Umwelt

Planetare Grenzen: Ein seltsamer Tanz

Die Menschheit hat die Natur viel zu lang als bloße Kulisse des Daseins betrachtet und die Belastungsgrenzen der Erde überschritten. Warum wir das dringend ändern müssen. Ein Essay.

Lust auf ein kleines Gedankenexperiment? Dann verweilt jetzt bei dem Wort Idyll. Schließt die Augen und erschafft euch euren eigenen Lieblingsort. Nehmt euch Zeit, atmet langsam tief ein und aus, lasst ein konkretes Bild vor eurem inneren Auge entstehen. Jede Wette, dass ihr einen sonnig-warmen Tag erdacht habt, sicherlich ist viel Grün zu sehen, vielleicht plätschert im Hintergrund ein Gewässer, Vögel zwitschern.

Wenn ihr jetzt die Augen wieder öffnet und euer Idyll mit der Realität vergleicht. Das Jahr 2023 war geprägt von alarmierenden Ereignissen: Hitze, schlechte Ernten, Trinkwassermangel, verheerende Stürme. Unser Planet hat laut einer Studie Fieber. Die Erdgesundheit ist derart angeschlagen, sechs von neun planetaren Grenzen sind bereits überschritten. Und zwar pünktlich zum fünfzigsten Jubiläum des ersten Berichts des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums, so könnte man mit einigem Zynismus feststellen.

Planetare Grenzen: Kurz erklärt

In diesem Jahr ist es einer internationalen Forscher:innengruppe zum ersten Mal gelungen, das Erdsystem als Ganzes zu betrachten. Demnach sind sechs der neun planetaren Belastungsgrenzen bereits überschritten:

Das betrifft den Klimawandel, da die CO2-Konzentration in der Atmosphäre deutlich zu hoch ist. Beim Süßwasser sind die Grenzwerte ebenso überschritten wie beim Einbringen neuartiger Substanzen, etwa Mikroplastik, Pestizide und Atommüll. Biosphäre und Landnutzung leiden, weil wir Lebensräume zerstören und zu viel Wald roden. Die Folgen sind Artensterben und Ökosysteme, die aus der Balance geraten. Daneben sind zu viel Stickstoff und Phosphor im Umlauf, was zusätzlich Stoffkreisläufe aus dem Gleichgewicht bringt.

Die drei Belastungsgrenzen, die sich noch im grünen Bereich befinden, sind die Ozonschicht, die Erzeugung von Aerosolen und die Versauerung der Ozeane. Aber auch hier warnen die Forscher vor einer gefährlichen Entwicklung.

Globale Krisen verstärken sich gegenseitig

Mit Zynismus allerdings kommen wir nicht weit. Schon gar nicht, wenn sich die Krisen mehren, unsere Lebensgrundlagen durch Klimaveränderung, Kriege und Pandemien bedroht werden. Mehr noch: An vielen Stellen scheinen sich die Krisen gegenseitig zu beeinflussen und zu verstärken. Die Weltbank schätzt zum Beispiel, dass bis zum Jahr 2050 bis zu 216 Millionen Menschen wegen der Folgen der Klimakrise aus ihrer Heimat fliehen werden. Zum Vergleich: Im Jahr 2018 war die Organisation noch von 143 Millionen Menschen ausgegangen. Gesellschaftliche Spannungen sind vorprogrammiert. Ein gefundenes Fressen für die Demokratiefeinde von rechts.

Das ökologische Gleichgewicht auf dem Planeten ist bedroht

Da stellt sich die Frage, wie weit es mit der Vernunftbegabung, die wir uns als Gattung immer so stolz ans Revers heften, eigentlich bestellt ist. Ist es denn vernünftig, unsere Lebensgrundlagen zu ruinieren, indem wir Raubbau betreiben an Gemeingütern wie Boden, Wasser und Luft? Zwei Drittel der planetaren Grenzen haben wir überschritten. Das ökologische Gleichgewicht auf unserem schönen grün-blauen Planet ist bedroht. Wenn es also die Vernunft sein soll, die uns als Lebewesen von allen anderen Kreaturen auf diesem Planeten unterscheidet, dann scheinen wir etwas Grundlegendes nicht richtig verstanden zu haben. Offenbar gehen wir davon aus, dass alles, was der Planet zu bieten hat, allein für unseren Konsum geschaffen ist. Wir erheben Besitzansprüche, übernehmen als gemeinsame Bewohner des Habitats Erde keine Verantwortung. Warum gelingt es uns nicht, achtsamer mit unseren Lebensgrundlagen umzugehen?

Dabei haben diese Fragen in den letzten Jahren durchaus Konjunktur. Die Buchläden sind voll von Werken, die versuchen, uns auf die Spur zu kommen. Eine recht neue akademische Disziplin ist entstanden: die Zukunftsforschung. Aber was Wissenschaftler:innen auch hochrechnen, an Modellen entwerfen und an Warnungen formulieren: Es scheint bei einem großen Teil der Menschheit nicht anzukommen. Vielleicht liegt es daran, dass wir die Fähigkeit, unsere Zukunft planvoll zu gestalten, in erster Linie dazu nutzen, um den Alltag zu organisieren, etwa, ob wir zu unserer Verabredung mit dem Fahrrad oder mit der U-Bahn fahren.

Zukunft: Warum wir sie gestalten sollten

Amerikanische Forscher:innen haben herausgefunden, dass sich unsere Gedanken über die Zukunft zu 80 Prozent auf direkt Bevorstehendes beziehen. Die mittelfristige Zukunft, also die, die sich zum Beispiel auf den Urlaub im nächsten Jahr bezieht, macht 14 Prozent aus. Alles Langfristige, etwa wie die Welt in zehn oder 30 Jahren aussehen soll, macht gerade einmal sechs Prozent aus.

Das ist nicht besonders viel. Dabei ist es wenig hilfreich, dass ein großer Teil der Menschheit in der Welt der etwas ferneren Zukunft keine Verbesserungen mehr sieht. War die Zukunft in den 60er- und 70er-Jahren des 20. Jahrhunderts noch ein Ort des Fortschritts, des Friedens, der Freiheit und vor allem des Wohlstands, gleichen unsere heutigen Vorstellungen der ferneren Zukunft eher erschreckenden Dystopien, die sich Schriftsteller und Filmemacherinnen ausgedacht haben. Die Neuropsychologie weiß: Je beängstigender Zukunftsvorstellungen sind, desto passiver werden Menschen oft, wenn es darum geht, diese Zukunft zu vermeiden. Man nennt dieses Erstarren auch Kassandra-Syndrom. Die tragische Heldin der griechischen Mythologie sah das Unheil voraus und fand nie Gehör. Zuletzt zeigte der Umgang in der Corona-Pandemie, welch fatale Folgen solch ein Wegsehen haben kann: Das Beispiel des Kapitäns eines US-Flugzeugträgers, der seines Postens enthoben wurde, als er darauf hingewiesen hatte, dass sein Schiff innerhalb weniger Tage zu einem Covid-Hotspot werden könnte, ist nur eines unter vielen.

Statt einem antiken Verhaltensmuster zu folgen, könnten wir unsere Fähigkeiten, Zukunft zu gestalten, nutzen. Lösungsansätze gibt es genug: Die ökologische Landwirtschaft bietet sie, auch in Mobilität und Energiesektor wissen wir längst, wie wir klima- und umweltschonend wirtschaften können. Die Zukunft, vor der uns der Club of Rome vor 50 Jahren gewarnt hat, muss nicht unser Schicksal sein.

Planetare Grenzen: Wie lange wir sie überschreiten können

Wenn die Zukunft früher ein Raum der Möglichkeiten war, so ist sie heute einer der Notwendigkeiten. Wir müssen uns um Klima, Biosphäre, Entwaldung, Schadstoffe, Stickstoffkreisläufe und Süßwasser kümmern. „Die Erde ist ein Patient, dem es nicht gut geht“, sagte Johan Rockström vom Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK), einer der Autor:innen der Studie. „Wir wissen nicht, wie lange wir entscheidende Grenzen derart überschreiten können, bevor die Auswirkungen zu unumkehrbaren Veränderungen und Schäden führen“, so Rockström weiter.

Bei der Klimakrise übersteigt der Studie zufolge der CO2-Wert den von der Forschungsgruppe festgelegten Grenzwert um fast 19 Prozent. Was die Biosphäre angeht, also den lebenden Teil unseres Planeten, sehen die Forscher:innen die genetische Vielfalt bedroht. Das Aussterben von immer mehr Arten verändert ganze Ökosysteme, auch die gewaltigen Rodungen unserer Wälder übersteigen die kritische Schwelle. Wolfgang Lucht vom PIK, ein weiterer Co-Autor der Studie, sagt, beides müsse Hand in Hand gehen: „die globale Erwärmung begrenzen und eine funktionierende Biosphäre erhalten.“

Kann der Mensch die Welt retten?

Aber können wir die Erde wirklich retten, indem wir sie behandeln wie ein Arzt seinen Patienten? Ist es wirklich möglich, ein paar Rezepte auszustellen, die richtige Medikamentendosis festzulegen und dann wird das schon wieder? Übertragen würde das bedeuten, voll auf Technik zu setzen und weiter an unserem fatalen Verhältnis zur Natur festzuhalten, weiter so zu tun, als stünden wir außerhalb dieses Systems, als sei die Natur bloße Kulisse unseres Daseins. Aber ist sie das? Zahlreiche Wissenschaftler:innen weisen in eine andere Richtung. Der Philosoph Emanuele Coccia liefert in einem Interview mit dem „Philosophie Magazin“ ein schönes Beispiel. Beim Einatmen verwandelt sich demnach ein Teil der Welt in einen Teil von uns und beim Ausatmen verwandelt sich ein Teil von uns in einen Teil der Welt. Dieser „seltsame Tanz“, wie Coccia diese Wechselwirkung nennt, sei weder rein aktiv noch rein passiv.

Erinnert euch an das Idyll vom Anfang. Habt ihr die frische Luft, die angenehme Sonne, den sanften Wind gespürt? Sie waren Teil dieses Ortes. Es ist doch ermutigend zu wissen, dass wir das können: Uns als Teil des großen Ganzen zu empfinden und zu verstehen. Dann brauchen wir keine Angst vor der Zukunft zu haben.

Mehr zum Thema: Planetare Grenzen

www.pik-potsdam.de Auf der Website des Instituts finden sich zahlreiche Beiträge zu „globalen Belastungsgrenzen“.

www.philomag.de/sonder ausgaben Die im September 2023 unter dem Titel „Pflanzen“ erschienene Sonderausgabe enthält viele Beiträge, die zum Nachdenken über unser Verhältnis zur Natur anregen.

Veröffentlicht am

Kommentare

Registrieren oder einloggen, um zu kommentieren.

Das könnte interessant sein

Unsere Empfehlung

Ähnliche Beiträge