Essen

Achtsam essen

Essen nach Plan oder nach Intuition? Ein Plädoyer für achtsames Essen – mit Bauchgefühl, Herz und Verstand. // Anke von Platen

Essen nach Plan oder nach Intuition? Ein Plädoyer für achtsames Essen – mit Bauchgefühl, Herz und Verstand. // Anke von Platen

J ede Woche erreichen uns neue Ernährungsempfehlungen – für mehr Gesundheit, weniger Übergewicht oder um Krebs vorzubeugen. Eigentlich, so könnten wir schlussfolgern, müssten ernährungsbedingte Gesundheitsprobleme wie Diabetes oder Adipositas bei so viel Wissen abnehmen. Doch das Gegenteil ist der Fall. Nicht nur körperlich ist die Situation für viele unbefriedigend. Die meisten, das heißt 85 Prozent der Menschen, sind unzufrieden mit ihren Ernährungsgewohnheiten. Sie sind verwirrt und unsicher, was sie überhaupt essen sollen. Die Suche nach der richtigen Ernährung ist zumeist rational und verkopft, das Vertrauen auf das eigene Körpergefühl scheint dabei immer mehr verloren zu gehen.

Fragen rund ums Essen

Sind nun drei Mahlzeiten am Tag besser als fünf? Abends Kohlenhydrate oder besser nicht? Was ist die richtige Ernährung für mich? Und wie soll ich sie im Alltag umsetzen? Das sind einige typische Fragen rund ums Essen. Überprüfen wir unsere Vorstellungen von gesunder Ernährung – welche Bilder haben wir? Viel Salat, Gemüse, Vollkornprodukte, Kalorienzählen, vielleicht sind auch Bilder von Verzicht oder Müssen dabei. Wir teilen Lebensmittel schnell in gut oder schlecht ein und ignorieren die Bedürfnisse des Körpers und unser Bauchgefühl.

Dadurch entstehen Spannungen, die sich zum Beispiel in Heißhungerattacken ausdrücken. Der Appetit auf eine Portion Pommes wird unterdrückt: „Pommes sind schlecht – viel zu fettig“, sagt der Kopf. Stattdessen nehmen wir den Salat: „Salat ist gut und gesund“. Doch der Appetit auf etwas Salziges und Fettiges ist immer noch da – und so plündern wir dann später doch noch eine ganze Tüte Chips.

Stellt sich die Frage: Wollen wir ein Leben lang Kalorien und Nährwerte zählen oder uns von jeder neuen Diät verrückt machen lassen? Die Mehrheit möchte dies wohl nicht. Deshalb: Sprechen wir nicht mehr über Ernährung. Sprechen wir über Essen, das, was wir täglich tun. Sprechen wir über einen Ansatz, der eine Lösung für mehr Zufriedenheit, Genuss und eine neue Qualität des Essens und des Lebens darstellt: achtsam essen.

Das Thema Achtsamkeit ist nicht neu. Es entstammt ursprünglich dem Buddhismus und wird seit 2500 Jahren praktiziert. Jon Kabat-Zinn aus den USA, ursprünglich ein Molekularbiologe, entwickelte ein auf Achtsamkeit basiertes Stressmanagement-Programm. Seine Definition: „Achtsamkeit bedeutet aufmerksam zu sein: bewusst, im gegenwärtigen Augenblick und ohne zu urteilen … Achtsamkeit ist die Kunst, bewusst zu leben … Achtsamkeit bedeutet, den Autopiloten im Alltag auszuschalten.“

Die Kunst, bewusst zu essen und zu leben

Achtsames Essen ist demnach eine spezielle Art der Aufmerksamkeit und des bewussten Essens. Es hat weder mit Kalorienzählen noch mit Kontrolle des Essens zu tun. Vielmehr geht es darum, sich selbst beim Essen zu beobachten, wahrzunehmen, ohne zu urteilen. Es geht um das WIE des Essens. Folgende Fragen helfen dabei:

  • Wann esse ich?
  • Warum esse ich?
  • Was tut mir gut beim Essen, was nährt mich?,
  • Wie und wo merke ich Hunger?
  • Wie sieht mein Essen aus, welche Konsistenz hat es und wie schmeckt es wirklich?
  • Wie und wo merke ich, dass ich satt bin?
  • Wo bin ich mit meinen Gedanken und Gefühlen, wenn ich esse?

Vertrauen lernen, Experte werden

Achtsames Essen möchte uns unterstützen, auf unsere Körpersignale zu vertrauen und das natürliche Gefühl für Hunger und Sättigung zurückzuerlangen. So können wir zum eigenen Experten für unsere Ernährung werden. Und wir lernen, für uns Verantwortung zu übernehmen, uns zu vertrauen. Denn Vertrauen – das ist es wohl, an was es uns derzeit mangelt, sagt der Soziologe Gunther Hirschfelder, spezialisiert auf die Themen Esskultur und Soziologie des Essens: „Wir haben eine Vertrauenskrise! Wir vertrauen uns selbst nicht mehr und delegieren beim Essen die Verantwortung“ – in Werbung, Experten, Wissenschaft, statt unserem Bauchgefühl und Geschmack zu vertrauen.

Warum essen wir wie viel? Jeder kennt Situationen, bei denen es lohnt einmal genau in sich hineinzuhören. Zum Beispiel: Lieblingsgerichte. Wir freuen uns auf die Mahlzeit, sie steht vor uns auf dem Teller, herrlich! Doch eh wir uns versehen, ist der Teller leer und eine halbe Stunde später merken wir, dass wir zu viel gegessen haben. Oder: Fernsehabend mit Freunden. Gummibärchen und Chips liegen bereit. Wie gewohnt greifen wir zu den Chips, köstlich salzig, knusprig, fettig. Doch halt! Wir lassen einen Chip länger im Mund. Wie schmeckt er wirklich? Oder: Kantine – Mittagspause mit Kollegen. Aus Gruppengefühl gehen wir zusammen essen, obwohl das Essen nicht sonderlich schmeckt. Beim Anblick der Auswahl nehmen wir das kleinste Übel: ein paar Spätzle mit etwas Gemüse. Schon beim Essen merken wir, dass das Gericht uns weder von den Nährwerten satt noch emotional zufriedener macht. Wir essen nur so viel, dass wir nicht mehr hungrig sind.

Die Beispiele zeigen, dass es beim Essen um mehr als Nährstoffaufnahme und satt werden geht. Denn warum sonst essen wir weiter, wenn der Magen schon weh tut, weil er voll ist? Oder warum essen wir nach einem stressigen Tag, obwohl wir gar nicht hungrig sind?

Aus der Sicht des achtsamen Essens sehen wir hier zwei unterschiedliche Hungerarten, die Jan Chozen Bays sehr gut beschrieben hat. Neben dem Magenhunger gibt es zum Beispiel den Augen-, Mund- oder auch den Herzhunger (siehe Tabelle oben). Diesen können wir mit dem Belohnungszentrum in Verbindung bringen. Das ist kein körperlicher, sondern ein emotionaler Hunger. Bleibt die Frage, wann wir satt sind, wenn wir versuchen, mit Essen unsere Emotionen zu sättigen. Im Alltag können wir beim nächsten hedonistischen Essen einmal in uns hineinhören: Auf was haben wir wirklich gerade Hunger? Und was passiert, wenn wir unsere Lieblingsspeise essen oder stattdessen zum Beispiel einen guten Freund anrufen?

Achtsamkeit umsetzen, zur Ruhe kommen

Achtsamkeit bei den Mahlzeiten lässt sich bereits mit kleinen Schritten umsetzen. Dabei müssen wir nicht jede Mahlzeit schweigend und sehr langsam einnehmen. Nein, es darf einfach sein – was aber nicht bedeutet, dass es leicht ist:

  • Eine Mahlzeit mit einem achtsamen Bissen anfangen.
  • Beim Essen einen Gang herunter schalten, mehrmals kauen, das Essen gut einspeicheln.
  • Nach ein paar Bissen das Besteck ablegen.
  • Nach der Hälfte der Mahlzeit in sich hineinhören: Bin ich noch hungrig?
  • Bewusst einmal nicht aufessen.
  • In der Kantinenrunde der Langsamste beim Essen sein.
  • Sich das Essen bewusst anschauen: Welche Farben nehme ich wahr?

Mit achtsam essen ist uns eine einfache Möglichkeit gegeben, im hektischen Alltag zu stoppen, langsamer zu werden, in uns hineinzuhorchen. Der Kopf wird klarer, die Nerven können sich beruhigen. Dadurch entspannt sich das gesamte Verdauungssystem. Ein weiterer Effekt ist die Erhöhung der Wertschätzung des Essens und der Selbstwertschätzung allgemein. Wir erlauben uns damit, zumindest für ein paar Momente zur Ruhe zu kommen, aus dem Hamsterrad auszusteigen. Das ist auch ein guter Anfang für mehr Ruhe insgesamt.

Hungerart

Beispiele

Wird gestillt durch

Augenhunger

Dieses Dessert sieht so gut aus, das passt noch rein

Schönheit

Nasenhunger

Der Duft von frischem Kuchen

Gerüche, Duft

Mundhunger

Der zarte Schmelz der Schokolade oder der Geschmack von feurigen Chips im Mund

Empfindungen, Konsistenz

Magenhunger

Knurrender Magen

Richtige Menge und Art der Nahrung

Zellhunger

Das starke Verlangen von Ausdauersportlern nach Kohlenhydraten

Nährstoffe, Flüssigkeit, Vitamine, Mineralien

Geisthunger

Die Suche nach der neuesten Diät

Abwechslung von Informationen und Ruhe

Herzhunger

Trostessen, Frustessen, Belohnungsessen

Nähe

Darstellung in Anlehnung an Bays 2009

Warum esse ich gerade wirklich?

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