Tiefblau zieht sich die Wasserfläche durch die Landschaft. Dichte Schilfbänke erstrecken sich entlang der Ufer, an manchen Stellen geht das Röhricht bis aufs offene Wasser. Immer wieder ragen abgestorbene Baumskelette aus dem Wasser. Auf dem See tummelt sich eine Vogelschar. Grau- und Blessgänse machen hier gerade Station, bald kommen die nordischen Sing- und Zwergschwäne. Am wolkendurchsetzten Himmel kreisen Möwen. Die Moorlandschaft im Anklamer Stadtbruch am westlichen Stettiner Haff, nur einige Kilometer vor der Ostseeinsel Usedom gelegen, ist in ihrer Art einzigartig und einer der vielfältigsten Lebensräume in Mitteleuropa.
Das war nicht immer so. Durch die einst für Pommern charakteristischen Moorlandschaften wurden Mitte des 19. Jahrhunderts Entwässerungsgräben gezogen, vielerorts, um Torf abzubauen. Mitte des 20. Jahrhunderts, als der Torfabbau langsam zurückging, wurden die trockengelegten Flächen vor allem für die Landwirtschaft genutzt. Auf den trockengelegten Moorböden weideten bis vor 30 Jahren noch Kühe, außerdem gab es einen Nutzwald. Im Jahr 1995 kam es schließlich zu einem wahren Umbruch. Bei einem Sturmhochwasser in der Nacht vom 4. auf den 5. November brach ein Deich und setzte das dahinter liegende Land unter Wasser. Der Deich erwies sich als so marode, dass eine Reparatur auf dem Abschnitt ausschied. Ein neuer Deich wurde weiter landeinwärts gebaut. 2000 Hektar Land wurden somit der Natur zurückgegeben. Dies war der Startschuss für einen Rewilding-Prozess und eine enorme landschaftliche Veränderung. Als Erstes starb der Wald ab, der unter Wasser geraten war. Die Baumskelette ragen noch als stumme Zeugen aus dem See. Die Vorstellung fällt schwer, dass hier vor gar nicht allzu langer Zeit noch Land- und Forstwirtschaft vorherrschten. Ein Rundwanderweg führt durch das Areal, vorbei an Flachseen und lichten Wäldchen.
„Wir gucken ganz gespannt zu. Das ist aber auch alles, was wir tun.“
Die Betonwegplatten stehen an manchen Stellen je nach Wasserstand des Stettiner Haffs unter Wasser. Was in anderen Rewilding-Gebieten oftmals durch gezielte „Kick-off“-Maßnahmen erreicht wird, indem Deiche oder andere Infrastruktur zurückgebaut werden, passierte hier quasi durch Zufall und von allein. Dass Landschaften sich natürlicherweise verändern, ist in Deutschland eigentlich gar nicht vorgesehen. Waldflächen beispielsweise sind genau definiert. Was kein Wald ist, darf auch kein Wald werden und umgekehrt. Im Anklamer Stadtbruch läuft nun alles ein bisschen anders. Vor allem, seit auch die Jagd und forstwirtschaftliche Tätigkeit eingestellt und damit das Gebiet aus jeglicher wirtschaftlichen Nutzung genommen wurde.
Hintergrund: Was ist Rewilding?
- Das Konzept stammt aus den USA. In den 1980er-Jahren sahen einige Naturschützer angesichts des um sich greifenden Artensterbens die Notwendigkeit, die großen, noch existierenden Wildnisgebiete zu retten. Zusätzlich ging es darum, verlorene Arten wieder anzusiedeln und den Zustand von Ökosystemen zu verbessern – durch „Nichtstun“.
- Rewilding bedeutet, der Natur wieder Platz zu lassen. Verarmte, disfunktionale „Kulturlandschaften“ werden „geheilt“, indem der Mensch nicht mehr eingreift, kontrolliert und nutzt, sondern Natur sich selbst überlässt. So können natürliche Prozesse wieder stattfinden und funktionierende Ökosysteme entstehen. In diesen Gebieten werden keine Nutzungsziele mehr verfolgt, die Natur darf selbst „entscheiden“, was passiert.
- Es fehlt häufig an Tierarten, die in einem Ökosystem eine wichtige Rolle spielen. Dazu gehören große Pflanzenfresser wie beispielsweise Wisente oder Wildpferde – die ehemalige Megafauna –, die durch ihr Weideverhalten Landschaften vor Verbuschung schützen und Nischen für andere Tierarten schaffen. Aber auch Schlüsselarten wie Wolf oder Biber haben einen positiven Einfluss auf ihre Umgebung. Je komplexer und lebendiger die Beziehungen und Interaktionen in einem Ökosystem sind, umso mehr wächst die Artenvielfalt. Zu den „Kick-off“-Maßnahmen beim Rewilding gehört deswegen oft das Auswildern bestimmter Tierarten.
- Die Organisation „Rewilding Europe“ arbeitet daran, mehr Wildnis in Europa entstehen zu lassen. Mittlerweile gehören 10 Rewilding- Gebiete zu dem Netzwerk, zu denen auch das Oder-Delta zählt.
Wenn beim Rewilding die Natur entscheidet
Seitdem ist im Anklamer Stadtbruch als offiziellem Wildnisgebiet eine Landschaftsdynamik zu beobachten, die sich uneingeschränkt und frei entfalten darf. „Jetzt entscheidet nur noch die Natur, in welche Richtung die Entwicklung geht“, erklärt der Landschaftsökologe Stefan Schwill. Er betreut den Anklamer Stadtbruch für die NABU-Stiftung „Nationales Naturerbe“, in deren Eigentum sich das Gebiet heute befindet, und sitzt im Vorstand des Vereins „Rewilding Oder Delta“, denn das Gebiet gehört seit 2015 zu einer der Modellregionen von Rewilding Europe.
Welche Arten sich ansiedeln, welche Vegetation sich entwickelt – alles bleibt der Natur überlassen. „Und wir gucken ganz gespannt zu. Das ist aber auch alles, was wir tun.“ Gespannt zuschauen, ohne einzugreifen – dieses Prinzip gilt auch für die Tierwelt. Mit der Zeit siedelten sich, angezogen von den großen Wasserflächen, etliche Vogelarten an. Der Anklamer Stadtbruch entwickelte sich zu einem Hotspot für Zugvögel, aber auch zu einem der Gebiete mit der höchsten Brutdichte an Seeadlern in Europa. Zwischen zehn und 14 Seeadlerpaare leben heute wieder im Gebiet, vereinzelt thronen Adlerhorste in den Baumkronen. Unmittelbar zuvor hatte sich auch eine große Kolonie Kormorane niedergelassen. Ihre Jungen dienten dem Seeadler als Futter für seine Brut. Inzwischen ist die Kormorankolonie jedoch erloschen, weil die Vögel keine geeigneten Bruträume mehr fanden. „Jetzt ist die spannende Frage: Wie reagiert die Seeadlerpopulation?“ Nimmt sie wieder ab? Oder steigen die Tiere auf andere Nahrungsquellen um? Maßnahmen, um Seeadler oder Kormoran in dem Gebiet zu halten, kommen für die Rewilder nicht infrage.
Der Anklamer Stadtbruch ist ein Beweis dafür, dass Natur in der Lage ist, sich ohne das Eingreifen des Menschen weitgehend selbstständig zu regulieren. Gerade im mitteleuropäischen Raum, der stark von intensiv genutzten Kulturlandschaften geprägt ist, fehlt es jedoch noch immer an Erfahrungen, wie natürliche Prozesse ablaufen. Wie entwickelt sich Natur ohne direkten Eingriff? Wie sieht die ungestörte Interaktion von Tier- und Pflanzenarten über einen längeren Zeitraum aus? „Natürlich haben wir Erwartungen, in welche Richtung die Entwicklung hier gehen wird“, sagt Stefan Schwill. Aber: Wenn die Natur etwas anderes entscheidet, müssten die Erwartungen eben korrigiert werden. „Wir werden sicher einige unserer Vorstellungen über Bord werfen müssen, wenn wir von den Wildnisgebieten gelernt haben.“ (...)
Wald allein ist kein Rewilding
Ähnlich wie im Anklamer Stadtbruch ist auch im östlichen Oder-Delta die Natur in Bewegung. Eine dynamische, veränderliche Landschaft, die im westlich angrenzenden Deutschland so kaum vorkommt, da Wald und Offenland normalerweise strikt getrennt voneinander existieren.
Doch die Vielfalt an Lebensräumen an einem Ort, die Kombination verschiedener Habitate sind die Gründe für die enorme Biodiversität. In diesem Landschaftsmosaik kommen selbst gefährdete Arten wie Raubwürger, Wachtel, Wiedehopf oder bestimmte Schmetterlinge vor, die normalerweise als Offenlandarten gelten und bisher kaum der „Wildnis“ zugeordnet wurden. Im Oder-Delta finden diese Tiere dennoch ihren Lebensraum in den durch Pflanzenfresser geschaffenen naturnahen Gebieten.
Megaherbivoren wie Elch und Wisent beeinflussen die Artenvielfalt positiv, beobachtet Jonathan Rauhut. „Das Fehlen solcher Arten führt im Umkehrschluss zu abnehmender Artenvielfalt, weil dann nur reine Wälder übrig bleiben. So schön die sind, haben sie allein nicht eine solch hohe und dynamische Artenvielfalt wie eine Mosaiklandschaft mit halb offenen Flächen.“ Im Oder-Delta sei auf diese Weise ein Reichtum an Biodiversität entstanden, mit dem kaum ein Nationalpark in Deutschland mithalten kann. (...)
Außerdem verändert Rewilding die Sicht auf Pflanzenfresser. Wird der Verbiss von Rot- und Rehwild normalerweise von Forstleuten als Problem für den Wald gesehen, spielt er in Rewilding-Gebieten keine Rolle. Da der Nutzungsanspruch fehlt, kann es in der Wildnis auch keine „Schäden“ geben, und die Populationen können sich ungehindert ausdehnen. Wo kein Ziel, da kein Schaden. Rewilding bringt uns ins Bewusstsein, dass die Unterteilung in Nützlinge und Schädlinge eher mit menschlichen Nutzungsansprüchen zusammenhängt.
Zum Weiterlesen

Auszug aus: Simone Böcker. Rewilding. Auf der Suche nach einem Gleichgewicht zwischen Mensch und Natur.
Aufbau 2023. Im Handel erhältlich als Buch, E-Book und Hörbuch.
© Aufbau Verlage GmbH & Co. KG, Berlin 2023
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