Totem ohne Tabu
Ein Totempfahl mitten in Bayern: Symbol für den Übergang in die Todeszone. Zwei hohe Säulen, gestaltet von der Künstlerin Aneli Jungesblut. Ganz oben die Skelette von zwei Kuhköpfen. „Wir möchten es nicht verstecken“, sagt Tom Reiter, einer der beiden Gründer und Geschäftsführer von Chiemgauer Naturfleisch. „Es“ – das ist das Schlachthaus dort hinten, eines von drei Gebäuden am Ortsrand des Städtchens Trostberg im Chiemgau.
Die Kontrolle über den Produktionsprozess, von der Stalltür bis zur fertigen Wurst, ist wesentlicher Bestandteil der Firmenphilosophie. Von Anfang an standen Kooperationen im Mittelpunkt: langfristige Abnahmeverträge mit 100 Bio-Bauern aus der Region, aber auch die langjährige Zusammenarbeit mit der Metzgerei Magg, einer Firma mit traditionell-handwerklichem Qualitätsverständnis. Die Metzgerei hatte, lange vor der Bio-Bewegung, dieselben Prinzipien: den Bauern in den Futtertrog schauen, selber schlachten, auf Zusatzstoffe verzichten und das Fleisch noch warm zu Wurst verarbeiten.
Ohne bewusst darüber nachzudenken, hatte ich gehofft, dass wir den Ort des Todes nicht besichtigen würden. Nun also doch das Schlachthaus, Gott sei Dank ohne Tiere, hier wird nur zweimal in der Woche gearbeitet: ein steriler, kalter Komplex aus Metall und Beton. Aber da sind auch die beiden großen Wandbilder, der Höhlenmalerei nachempfunden, Jagdszenen als Sinnbild für den Kreislauf des Lebens.
Gregor Magg, Geschäftsführer der Chiemgauer Schlachthaus GmbH und als Metzger langjähriger Kooperationspartner der Chiemgauer, lässt kein Detail aus. Wie die Tiere zunächst in Gruppen zusammenstehen, so ähnlich wie im Heimatstall. Wie sie dann, dem Herdentrieb folgend, gemeinsam den Gang entlanglaufen. Wie die elektrische Betäubung so funktioniert, dass weder zu viel noch zu wenig Strom fließt.
„Der beste Mann steht hier.“ Gregor Magg deutet auf den Punkt, wo der tödliche Schnitt mit dem Messer erfolgt. Denn Technik allein genügt nicht, auf den Menschen kommt es an. Darauf, dass er sich einfühlen kann in die Tiere, dass er den unvermeidbaren Stress nicht noch erhöht, dass er ein Gespür dafür hat, wenn das Schlachttempo zu hoch wird. Das ist das schönste Kompliment für Gregor Magg: Wenn er Besuch von einem Metzger hat und der sich bei der Schweineschlachtung wundert: „Das ist ja total ruhig hier.“
„Wenn die Bauern nicht mitgemacht hätten, wäre das Schlachthaus nicht möglich gewesen“, sagt Richard Müller, Geschäftsführer und treibende Kraft bei der Gründung von Chiemgauer Naturfleisch. Da sich die EU-Vorschriften Mitte der 90er Jahre für größere Betriebe deutlich verschärften, musste die bisherige Hausschlachtung vorübergehend eingestellt werden. Der Kraftakt für ein EU-konformes Schlachthaus konnte nur gelingen, wenn die Chiemgauer und Magg auch noch die Landwirte ins Boot holten, die das Gemeinschaftsunternehmen mit Darlehen unterstützten.
Biobauern schätzen langfristige Verlässlichkeit
Kurzer Abstecher zu Demeter-Bauer Franz Obermeyer. Seine Familie bewirtschaftet seit 1739 den Hof in Tengling, rund 10 Kilometer von Trostberg entfernt. Weil er gerade telefoniert, schauen wir uns schon mal den offenen Laufstall an, wo die Milchkühe neugierig herantrotten. 1991 übernahm Obermeyer den Betrieb vom Vater und stellte ihn auf biologisch-dynamische Landwirtschaft um. Früher waren die Tiere angebunden, aber der Stall-Umbau ist nicht nur eine Frage der tiergerechten Haltung, sondern auch wirtschaftliches Risiko.
„Wir Bauern müssen langfristig planen“, antwortet Obermeyer auf die Frage, warum er seit zehn Jahren Vertragspartner der Chiemgauer ist. Er ist froh, sich so entschieden zu haben. Denn seiner Frau und ihm ist es keineswegs egal, was mit ihren Tieren passiert, wenn sie zur Vermarktung den Hof verlassen. Dass der Transport nur über wenige Kilometer geht und die Chiemgauer die Kühe in einem eigenen, tiergerechten Fahrzeug abholen, geht für die Obermeyers „in Richtung Optimum“.
Zurück im Verwaltungstrakt der Chiemgauer. Richard Müller und Tom Reiter bewirten uns mit Salami, Schinken und Knackern, halten sich aber selbst zurück. „Bevor wir Chiemgauer gegründet haben, war ich zehn Jahre lang Vegetarier“, gesteht Richard Müller. Woher dann dieses Engagement? „Um die biologische Landwirtschaft voranzubringen.“ 1991, im Gründungsjahr, gab es praktisch keine organisierte Vermarktung für Biofleisch, die Bauern im Chiemgau mussten die Bioware zu konventionellen Preisen abgeben.
Ein Urgestein der Bio-Bewegung
Aus dem Kooperationsgedanken ergaben sich fast zwangsläufig anspruchsvolle Maßstäbe an Aufzucht und Verarbeitung, die deutlich über den heutigen Bio-Richtlinien liegen: nur Tiere aus dem Chiemgau und von Bauern, die einem Verband des ökologischen Landbaus angehören, handwerkliche Tradition, kein Nitritpökelsalz bei der Verarbeitung, größtmögliche Transparenz. Richard Müller: „Das lag für uns in der Natur der Sache. Über Premiumstrategien und Marketingansätze haben wir uns damals keine Gedanken gemacht.“
Als Urgestein der Bio-Bewegung war Richard Müller fast überall dabei, wenn es galt, in die Zukunft zu schauen und sich zu fragen, was ist jetzt der nächste praktische Schritt. Er zählte zu den Gründern des ersten Münchner Bio-
ladens Erdgarten, war landwirtschaftlicher Berater, er engagierte sich in zahlreichen Gremien und mischt heute bei den Basic-Bio-Supermärkten mit. „Ich sehe mich als Vernetzer, vielleicht auch als Hebamme.“ Und wenn das Kind auf der Welt ist, kümmert sich der 55-Jährige darum, dass die Erziehungsverantwortung auf mehreren Schultern ruht und vielleicht einmal ganz auf andere übergeht. Getreu der Einsicht, dass das Leben ein ewiger Kreislauf ist.
Preis für Innovation
Für den Aufbau eines im Naturkosthandel bis dahin nicht vorhandenen Selbstbedienungs-Gesamtsortiments sowie für Innovationen in der Wurstherstellung ohne Zusatzstoffe erhielt die Firma im vergangenen Jahr den Innovationspreis des Bundesverbraucherministeriums. Gewürdigt wurde darüber hinaus das Kooperationsmodell zwischen Erzeugern, Verarbeitung und Handel.
Name des Bauern auf der Verpackung
So transparent wie möglich: Bei Chiemgauer Naturfleisch bedeutet das, dass auf jeder Fleischpackung auch der Name des Bauern steht, bei dem das Tier großgezogen wurde. Um dies zu gewährleisten, wurde ein eigenes Etikettierungssystem entwickelt und der Warenfluss intern so organisiert, dass immer nur ein einzelnes Tier auf den Zerlegetisch kommt. Der Verbraucher kann also den Bauern anrufen oder vorbeifahren, wenn er sich näher dafür interessiert, wie die Tiere gehalten werden.
Die Geschichte
- 1991 Probephase, dann notarielle Firmengründung durch Richard J. Müller und Hans Fritz. Aufnahme der Geschäftstätigkeit durch Richard J. Müller und Tom Reiter.
- 1992 Erster Auftritt auf der BioFach-Messe, damals in Mannheim.
- 1994 Lager- und Bürobezug in Kaltenbach am Chiemsee.
- 1995 Eröffnung einer Fleisch- und Wurstabteilung in einem Naturkostladen.
- 1996 Inbetriebnahme der neuen Kühl-, Zerlege- und Verpackungsräume in Kaltenbach.
- 1998 Entwicklung eines breiten Tiefkühl-Sortiments mit Schwerpunkt Hackfleisch.
- 2000 Planungsphase für Firmenneubau in Trostberg. Auswahl ökologisch orientierter Baufirmen, BSE-Krise verschärft Platznot in Kaltenbach.
- 2001 Im April Umzug nach Trostberg. Inbetriebnahme einer neuen Tiefziehanlage für Hartschalenverpackungen.
- 2003 Verbraucherministerin Künast zeichnet die Firma mit dem Innovationspreis Bio-Lebensmittel-Verarbeitung aus.
- Zahl der Mitarbeiter: 40
- Zahl der Produkte: mehr als 170
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