Kolumne

Die Macht der Gewohnheit

Was hat Bundeskanzler Olaf Scholz unter der Dusche mit Industriepolitik zu tun? Fred Grimm findet in seiner Kolumne einen Zusammenhang.

Es mag nicht der ideale Start ins neue Jahr sein, aber dürfte ich Sie trotzdem bitten, sich Olaf Scholz mal kurz beim Duschen vorzustellen? So ganz menschlich, als eine Art Verhaltensexperiment? Genau wie wir dürfte Herr Scholz sich dabei an die immer gleiche Reihenfolge halten: erst die Beine, dann die Arme, den Bauch, den unbehaarten Schädel – oder erst den Kopf und dann die Arme, wie auch immer. Wie bei uns Nichtkanzlern gehört das Duschen auch bei Herrn Scholz zu den Alltagsritualen, auf die sein Gehirn keinerlei Anstrengung mehr verwendet.

Wie mächtig solche Gewohnheiten sind, lässt sich durch einen Selbstversuch feststellen: Kehren Sie beim Waschen doch einfach mal Ihre übliche Routine um. Sie werden feststellen, wie mühselig und – letztlich – falsch Ihnen das vorkommt. Selbst kleine Veränderungen fallen erstaunlich schwer, eine Erfahrung, die sich erst recht im großen Ganzen zeigt, womit wir wieder beim inzwischen abgetrockneten und angekleideten Herrn Scholz wären. Vielleicht erinnern Sie sich noch an den Bundestagswahlkampf, in dem der Sozialdemokrat die „große Aufgabe des 21. Jahrhunderts“ beschwor: Die „zweite industrielle Revolution“. Nachdem über ein Jahrhundert lang fossile Energie wie Öl und Kohle unseren „Wohlstand“ begründet hätten, gehe es jetzt darum, mit der Kraft von Wind und Sonne eine zukunftssichere, klimaneutrale Wirtschaft zu schaffen.

Im Deutschland von morgen werde nur noch „sauberer“, mit Wasserstoffenergie erzeugter Stahl gekocht. Autos führen elektrisch, auch die chemische Industrie würde weiter gedeihen, verspricht Herr Scholz. In diesem seinem Industrieparadies bliebe eigentlich alles so, wie wir das gewohnt sind, nur eben jetzt irgendwie „grün“. Mich erinnert diese Vision an einen Vielduscher im Wassermangelgebiet, der nach Kritik an seinen vier täglichen Duschen lediglich die Seife wechselt.

Auch ein „Immer weniger“ an CO2-Emissionen wird das Grundproblem des „Immer mehr“ einer strikt wachstumsorientierten Industriepolitik nicht lösen.

Denn leider bleibt auch die „klimaneutrale“ Industrie der Zukunft eine, die den Raubbau an unseren begrenzten Ressourcen ungehemmt fortsetzt. Allein in einer Windkraftanlage auf hoher See stecken 67 Tonnen Kupfer, für die Bergleute fast 50.000 Tonnen Erde bewegen müssen, hat der Spiegel vorgerechnet. Und was wirklich gewonnen wird, wenn in Deutschland statt fünfzig Millionen Verbrenner- künftig fünfzig Millionen Elektroautos das Land verstopfen, habe ich auch noch nicht ganz verstanden – denn auch diese müssen erst einmal mit großem Materialaufwand gebaut werden.

Wir sollten uns nicht, nun ja, einseifen lassen. Auch ein „Immer weniger“ an CO2-Emissionen wird das Grundproblem des „Immer mehr“ einer strikt wachstumsorientierten Industriepolitik nicht lösen. So lange sich an der Ausbeutung und Vernichtung unserer Lebensgrundlagen durch die Wirtschaft nichts ändert, weil wir denkmüde lieber an alten Gewohnheiten festhalten, wird auch die zweite industrielle „Revolution“ eine sein, die diesen Ehrentitel nicht verdient.

Fred Grimm

Der Hamburger Fred Grimm schreibt seit 2009 auf der letzten Seite von Schrot&Korn seine Kolumne über gute grüne Vorsätze – und das, was dazwischenkommt. Als Kolumnist sucht er nach dem Schönen im Schlimmen und den besten Wegen hin zu einer besseren Welt. Er freut sich über die rege Resonanz der Leser und darüber, dass er als Stadtmensch auf ein Auto verzichten kann.

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