Erinnert ihr euch an die wimmeligen Bauernhof-Bücher, die wir als Kinder angeschaut haben – oder schaut ihr mit euren eigenen Kindern solche Bücher an? Mit idyllischen Szenen, in denen Schweine vergnügt über den Stallzaun aus Holz blicken, Kühe auf den direkt an den Hof angrenzenden, saftig grünen Wiesen grasen und Hühner frei im Hof herumlaufen und scharren.
So sollte Tierhaltung sein. Grotesk, wie anders die Realität meist aussieht. In vielen deutschen Ställen sind Tierhaltung und Tierwohl weit voneinander entfernt. Wie kann das sein, trotz Tierschutzgesetzen und Verbraucher:innen, die bereit sind, für Tierwohl zu zahlen – und was muss sich ändern?
Wie definiert man Tierwohl?
Eine allgemein gültige Definition gibt es nicht. Aber natürlich eine Art „kleinsten gemeinsamen Definitions-Nenner“: Tierwohl meint alles, was die Lebensqualität und das Wohlergehen von Nutztieren verbessert. Dafür sind drei Faktoren entscheidend: ihre Gesundheit, ihr Wohlbefinden und die Möglichkeiten, ihr natürliches Verhalten auszuleben.
Eine Möglichkeit, das zu bewerten, ist etwa das Konzept der „5 Freiheiten“:
- keine Mangelernährung
- ein passendes Umfeld
- Schutz vor Schmerzen und Krankheiten
- Freiheit von Angst
- Möglichkeiten, arttypisches Verhalten auszuleben
Dieses Konzept stammt vom britischen „Farm Animal Welfare Council“ (FAWC): Es wurde erstmals 1965 formuliert und später weiterentwickelt, um den Mindeststandard für das Wohlbefinden von Nutztieren festzulegen. Das Konzept dient bis heute als Grundlage für Tierschutzstandards weltweit.
Bio-Betriebe haben weitere Standards. Beispiele hierfür sind, dass
- die Betriebe einen Großteil des Futters nach ökologischen Prinzipien selbst herstellen
- den Tieren mehr Auslauf, Tageslicht und Platz in den Ställen bieten
- Anbindehaltung verboten ist (außer bei Kleinbetrieben mit Sondergenehmigung)
Die neun deutschen Bio-Anbauverbände schreiben solche und weitere Tierwohl-Regeln in ihren Vorgaben fest. Zum Beispiel gilt bei vielen Verbänden, dass die sogenannten Bruderhähne mit aufgezogen werden.
Wenn Profit über Tierwohl steht
Massentierhaltung ist in Deutschland seit den 1960er Jahren traurige Norm. Das Leid, das sie für die Tiere bedeutet, bleibt oft unsichtbar. Millionen Tiere leben auf engstem Raum, ohne natürliches Licht und frische Luft. Die Zustände in vielen Ställen sind katastrophal und sorgen nicht nur für großes Tierleid, sondern gefährden auch unsere Umwelt.
Warum Tiere noch immer leiden
Gesetze, die das Wohl der Tiere schützen sollen, werden auch in Deutschland vielfach umgangen oder nur unzureichend durchgesetzt. Besonders bei der Massentierhaltung bleibt vom Tierwohl nichts übrig.
Das Dilemma: In Umfragen zeigen wir als Gesellschaft uns eigentlich sehr tierlieb. Massentierhaltung? Lieber nicht! Einkaufen tun viele Menschen trotzdem vor allem mit Priorität auf einem anderen Faktor: dem Preis. Und: Auch wenn sich ein Wandel abzeichnet, essen wir gesamtgesellschaftlich gesehen noch immer viel zu viel Fleisch und Wurstwaren, als ökologisch vertretbar ist und sich mit artgerechter Tierhaltung vereinbaren ließe.
Im Vergleich mit der Gesamtbevölkerung ernähren sich doppelt so viele 15- bis 29-Jährige vegetarisch oder vegan.
Dass und wie es bei Nutztieren anders geht, zeigen zum Beispiel die Maiers: Bio-Pioniere, denen Bio allein nicht weit genug geht. Ihre rund 300 Rinder bilden eine weitgehend autonome, besondere Herde. Die Maiers kämpfen dafür, sie am Ende ihres Lebens auch vor Ort schlachten zu dürfen. Denn: Für eine möglichst erzeugernahe Schlachtung vor Ort, braucht es regionale und handwerkliche Schlachtstätten – doch davon gibt es immer weniger.
Drei Konzerne – Tönnies, Vion und Westfleisch – schlachten 58 Prozent aller Schweine und 48 Prozent aller Rinder.
Verbessert das Tierwohl-Label die Situation?
Das staatliche deutsche Tierwohl-Label ist bisher nicht für alle Betriebe und Haltungsformen verpflichtend. Das Label wurde vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) initiiert und soll laut diesem "Transparenz für Verbraucher:innen schaffen, dem Tier- und Klimaschutz gerecht werden sowie den Betrieben eine wirtschaftliche Perspektive bieten". Die Kennzeichnungspflicht gilt zunächst nur für frisches unverarbeitetes Fleisch, das von in Deutschland gehaltenen, geschlachteten und verarbeiteten Schweinen stammt. Eine Ausweitung auf verarbeitete Produkte wie Wurst, weitere Tierarten sowie die Außer-Haus-Verpflegung wie Kantinen, Mensen und Gastronomie ist geplant. Unabhängige Kontrollstellen prüfen, ob die Standards eingehalten werden. Die staatliche Tierhaltungskennzeichnung wird aktuell schrittweise verpflichtend eingeführt.
Das sind die fünf Haltungsformen der Tierwohl-Kennzeichnung
Haltungsform 1 Stall: Stallhaltung
Diese Stufe entspricht den gesetzlichen Mindeststandards. Die Tiere haben wenig Platz, es gibt keinen Zugang zu Außenbereichen, und Beschäftigungsmöglichkeiten sind stark eingeschränkt.
Haltungsform 2 Stall + Platz: Stallhaltung plus
Hier haben die Tiere etwas mehr Platz und Zugang zu Beschäftigungsmaterialien wie Stroh. Es gibt aber weiterhin keinen Zugang zu frischer Luft oder Außenbereichen. Auch diese Stufe erfüllt die Ansprüche an eine tierfreundliche Haltung nicht.
Haltungsform 3 Frischluftstall: Außenklima
Diese Haltungsform bietet den Tieren mehr Platz und Zugang zu Außenklimabereichen, wie überdachte Frischluftställe.
Haltungsform 4 Auslauf/Weide: Premium
In dieser Stufe haben die Tiere den meisten Platz im Stall, Zugang zu Auslauf im Freien und bekommen Bio-Futter.
Haltungsform 5: Bio
Diese Stufe übernimmt die Anforderungen von Haltungsform 4 und enthält weitere Vorgaben zum Tierschutz, sowie Vorschriften für Futter und den Einsatz von Medikamenten wie Antibiotika.
Die Tierwohl-Kennzeichnung schafft zwar mehr Bewusstsein für Tierschutz und Tierwohl, doch insbesondere die unteren Stufen erfüllen nur minimale gesetzliche Standards. Damit sind sie von Tierwohl weit entfernt, weil sie den Tieren wenig Platz, keine Bewegung im Freien und keine artgerechte Beschäftigung bieten.
Erst ab Haltungsform 4, die auch ökologische Standards einschließt, werden höhere Anforderungen gestellt. Langfristig braucht es definitiv mehr als Kennzeichnungen – ein generelles, gesellschaftliches Umdenken zu artgerechteren Haltungsformen und maßvollem Konsum tierischer Produkte.
Tierwohl und Tierhaltung in Zahlen
- In Deutschland kommt nur 1 Prozent aller Schweine nicht aus industrieller Massentierhaltung
- Der deutsche Pro-Kopf-Verbrauch für Speisefisch lag 2023 bei 13,4 Kilo (neben Fisch auch Krebs- und Weichtiere) sowie bei 51,6 Kilogramm Fleisch
- Mehr als 40 Nutztier-Spezies werden weltweit gehalten, neben Rindern, Schweinen und Geflügel-Spezies etwa auch Schafe, Ziegen, Kamele, Lamas, Rentiere, Strauße, Austern – und Insekten
- 7,5 Quadratmeter schreibt die EU-Öko-Verordnung für eine säugende Muttersau und ihre Ferkel vor, dazu weitere 2,5 Quadratmeter im Außenbereich. Ein konventioneller Kastenstand dagegen bietet der Sau gerade mal 1,4 Quadratmeter Platz
11 Bücher, Essays und Dokus rund ums Tierwohl
Buch: „Tiere essen“ von Jonathan Safran Foer
Beleuchtet die ethischen, ökologischen und gesundheitlichen Auswirkungen des Fleischkonsums. Die Mischung aus persönlicher Erzählung und gründlicher Recherche hat schon Viele zum Umdenken bewegt.
Buch: „Farmageddon" von Philip Lymbery und Isabel Oakeshott
Untersucht die globalen Auswirkungen der industriellen Landwirtschaft auf Umwelt, Gesundheit und das Wohl der Tiere.
Film: Sprechende Schweine – KI übersetzt Tiersprache von Miki Mistrati
Einem internationalen Wissenschaftsteam ist es gelungen, das Grunzen der Schweine mithilfe von Künstlicher Intelligenz zu entschlüsseln. In dieser Dokumentation wird gezeigt, wie sich Schweine in der Landwirtschaft (Freiland, Bio und konventionelle Mast) fühlen.
Film: „Okja“
Erzählt die Geschichte eines Mädchens und ihres genetisch modifizierten „Super-Schweins“, das von einem multinationalen Konzern entführt wird. Eine kraftvolle Allegorie über Tierwohl und moralische Fragen.
Buch: „Warum wir Hunde lieben, Schweine essen und Kühe anziehen“ von Melanie Joy
Untersucht die kognitive Dissonanz, die es uns erlaubt, einige Tiere zu lieben und andere zu essen.
Doku: „Cowspiracy“
Dokumentiert die verheerenden Auswirkungen der Massentierhaltung auf die Umwelt.
Doku: „Blackfish“
Erzählt von Orca Tilikum und den Bedingungen in Meeresparks, löste eine weltweite Debatte aus und führte dazu, dass Sea World das Zuchtprogramm einstellte und Kalifornien zirkusähnliche Shows mit Orcas verbot.
Film: „Gunda“
Schwarz-Weiß-Dokumentarfilm, der das einfache Leben eines Schweins, seiner Ferkel, einer Rinderherde und einer Hühnerschar ohne Worte darstellt und uns die Welt aus ihrer Perspektive erleben lässt.
Essay: „Über die Pflichten gegen die Tiere“ von Immanuel Kant
Argumentiert, dass wir zwar keine direkten Pflichten gegenüber Tieren haben, aber unsere Behandlung von Tieren unsere Menschlichkeit widerspiegelt.
Buch: „Tiere wie wir. Warum wir moralische Pflichten gegenüber Tieren haben“ von Christine M. Korsgaard
Die Tierethikerin und Harvard-Professorin erörtert die Frage: Hat das Leben eines Tieres einen anderen Wert als das eines Menschen?
Doku: "Mark und die Rinder - Tierwohl statt Billigfleisch"
Begleitet den Metzger Mark Junglas, der sich mit seinem Biohof und vielen Ideen gegen die Billigfleisch-Konkurrenz behaupten will.
FAQ rund um Tierwohl
Was ist der Unterschied zwischen Tierschutz und Tierwohl?
Tierschutz und Tierwohl sind eng verbunden, haben aber unterschiedliche Schwerpunkte.
Tierschutz bezieht sich auf Gesetze und Maßnahmen, die verhindern sollen, dass Tieren Leid zugefügt wird – also das Minimieren von Schmerzen, Angst und Misshandlungen.
Tierwohl geht darüber hinaus und zielt darauf ab, das Leben der Tiere positiv zu gestalten. Es geht um ihre Gesundheit, ihr natürliches Verhalten und ihr allgemeines Wohlbefinden.
Sind alle Öko-Kosmetikmarken tierversuchsfrei?
Nein, nicht alle Naturkosmetikmarken sind automatisch tierversuchsfrei. Obwohl viele der Öko-Hersteller:innen Wert auf Tierschutz legen, bedeutet das Bio-Siegel nicht zwingend, dass keine Tierversuche durchgeführt wurden. Um sicherzugehen, dass ein Produkt tierversuchsfrei ist, solltet ihr auf Zertifizierungen wie den Leaping Bunny, die Veganblume oder das PETA-Approved-Siegel achten. Sie garantieren, dass weder das Endprodukt noch die Inhaltsstoffe an Tieren getestet wurden.
Welche Rolle spielt Tierwohl in der Mode?
Nicht nur in der Lebensmittelproduktion, auch in der Modeindustrie leiden Tiere oft für unsere Bedürfnisse. Doch es gibt Alternativen: Ob pflanzliche Materialien oder synthetische Alternativen – wir haben die Wahl, Mode bewusster zu konsumieren und Tierleid auch bei unseren modischen Konsumentscheidungen zu verhindern.
Ist Bio dasselbe wie Freilandhaltung?
Nein, Bio ist nicht dasselbe wie Freilandhaltung, obwohl es Überschneidungen gibt und beide Haltungsformen dem Tierwohl mehr entsprechen als etwa die Stallhaltung. Bei Bio dürfen die Tiere nicht nur nach draußen, sondern werden auch ökologisch gefüttert und besonders artgerecht gehalten werden. Freilandhaltung bedeutet nur, dass die Tiere Zugang zum Freien haben, während Bio strengere Vorgaben zur Fütterung, Haltung und Gesundheitsversorgung hat. Bio setzt also höhere Standards.
Machen sich Tierschützer strafbar?
Warum müssen Menschen, die Tiere schützen wollen, vor Gericht um ihr Recht kämpfen? – Weil Tierschützer:innen sich strafbar machen können, wenn sie Gesetze brechen, auch wenn es im Namen des Tierschutzes geschieht. Aktionen wie das Betreten von Ställen ohne Erlaubnis oder das Beschädigen von Eigentum sind illegal, selbst wenn sie auf Missstände aufmerksam machen wollen.
In Deutschland gilt das Tierschutzgesetz, wer jedoch gegen andere Gesetze verstößt, um Tierschutz zu betreiben, riskiert strafrechtliche Konsequenzen.
Sind Tierversuche in der EU erlaubt?
Tierversuche sind in der EU grundsätzlich erlaubt, jedoch stark reglementiert. Sie dürfen nur durchgeführt werden, wenn keine alternativen Methoden zur Verfügung stehen und müssen durch strenge Richtlinien zum Tierschutz geregelt sein. Laut Statista wurden 2022 in der EU (inkl. Norwegen) rund 8,5 Millionen Tiere in Tierversuchen verwendet.
Tierversuche für Kosmetika sind seit 2013 in der EU verboten – sowohl für fertige Produkte als auch für einzelne Inhaltsstoffe. Allerdings wird das Verbot durch Ausnahmeregelungen untergraben. So gelten diese Verbote nur für neue Produkte und Inhaltsstoffe. Die „alten“ Produkte können weiterhin verkauft werden, auch wenn sie an Tieren getestet wurden. Der Deutsche Tierschutzbund weist noch auf eine weitere Lücke hin: „Kosmetikfirmen dürfen Substanzen verwenden, die in anderen Produkten wie Reinigungsmitteln, Wandfarben oder Medikamenten eingesetzt werden. Diese ganz alltäglichen Stoffe mussten aber eine Reihe von Tests durchlaufen, darunter auch Tierversuche, bevor die Produkte, in denen sie enthalten sind, auf den Markt kommen. Das ist sogar gesetzlich verpflichtend. Leider betrifft dies die Mehrzahl der Inhaltsstoffe. Außerdem sind Tierversuche sogar für rein kosmetisch verwendete Stoffe erlaubt, wenn Labore prüfen müssen, ob die Inhaltsstoffe für die Arbeits- und Umweltsicherheit unbedenklich sind. Somit stecken in einem Großteil der Kosmetika weiterhin Inhaltsstoffe, die in Tierversuchen getestet wurden“.
Wie funktioniert die Tierwohlabgabe?
Die Tierwohlabgabe wurde von einem Expertengremium, der Borchert-Kommission, vorgeschlagen. Diese Kommission wurde vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) ins Leben gerufen. Sie soll Vorschläge machen, um den Tierschutz in der Landwirtschaft zu verbessern. Eine ihrer Vorschläge: eine Abgabe auf tierische Produkte wie Fleisch, Milch und Eier, um höhere Tierschutzstandards zu finanzieren.
Die Abgabe würde Verbraucher:innen ermöglichen, durch einen Aufpreis aktiv zur Verbesserung der Haltungsbedingungen beizutragen. Die Einnahmen würden direkt an Landwirt:innen fließen, die diese höheren Standards – etwa mehr Platz, bessere Ställe oder Zugang zu Außenbereichen – umsetzen.
Es gibt Diskussionen auf politischer Ebene, doch es ist noch offen, ob und wann die Abgabe in Deutschland eingeführt wird. Auch die genaue Ausgestaltung und Höhe der Abgabe sind noch nicht entschieden.
Wer ist in Deutschland für Tierschutz verantwortlich?
Auf Bundesebene ist das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) zuständig. Es erlässt Regeln und Verordnungen, die den Mindestschutz von Tieren sicherstellen, wie etwa das Tierschutzgesetz, das seit 2002 sogar im Grundgesetz verankert ist.
Die Länder setzen diese Gesetze um und überwachen deren Einhaltung. Die Veterinärämter der Kommunen kontrollieren beispielsweise Betriebe. Als Bürger:in kann man sich beim Verdacht der Tierquälerei an das für den Wohnort zuständige Veterinäramt wenden.
Zusätzlich engagieren sich Tierschutzorganisationen, die Missstände aufdecken und sich politisch für den Schutz von Tieren einsetzen.
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