nicht als Utopie erscheint. Es entwickelt sich eine blühende Alternativkultur. Da tut sich viel!

Welche gesellschaftlichen Kräfte meinen Sie?

Etwa die Slow-Food-Bewegung. Öko, Bio, FairTrade. Oder Selbsternte-Angebote, Bio-Kisten, Mitkochzentralen, solidarische Landwirtschaft, Urban Gardening. Getragen von Menschen, die sich der gastrosophischen Revolution verpflichtet fühlen.

Quelle: GEO 3/2015

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