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spezial: ADHS - Pro und Kontra Methylphenidat

Schulmediziner halten den Wirkstoff Methylphenidat (MPH) als bestes Mittel gegen ADHS. Doch gibt es Kritiker einer dauerhaften Behandlung mit MPH . Denn MPH ist ein Aufputschmittel und fällt unter das Betäubungsmittelgesetz

Hilfreich oder gefährlich?

Pro

"MPH kann Leiden verhindern"

? Verschreiben Ärzte heute zu viel MPH?

! Nach Schätzungen sind zwei bis sechs Prozent der Kinder und Jugendlichen zwischen 6 und 18 Jahren betroffen. Ein bis zwei Prozent, also 100.000 bis 200.000, haben Behandlungsbedarf. Die derzeit verschriebene Menge reicht rein rechnerisch bei qualifizierter Behandlung für rund 100.000 Betroffene. Das bedeutet eine Unterversorgung.

? Wann muss MPH gegeben werden?

! Die Leitlinien der Kinder- und Jugendpsychiatrie empfehlen eine sofortige Behandlung mit Methylphenidat in krisenhaften Situationen. Also wenn eine rasche Verhaltensänderung erfolgen muss, um zum Beispiel Um- oder Ausschulungen des Kindes zu verhindern oder familiäre Krisen zu mildern. Voraussetzung ist, dass die Diagnose entsprechend den Leitlinien gestellt wurde, und eine wesentliche Beeinträchtigung des Kindes oder der Familie vorliegt.

? Wie hoch ist die Erfolgsquote?

! Sie liegt in Studien mit hohen Erfolgsanforderungen zwischen 60 und 80 Prozent. Je genauer die Diagnose dieser nachgewiesen hirnorganischen Störung gestellt ist, desto größer ist das Ansprechen auf die MPH-Behandlung. Sie kann Entwicklungsstörungen, Erfolglosigkeit trotz ausreichender Voraussetzungen und sekundäres Leiden verhindern.

? Wie beurteilen Sie die Suchtgefahr?

! Unter den nicht behandelten ADHS-Patienten ist eine Suchtgefährdung deutlich größer als unter den Behandelten. In den stationären Einrichtungen für Sucht- und Alkoholkranke findet man 40 bis 60 Prozent Patienten, bei denen in der Kindheit oder Jugend die Diagnose ADHS gestellt oder vermutet worden war, ohne dass es zu einer Behandlung kam. Methylphenidat selbst hat kein suchterzeugendes Potential.

? Müssen Betroffene ein Leben lang MPH nehmen?

! Nach zwei bis vier Jahren medikamentöser Behandlung, bei spätem Behandlungsbeginn oft erst nach der Pubertät, kann versuchsweise, später in vielen Fällen dauerhaft auf MPH verzichtet werden. Während sich durch die Pubertät die motorische Unruhe reduziert, bleiben Probleme der Aufmerksamkeit oder Impulsivität, unterschiedlich stark ausgeprägt, lebenslang erhalten.

Nach dem 18. Lebensjahr werden rund 20 Prozent der Betroffenen symptomlos, 40 Prozent sind durch die Symptome nicht mehr beeinträchtigt und 40 Prozent behalten die Kriterien für die Diagnosestellung weiterhin bei.

Kontra

"Auf soziales Umfeld schauen"

? Verschreiben Ärzte heute zu viel MPH?

! Ja. MPH kann im Einzelfall als kurzfristige Nothilfe sinnvoll sein, wenn ein Kind so durch den Wind ist, dass sie keinen Zugang mehr zu ihm finden. Doch es sollte auf keinen Fall als Dauermedikation eingesetzt werden. Wenn ein Elfjähriger seit fünf Jahren Ritalin nimmt und ansonsten passiert nichts Familienpsychotherapeutisches, finde ich das verheerend.

? Was ist daran verheerend, wenn es den Kindern in der Schule hilft?

! Die Schulmedizin geht davon aus, dass es sich bei ADHS um eine körperlich fundierte Erkrankung handelt. Doch das ist nur eine Forschungsannahme. In der Praxis führt das dazu, dass psychosoziale Ursachen und Zusammenhänge zu oft ausgeblendet werden. Wird das Medikament abgesetzt, beginnt alles von vorne, weil sich die krank machenden oder krank haltenden Umstände nicht geändert haben.

Die Leitlinien der ärztlichen Verbände schreiben eine ausführliche Diagnose und eine so genannte multimodale Therapie vor. In der Praxis sind beides Ausnahmen. Einer Studie zufolge entsprechen drei Viertel der Diagnosen nicht der einschlägigen Leitlinie. In meine Beratung kommen im Jahr rund 50 Kinder mit der Diagnose ADHS. Darunter sind etwa zwei, bei denen die vorgenommenen Untersuchungen exakt den Leitlinien entsprechen. Bei der Therapie ist Ritalin die Regel. Familientherapie, Erziehungsberatung und sozialtherapeutische Hilfen, die Vorrang haben müssen, sind die Ausnahmen.

? Können Sie ohne Medikamente helfen?

! Wir arbeiten eng mit Kinderärzten, sozialpädiatrischen und kinderneurologischen Zentren zusammen, die abklären, ob Entwicklungsprobleme wie Legasthenie vorliegen. Gleichzeitig schauen wir uns das oft problematische psychosoziale Umfeld des Kindes an. Daraus entsteht ein individuelles Behandlungsprogramm.

? Das hat Erfolg?

! Ich kann nur aus meiner Erfahrung sprechen. Die Erfolgsquote liegt bei etwa 70 bis 75 Prozent und ist abhängig von der Qualität der Therapeuten und der Bereitschaft der Eltern, mitzumachen. Dabei ist es wichtig, den Eltern keine Schuldgefühle einzureden, sondern konkret und alltagsbezogen für Entlastungen zu sorgen.

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