Am 24. März 2020 ordnete der indische Premierminister Narendra Modi für sein Land eine Ausgangssperre an. Mit einer Vorwarnzeit von nur wenigen Stunden. Mit dramatischen Auswirkungen. „Wir mussten mit dem Lockdown unsere Förderschule schließen“, erzählte Karthik Ganesan, der im südindischen Tamil Nadu Sristi Village eine Einrichtung für behinderte Menschen leitet. „Doch einige Kinder aus dem Nachbardorf kamen trotzdem.“ Den Grund erfuhr der 38-jährige Psychologe schnell: Es war das Schulessen. „Die Eltern wollten, dass wenigstens ihre Kinder eine warme Mahlzeit am Tag bekamen – und sie wussten, dass wir sie nicht hungrig heimschicken würden.“
Die Eltern waren Tagelöhner, Schneider oder Bauarbeiter. Sie alle hatten von einem Tag auf den anderen ihre Arbeit verloren und damit auch kein Geld mehr. „Diese Menschen leben von der Hand in den Mund, die haben keine großen Ersparnisse“, erklärte Karthik bei einem Skype-Gespräch im April. Noch schlimmer dran seien die arbeitslosen Wanderarbeiter, die versuchten, sich über Hunderte Kilometer in ihre Heimatdörfer durchzuschlagen. „Sie campieren am Straßenrand, haben nichts mehr zu essen, es ist eine Schande!“
Kontakt nach Indien
Unser Autor Leo Frühschütz unterstützt mit seinem Verein Kinderlachen ein Heim für behinderte Kinder und Waisen in Indien. Seit Jahren ist er mit Karthik Ganesan befreundet, mit dem er während der Pandemie mehrfach via Skype telefonierte.
Diese wirtschaftlichen und sozialen Folgen hat die Pandemie in Entwicklungsländern
Die Situation in Indien ist kein Einzelfall. In vielen Entwicklungs- und Schwellenländern haben die Regierungen mit Maßnahmen – oft weit drastischer als die deutschen Kontaktbeschränkungen – versucht, die Pandemie einzudämmen und dabei womöglich mehr Schaden gestiftet als das Virus. „Es besteht die große Gefahr, dass vor allem in Afrika viel mehr Menschen an den weitreichenderen wirtschaftlichen und sozialen Folgen von Covid-19 als am Virus selbst sterben werden“, warnte im September David Beasley, Exekutivdirektor des UN-Welternährungsprogramms, vor dem UNO-Sicherheitsrat.
Weltweit arbeiten etwa zwei Milliarden Menschen im informellen Sektor ohne richtigen Arbeitsvertrag, etwa als Landarbeiter, Taxifahrer, Lastenträger, Dienstmädchen. Das heißt, sie alle haben keinerlei soziale Absicherung, geringe Löhne, kaum Ersparnisse und auch keine volle Speisekammer. „Wenn ihnen ein Tageslohn fehlt, dann fehlt ihnen an dem Tag auch das Geld für Essen und ihre Kinder leiden“, beschreibt das David Beasley.
Darum leiden gerade Menschen mit niedrigem Einkommen
Zwar hat sich die Situation dort, wo ein Lockdown aufgehoben oder zumindest gelockert wurde, etwas gebessert. Doch ist in vielen Ländern – wie in Deutschland auch – die Wirtschaft durch die Pandemie massiv eingebrochen. Die internationale Arbeitsorganisation ILO schätzt, dass in der ersten Hälfte des Jahres weltweit fast 500 Millionen Vollzeitstellen verloren gingen. Besonders betroffen seien die Länder mit niedrigen bis mittleren Einkommen, heißt es im aktuellen Bericht der ILO. Dort sei fast ein Viertel aller Jobs weggefallen. Arbeitslos wurden nicht nur Menschen im informellen Sektor, sondern auch solche mit ordentlicher Festanstellung, etwa in der Textilindustrie oder im Tourismus. Bessern wird sich die Lage aus Sicht der ILO nur sehr langsam. Denn noch gelten in vielen Ländern Einschränkungen für bestimmte Tätigkeitsbereiche.
Mit der weltweiten Wirtschaftskrise brachen auch die Auslandsüberweisungen ein. Zahllose Familien in armen Ländern leben von dem, was ihnen Angehörige schicken, die im Ausland arbeiten: auf dem Bau in Dubai, als Spüler in Deutschland oder als Andenkenverkäufer in Venedig. Wenn sie nichts verdienen, sitzt auch ihre Familie auf dem Trockenen. „Für zahlreiche Länder sind diese Auslandsüberweisungen wichtiger als Entwicklungshilfe oder Investitionen“, erklärt Philipp Mimkes, Geschäftsführer der internationalen Menschenrechtsorganisation FIAN in Deutschland. „Dieses Geld kommt direkt bei den Menschen an, das merkt man sofort, wenn da etwas fehlt.“ Die Weltbank schätze, dass diese Überweisungen um 20 Prozent zurückgegangen seien, sagt Mimkes.
Wie wir helfen können
Alle Organisationen, die sich für Menschenrechte und gegen Hunger engagieren, freuen sich über aktive Mitarbeit und über Spenden: Oxfam, FIAN, Inkota, Brot für die Welt, Misereor, Welthungerhilfe. Auch viele andere Organisationen, die vor Ort helfen, von Ärzte ohne Grenzen bis zur Zukunftsstiftung Entwicklung, sind auf Spenden angewiesen.
Eine Orientierung im Sammeldschungel bietet das Deutsche Zentralinstitut für Soziale Fragen mit seinem DZI Spenden-Siegel für vertrauenswürdige Organisationen. Vom DZI gibt es auch eine Spenden-Info mit vielen Adressen.
Für Lebensmittel und andere Produkte aus Fairem Handel erhalten die Erzeuger einen fairen Preis, den sie gerade jetzt dringend brauchen. Achten Sie beim Einkauf auf die einschlägigen Siegel.
Nur wer Bescheid weiß, kann helfen: Also erzählen Sie, reden Sie darüber, teilen Sie Artikel, Videos und andere Informationen, die aufrütteln.
Warum Schulessen so wichtig ist
In vielen Schulen gibt es – wie im südindischen Sristi Village – Mittagessen für die Kinder und oft ist es verbilligt oder kostet die Eltern gar nichts. Durch die Schulschließungen im Rahmen des Lockdowns sei weltweit das Schulessen für rund 320 Millionen Kinder weggefallen, meldete das UN-Kinderhilfswerk Unicef im Juli. Längst nicht überall sind die Schulen wieder offen. Die UN-Bildungsorganisation Unesco gab an, dass Ende September fast in ganz Süd- und Mittelamerika, in Vorderasien und Teilen Afrikas die Schulen immer noch geschlossen hatten. In Indien begannen die ersten Bundesstaaten im Oktober wieder mit dem Schulbetrieb.
Wie durch Corona die Hungersnöte weltweit steigen
Nun ist es nicht so, dass es vor Corona keinen Hunger in der Welt gab, im Gegenteil. Die Welternährungsorganisation FAO schätzte für 2018, dass zwei Milliarden Menschen von Nahrungsmittelunsicherheit betroffen sind, also keinen verlässlichen Zugang zu Nahrung haben. Mit 820 Millionen gab die FAO die Zahl der Menschen an, die weltweit chronisch unterernährt sind. Von ihnen litten 150 Millionen unter extremem Hunger. Das bedeutet, sie haben so wenig zu essen, dass sie dauerhafte körperliche Schäden erleiden oder an Hunger sterben. Auf all dieses Leid kommen jetzt die Corona-Folgen oben drauf. David Beasley vom Welternährungsprogramm schätzt, dass die Zahl der 150 Millionen akut Hungernden bis Jahresende auf 270 Millionen ansteigen wird. „Diese 270 Millionen Menschen, die in Richtung Hungertod marschieren, brauchen unsere Hilfe jetzt mehr denn je“, mahnt Beasley.
Besonders dramatisch ist die Lage in Regionen, die schon zuvor durch Kriege oder Dürren infolge des Klimawandels betroffen waren. „Das schlimmste humanitäre Desaster“ sieht Beasley im vom Bürgerkrieg zerstörten Jemen, wo 20 Millionen Menschen der Hungertod droht. Im Südsudan rechnet er damit, „dass durch Ausbrüche des Virus in städtischen Gebieten wie Juba weitere 1,6 Millionen Menschen zu verhungern drohen. Der Norden Nigerias, Burkina Faso und der Kongo sind weitere Brennpunkte des Hungers. Aber auch in Mittel- und Lateinamerika sowie Vorderasien hungern zahllose Menschen. In Flüchtlingslagern in Syrien und anderswo sind Millionen Flüchtlinge schon jetzt von humanitärer Hilfe abhängig und können sich kaum vor dem Coronavirus
schützen. Distanz wahren und Hygieneempfehlungen einhalten ist in den überfüllten Lagern nicht möglich. „Viele Menschen stehen vor der Entscheidung: Trinke ich das wenige Wasser, was mir zur Verfügung steht, oder wasche ich mir damit die Hände?“, beschreibt Konstantin Witschel, Programmkoordinator bei Brot für die Welt, das Dilemma. Auch Millionen Menschen in den Slums von Großstädten oder in dürregeplagten Ländern müssen sich diese Frage täglich stellen.
Konzerne
Während sich die Pandemie und mit ihr der Hunger ausbreitete, schütteten laut Oxfam die acht größten Nahrungsmittel- und Getränkeunternehmen seit Januar ihren Aktionären über 18 Milliarden Dollar aus.
Warum Bio-Landbau gut bei der Bekämpfung von Armut und Hunger ist
Die Lebensmittelhilfe, wie sie das Welternährungsprogramm oder Brot für die Welt leisten, kann kurzfristig das Schlimmste verhindern. Langfristig müssten krisenfeste agrarökologische Ernährungssysteme aufgebaut werden, heißt es in einem Bericht internationaler Agrar- und Ernährungsexperten (IPES Food). Sie warnen davor, nach der Krise weiterzumachen wie gehabt. „Industrielle Lebensmittelsysteme werden neu als die Lösung präsentiert, trotz ihrer Rolle als treibende Kräfte von Armut und Unsicherheit, beim Klimawandel und bei der Zerstörung von Ökosystemen“, heißt es im IPES-Bericht. Dieser beschreibt die Vorteile der Agrarökologie, die auch den Öko-Landbau umfasst, so: Die Landwirte sind weniger von importierten Düngern und Pestiziden abhängig. Die kurzen Versorgungsketten sind weniger krisenanfällig, sie stärken die Landwirte und lokale Gemeinschaften. Pflanzen und Tiere, die regional von Landwirten gezüchtet werden, sind besser angepasst und weniger krankheitsanfällig.
Die Krise habe gezeigt, dass die Regierungen darauf angewiesen sind, dass die Zivilgesellschaft ihre Maßnahmen auch unterstützt, schreiben die Experten: „Insbesondere dörfliche Organisationen, Bauerngruppen und Kooperativen haben sich als wirksame Puffer gegen Krisenauswirkungen erwiesen.“ Ein solcher Puffer war auch Karthik. Mit seiner Organisation Sristi Foundation begann er, die Eltern seiner Schulkinder mit dem Lebensnotwendigsten zu versorgen: Nahrung, Desinfektionsmittel, Schutzmasken. Wöchentliche Rettungspakete im Wert von 12 Euro. Das Geld dafür sammelte er über einen Mail-Aufruf an indische und internationale Freunde. „Die Resonanz war überwältigend“, erzählte er später im Juni. „Wir konnten auch noch vielen Wanderarbeitern helfen.“
Zum Weiterklicken:
- Das UN-Welternährungsprogramm ist 2020 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet worden.
- So lässt sich die Welt ernähren: Weltagrarbericht
- Zahlen und Karten zu Hungerkrisen weltweit: IPC Global Platform, Global Hunger Index
Zum Weiterlesen:
- Gerten, Dieter: Wasser – Knappheit, Klimawandel, Welternährung. C.H. Beck, 2019, 207 Seiten, 14,95 €
- Specker, Manuela: Wege aus der Ernährungskrise – Almanach Entwicklungspolitik 2021. Caritas-Verlag, 2020, 260 Seiten, 34,99 €
- zu Löwenstein, Felix: Food Crash – Wir werden uns ökologisch ernähren oder gar nicht mehr. Knaur Taschenbuch, 2017, 352 Seiten, 9,99 €
Kommentare
Registrieren oder einloggen, um zu kommentieren.