Umwelt

Wohnungen oder Stadtnatur – was ist wichtiger?

Damit Städte sich nicht in umliegende Wälder oder Wiesen fressen, wird vorrangig im Inneren gebaut. Gärten und Brachen müssen weichen. Ist das richtig so?

Es gibt kaum ein Thema, das einen so hohen kommunalpolitischen Stellenwert genießt wie der Bau von neuen Wohnungen in wachsenden Städten. Die Bevölkerung in den Ballungszentren wächst und wächst und wächst – in den kommenden zehn bis 15 Jahren wird in Leipzig mit einem Wachstum um 16 Prozent gerechnet. Zugleich gibt es einen enormen Mangel an bezahlbarem Wohnraum. Jedes Jahr werden laut Statistischem Bundesamt deshalb rund 300.000 neue Wohnungen genehmigt. Die Stadt Hamburg will jährlich allein den Bau von 10.000 Wohnungen erlauben, in München sind es 8500. Die Bauwirtschaft kommt mit dem Betonmischen kaum noch hinterher – und fährt immer höhere Gewinne ein.

Naturschutz in der Stadt

Es ist paradox: Eigentlich soll mit dem verstärkten Bau im Inneren der Metropolen verhindert werden, dass die versiegelten Flächen außen zunehmen. Schließlich werden auch in Deutschland umgerechnet jede Sekunde rund zehn Quadratmeter Boden zubetoniert. Aber was gut für Flora und Fauna am Stadtrand ist, schadet grünen Oasen in den Zentren.

Dabei geht es gar nicht ohne Stadtgrün: Parks oder Stadtwälder sind Begegnungsräume mit einer hohen sozialen Funktion. Vor allem aber tragen Bäume, Hecken und Wiesenstücke ganz entscheidend zu unserer Gesundheit bei. Sie produzieren Sauerstoff, wandeln CO₂ um und kühlen. Ein nicht zu unterschätzender Effekt, schließlich nehmen die Hitzetage in den Städten spürbar zu. Fast so etwas wie urbane Kühlschränke sind innerstädtische, feuchte Grünflächen, die bei Sonnenschein Wasser verdunsten. In hoch versiegelten Städten mit wenig Grün gibt es diesen Kühlschrank-Effekt nicht mehr. In dicht bebauten Gebieten beeinflusst die Hitze massiv das Wohlbefinden. Dann haben wir zwar alle zentrale Wohnungen, werden diese aber tagsüber nicht mehr verlassen, weil es schlicht zu heiß ist.

Wohnraum in der Stadt: Innenentwicklung

Jeden Tag verschwinden in Deutschland rund 75 Hektar Boden unter Beton – für Wohnungen, Gewerbe und Straßen. Dort wächst kein Gras mehr, Wasser kann nicht versickern. Um Flächenfraß aufzuhalten, schreibt das Baugesetzbuch seit 2013 das Ziel „Innenentwicklung vor Außenentwicklung“ vor. Das heißt: Lieber in den Städten bauen als den Speckgürtel ausdehnen. Es gilt seither Leerstände in den Zentren zu vermeiden, bestehende Häuser aufzustocken, in vorhandene Siedlungen zu bauen oder gewerblich genutzte Immobilien in Wohnungen umzuwandeln. Was einst im Sinne der Nachhaltigkeit eingeführt und von Naturschutzverbänden begrüßt wurde, entwickelt sich zu einem Instrument, das vor allem der Bauwirtschaft nützt. Immer mehr Neubauten werden genehmigt, die Gewinne der Bauunternehmen steigen. Doch Mieten und Immobilienpreise sinken nicht. Außerdem zerstört der Bauboom Öko-Nischen, die abseits öffentlicher Grünflächen wichtig für das urbane Ökosystem sind. Immer mehr Stadtplaner wünschen sich deshalb eine „Doppelte Innenentwicklung“ mit dem Ziel: Wohnraum schaffen, aber ökologisch!

Biodiversität in der Stadt

Hinzu kommt, dass schon jetzt die urbane Artenvielfalt wegen der sogenannten Nachverdichtung rapide abnimmt, warnen die Forscher Thomas Hauck und Wolfgang Weisser in einem Artikel über Biodiversität in den Städten: Weil etwa immer öfter auf Innenhöfen oder ehemaligen Bahngeländen gebaut wird, gehen Nischen für Pflanzen und Tiere verloren. Die oft gepriesene Artenvielfalt in den Städten lebt von Freiflächen, verborgenen Winkeln und verwilderten Ecken. Bauen wir alles zu, verschwinden die Nahrungsgrundlagen für Vögel und andere Tiere. Hauck und Weisser schlagen deshalb vor, Stadt und Natur nicht länger als gegensätzliche Sphären zu denken. Beide müssen zusammen gedacht werden, etwa bei der Planung von neuen Wohnungen. Auch der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) warnt eindringlich davor, die Innenstädte zuzubauen, weil dadurch wertvolle Freiflächen verschwinden. Die Lebensqualität in den Innenstädten, so scheint es, sinkt mit jedem weiteren Bauprojekt.

Weniger Grünflächen in Arbeitervierteln

Und diese Lebensqualität ist sowieso bereits ungerecht verteilt: „In fast allen westeuropäischen Städten kann man beobachten, dass die großen Wohnflächen mit eigenem Garten vor allem im Westen der Stadt liegen und die Quartiere, wo traditionell Arbeiter gewohnt haben, im Osten zu finden sind“, sagt Sybille Bauriedl, Umwelt- und Stadtforscherin an der Uni Flensburg. Der simple Grund: der für diese Region typische Westwind. Beispiel Hamburg. Hier gibt es zwar einen enorm hohen Grünanteil von rund 50 Prozent – der aber entsteht vor allem durch die vielen Bäume an den Straßenrändern. Bäume seien wichtig für die Frischluft, Zugang zu Grünraum bieten sie aber noch nicht. Vielmehr profitieren besonders die Menschen in den einkommensstarken Stadtteilen von Parks und Stadtwäldern. Einkommensschwache hingegen haben deutlich weniger Stadtgrün in ihrer Nähe. „Werden die Innenstädte verdichtet, sinkt ausgerechnet die Lebensqualität der Menschen, die weniger Zugang zu Grünraum haben und an den Straßen mit hoher Autoverkehrsbelastung und schlechter Luftqualität wohnen. Das führt zu einer zunehmenden Umweltungerechtigkeit“, kritisiert Bauriedl die aktuelle Situation. Laut Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit (MUB) verfügen einkommensschwache Wohngebiete mit durchschnittlich 38 Quadratmetern Grünflächen je Einwohner über rund ein Viertel weniger Grün als der städtische Durchschnitt mit 50 Quadratmetern.

Müssen Kleingärten weichen?

Zum Glück gibt es Kleingärten. Ausgerechnet diese Erfindung des 19. Jahrhunderts, mit der die arme Stadtbevölkerung an die frische Luft kam und sich selbst versorgen konnte, feiert seit einigen Jahren ein Comeback. Hatten die Vereine lange Zeit echte Nachwuchssorgen, entscheiden sich junge Familien immer öfter für eine eigene Parzelle – weit weg von Straßenlärm, Abgasen und kargen Häuserfronten. Der traditionelle Schrebergarten bildet in den Ballungszentren damit einen Hort des Widerstands gegen grauen Beton. Fast 1,2 Millionen gibt es davon in Deutschland, oft liegen sie mitten in der Stadt. Zum Glück, so haben es Hobbygärtner nicht weit, um schnell mal eben ins Grüne zu kommen. Und die einst verschlossenen Gartenanlagen verwandeln sich zunehmend in öffentlich zugängliche Kleingartenparks mit Spielplätzen und viel Erholungsraum – auch für Menschen ohne eigene Gartenparzelle.

Warum Kleingärten wichtig für Städte sind

Die Landschaftsarchitektin Stefanie Rößler forscht am Dresdner Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung (IÖR) zu urbanen Freiräumen und Biodiversität und weiß genau um die wichtigen Funktionen von Kleingärten: „Weil sie unversiegelt sind, kann das Wasser hier versickern, es entsteht Kaltluft, Pflanzen und Tiere finden hier Nischen.“ Außerdem sei es eine wichtige Ökosystemleistung, dass die Menschen durch das Gärtnern draußen sind, sich selbst versorgen und Nahrungsmittel produzieren.

Doch der Wind gegen Kleingärten weht schärfer. So forderten in Berlin vor zwei Jahren mehrere Investoren eine Verlegung der Kleingärten ins Umland – um auf dem frei werdenden Platz bis zu 400  000 Wohnungen bauen zu können. Und immer öfter werden in Ballungszentren gewachsene Kleingartensiedlungen für Bauprojekte versetzt oder verkleinert. Landschaftsarchitektin Rößler wägt ab: „Natürlich haben Kleingärten eine hohe soziale Funktion, aber eben vor allem für diejenigen, die dort eine Parzelle haben. Die Frage ist, ob Kommunen auf demselben Platz Gartenparzellen für 100 oder lieber Wohnungen für 1000 Menschen fördern wollen. Wer hat also das Recht auf diese Flächen?“, fragt sie. Die Berliner jedenfalls schätzen ihre Schrebergärten sehr. Drei große Umfragen dazu stellten klar, dass eine überwältigende Mehrheit der Hauptstädter die grünen Oasen mitten in der Stadt behalten wollen.

Stadtverkehr: Der tägliche Kollaps

Vielleicht, weil sie wissen, dass Bauen mehr meint als nur neue Wohnhäuser. „In der Regel wird der zunehmende Pkw-Verkehr in wachsenden Städten überhaupt nicht mitgeplant“, sagt Stadtforscherin Sybille Bauriedl. Dabei könnten in München oder Hamburg jedes Jahr bis zu 6000 Autos hinzukommen, sollten dort weiterhin so viele Wohnungen genehmigt werden. Wohin aber mit den zusätzlichen Fahrzeugen? Diese beanspruchen Platz zum Parken und Fahren. „Die Städte, die vom Wohnungsbau geprägt sind, werden aber keine zusätzlichen Straßen bauen“, sagt Bauriedl. Wollen wir in den Städten mehr bauen, müssten vorrangig Straßen und Parkplätze verschwinden. Denn schon jetzt spüren große Teile der Stadtbevölkerung die Folgen des täglichen Verkehrskollapses in den Straßen. Besonders, wenn sie seltener Zugang zu Grün haben.

Grüne Infrastruktur und soziale Stadtentwicklung

Im Prinzip könnten wir jetzt unsere Städte noch grüner gestalten – und damit auch sozialer. „Will man Grünflächen langfristig sichern, geht das eigentlich nur über kommunales Eigentum“, sagt Stefanie Rößler vom Dresdner Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung. Doch Städte könnten durchaus auf private Bauinvestoren großen Einfluss ausüben, um mehr Stadtgrün einzuplanen. „Natürlich kann eine Kommune bei Neubauprojekten Auflagen erteilen, wie zum Beispiel Vorgaben zur Dach- oder Fassadenbegrünung. Aber das wird sehr unterschiedlich gehandhabt“, sagt Rößler. Da gebe es Kommunen, die selbstbewusster agieren und andere, die erstmal investorenfreundlich auftreten. „Die gesetzliche Grundlage ist da, sie muss nur genutzt werden.“

Vielleicht braucht es mehr Druck von der Bevölkerung. In Hamburg, Frankfurt und Berlin brodelt es bereits seit Jahren. Einerseits die Klimaaktivisten, die immer mehr und immer jünger werden. Andererseits die „Recht auf Stadt“-Bewegung und ihr Kampf gegen unsoziale Wohnraumpolitik und steigende Mieten. Stadtforscherin Bauriedl sagt: „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die beiden Bürgerbewegungen zusammenkommen und gemeinsam für eine soziale und umweltgerechte Stadtentwicklung auf die Straße gehen.“

Mehr zum Thema

  • www.bpb.de (Stichwort „Stadt“) Dossier der Bundeszentrale für politische Bildung u.a. zur Artenvielfalt
  • www.ioer.de Leibniz-Institut für ökologische Raumentwicklung
  • www.bbsr.bund.de Bundesamt für Bau-, Stadt- und Raumforschung, u.a. Studien zu Kleingärten, Stadtnatur und Freiräumen

Buchtipps

Fuhrhop, Daniel: Verbietet das Bauen! Streitschrift gegen Spekulation, Abriss und Flächenfraß. Oekom-Verlag, 2020, 224 Seiten, 15 €

Engwert, Carolin: Abenteuer Garten: Mein erstes Jahr im Schrebergarten. Kosmos Verlag, 2020, 160 Seiten, 20 €

Veröffentlicht am

Kommentare

Registrieren oder einloggen, um zu kommentieren.

Das könnte interessant sein

Unsere Empfehlung

Ähnliche Beiträge