Morgennebel liegt in der Luft und das Geschrei von Gänsen, als Fischer Wolfgang Schröder ablegt, fünf Mann, vier Boote. Die Boote sind zu einer Insel vertäut. Unter dem Tuckern von Außenbordmotoren driftet sie durchs dämmrige Havelland, rund fünfzig Kilometer nordwestlich von Berlin. Den Rhin rauf, gen Gülper See.
Viel ist schon vorbeigetrieben an der Fischerei Schröder im Fluss der Jahrzehnte. Die Weimarer Republik. Zwei Weltkriege. Die DDR. Der Familienbetrieb konnte sich immer über Wasser halten. Wolfgang Schröder, Jahrgang ’66, führt ihn in vierter Generation. Doch wenn er den Blick in die Zukunft richtet, legt er seine Stirn in Sorgenfalten. „Als Fischer siehst du die Natur anders als als Landwirt“, sagt er. „Der Landwirt macht sich die Natur untertan. Ich muss auf die Natur achten, mich an ihr orientieren.“ Altbekannte Orientierungspunkte aber schwinden. Die Stechmücken etwa, die Abend für Abend ausschwärmen. Werden immer weniger, erzählt Fischer Schröder.
Prima, könnte man meinen. Schlecht, sagt Schröder. Weniger Regen. Weniger Feuchtgebiete für die Mückenlarven. Weniger zu futtern für den Fisch-
nachwuchs. Gerade der Hecht braucht das Frühjahrshochwasser, die überfluteten Wiesen, auch als Laichgründe. Darauf war früher Verlass. Seit einigen Jahren wird das Frühjahr immer trockener. „Es gibt keine Hochwasser mehr“, sagt Schröder. „Das letzte war ...“, er muss einen Moment überlegen: „... 2013.“
Süßwasserfische können nicht weiterziehen
Was Binnenfischer schon seit Längerem zu spüren bekommen, dämmerte vielen anderen Menschen in Deutschland in den zurückliegenden „Jahrhundertsommern“ – die eben genau das, Jahrhundertereignisse, nicht länger sind: Der Klimawandel ist kein abstraktes, fernes Phänomen mehr. Er geschieht im Jetzt. Auch unter der Wasseroberfläche schreitet die Veränderung voran – nicht nur in den Korallenriffen, ebenso in den Flüssen und Seen vor unserer Haustür. Wie grundlegend diese Lebensräume sich wandeln, verdeutlicht eine 2021 im Fachmagazin Nature veröffentlichte Studie zu Hitzewellen in Seen. Forschende hatten dafür Hunderte Gewässer weltweit betrachtet und festgestellt: Hitzewellen bringen immer höhere Temperaturen – und dauern immer länger. Ende des Jahrhunderts, so die Modellrechnung, dürften sie nicht mehr durchschnittlich eine Woche, sondern mehrere Wochen oder sogar einige Monate anhalten.
Mehr Hitze, weniger Sauerstoff: Die eingespielten Ökosysteme werden komplett umgekrempelt, mit fatalen Folgen. Denn Seen sind weitgehend geschlossene Systeme. Eigene kleine Welten. Einigen Süßwasserfischen wird es ergehen wie den Eisbären. Wenn ihr Teil der Welt sich verändert, können sie nicht einfach weiterziehen.
Müggelsee: Wegschauen geht nicht mehr
Ein stürmischer Herbsttag in Friedrichshagen, am östlichen Stadtrand Berlins. Wolken ziehen über den Himmel wie im Zeitraffer. Etwa 300 Meter vom Nordufer des Müggelsees schaukelt etwas zwischen den Wellen, das anmutet wie ein auf ein Floß geflanschtes Tiny House. Es ist eine Messstation, die zu den weltweit wichtigsten für die Langzeitbeobachtung von Seen zählt. Betrieben wird sie vom Leibniz-Institut für Gewässerökologie und Binnenfischerei, kurz IGB. Schon seit den Siebzigern wird der Müggelsee beforscht, damals noch von der Akademie der Wissenschaften der DDR. Seit gut zwanzig Jahren sammelt die IGB-Station in Echtzeit Daten zu Wind, Wetter und einer Reihe von Wasserwerten wie Temperatur, Sichttiefe und Sauerstoffgehalt.
In der Nacht zum 22. Oktober 2021 allerdings versiegte der Datenstrom vorübergehend. Sturmböen, Windstärke 11, schüttelten die Station heftig durch. Ein Feuerlöscher fiel von der Wand, er durchtrennte ein Kabel. Nun macht ein heftiger Herbststurm natürlich noch keinen Klimawandel. „Aber diese Extremwetterereignisse, das belegen alle Daten, nehmen eben zu“, sagt Rita Adrian. 1993 kam die Biologin ans IGB, 1995 veröffentlichte sie die erste deutsche Studie zu Klimawandelfolgen an Seen. Viele Veränderungen hätten sich schon damals abgezeichnet, sagt Adrian, während ihre grauen Locken im Wind tanzen. „Aber es muss immer erst drastisch werden, bevor die Politik reagiert.“ Beim 2022 veröffentlichten IPCC-
Weltklimabericht, der erstmals auch die Binnengewässer in den Fokus rückte, war Adrian eine der Leitautorinnen. Auf gewisse verzweifelte Weise dürfte sie fast froh sein: Die Veränderungen sind inzwischen drastisch genug. Wegschauen geht nicht mehr.
„Im globalen Schnitt hat sich das Oberflächenwasser von Seen seit Anfang der Achtzigerjahre alle zehn Jahre um 0,3 Grad erwärmt“, erklärt Adrian. Der Müggelsee, ein im Mittel kaum acht Meter tiefer Flachsee, erwärmte sich sogar fast doppelt so schnell. „Heute ist er im Schnitt fast vier Wochen kürzer zugefroren als noch vor dreißig, vierzig Jahren. Wir haben immer öfter auch Winter ganz ohne Eis.“
Das Klima, das damals in Berlin herrschte, ist inzwischen nach Südschweden „gewandert“. Bis zum Ende des Jahrhunderts, prognostiziert Adrian, werden die klimatischen Bedingungen am Müggelsee sein wie heute in Norditalien. Müggelsee, aber mediterran? Prima, könnte man meinen. Leider ist es ein bisschen wie mit den Stechmücken im Havelland.
Klimawandel: Warum Seen zu CO2-Quellen werden
Wenn Seen sich erwärmen, sind es nicht mehr dieselben Seen, nur wärmer. Sie werden andere Gewässer. Mit einem anderen, so nennen Fachleute das, thermischen Regime. Mit anderen Tieren. Anderen Pflanzen. Bei manchen Seen ändert sich auch ihre Rolle für den Klimawandel. Statt ihn zu bremsen, werden sie ihn zusätzlich beschleunigen. Verdunstet beispielsweise durch die Wärme mehr Wasser, können Uferbereiche trockenfallen. „Das dortige Sediment besteht in der Regel vor allem aus organischer Substanz“, so Adrian. „Der Kontakt mit dem Luftsauerstoff setzt einen mikrobiellen Abbau in Gang. Dadurch wird CO2 freigesetzt.“
Rita Adrian spricht von einer „positiven Rückkopplung“. Das ist nicht wertend gemeint, nichts daran ist positiv. Es bedeutet: ein Prozess, der sich selbst verstärkt. Weiteres Beispiel: Ein wärmerer See bedeutet weniger Eis und Schnee im Winter. Also weniger Reflexion von Sonnenstrahlen. Also noch stärkeres Aufheizen des Sees.
Und dann ist da noch die Sache mit der thermischen Schichtung. Rita Adrian nimmt ein Blatt Papier, malt ein U. Ein See. Oben auf das U zeichnet sie eine Wellenlinie – und etwas darunter eine zweite. Zwei Wasseroberflächen? In gewisser Weise ja. Die untere Linie ist die Sprungschicht. Im Sommer teilt sie den See. Oben das warme, aufgeheizte Wasser. Unten das kalte Tiefenwasser. Je heißer die Luft, je stärker die Hitzewellen, desto undurchlässiger die unsichtbare Barriere. Irgendwann ist es fast, als würden zwei gänzlich getrennte Seen übereinander liegen. „Da kannste durchschwimmen“, erklärt Adrian. „Aber da findet kein Stofftransport mehr statt.“ Der Sauerstoff bleibt oben. Die Nährstoffe unten. Diese Situation verlängert sich im Sommer mit dem Klimawandel. Kälteliebende Fische wie Maränen, Quappen oder Saiblinge müssen sich entscheiden zwischen Sauerstoffmangel (unten) und Hitzestress (oben). Auf Dauer geht das nicht gut. In unseren Breiten werden wir diese Arten wohl verlieren, sagt Adrian.
Wie Blaualgen vom Klimawandel profitieren
Es gibt auch Klimawandelprofiteure, klar. Die womöglich größten sind Blaualgen. Für die hohen Temperaturen der oberen Seeschicht sind sie wie gemacht – und an die Nährstoffe in der unteren gelangen sie durch einen Trick. Sie verfügen über Gasvakuolen, aus denen sie Luft ablassen können, um abzusinken. Haben sie unten genügend Nährstoffe gesammelt, füllen sie die Vakuolen wieder und steigen auf zum Licht, um Fotosynthese zu betreiben.
Dieser biochemische Fahrstuhl funktioniert derart gut, dass Blaualgen viele andere Arten verdrängen. Ihre grünen Teppiche überwuchern alles. Ihre Toxine können tierischen Seebewohnern wie auch Seewasser trinkenden Landtieren gefährlich werden. 2020 verendeten im Okawango-Delta in Botswana Hunderte Elefanten, lange rätselte man, woran. Wie sich herausstellte: an einer Blaualgenvergiftung.
Seen ändern sich: mehr Karpfen, mehr Algen
Von „Blaualgenkalamitäten“ (wie Rita Adrian das nennt) ist Fischer Schröder, bislang, verschont geblieben. Als er und seine Männer die Fischgründe am Gülper See erreicht haben, teilen sie die Bootsinsel in zwei mal zwei Boote: Je eines für die Fischer, eines für den Fang. Wolfgang Schröder dirigiert mit lauten Rufen: „Siehste den umgeknickten Baum am Ufer? Da fährste hin!“ Zwischen den Booten lassen sie über rasselnde Seilwinden ein Netz zu Wasser, Zentimeter um Zentimeter. Meter um Meter. Bis es Hunderte Meter sind. „So, geht los!“, ruft Wolfgang Schröder hinüber zum anderen Bootpaar, als das Netz im Gülper See verschwunden ist. „Jo!“, schallt es zurück. Die Bootpaare steuern mit den Netzenden aufeinander zu. Die Fischfalle schnappt zu. Händisch holen die Männer immer mehr Fischkörper aus dem Netz. Brassen. Noch mehr Brassen. Und da, ein Karpfen! „Einkellen!“, ruft Fischer Schröder. Und schiebt, als wäre es das Kleingedruckte, im leisen Brummelton hinterher: „Die Karpfen werden immer mehr. Eine Folge des Klimawandels.“
Der Gülper See im Havelland ist ein „grüner“ See: trüb, nährstoffreich, algenfreundlich also. Wie der Müggelsee in Berlin. „Grüne Seen werden mit dem Klimawandel grüner“, das ist eines von Rita Adrians zentralen Forschungsergebnissen. Durch die zunehmende thermische Schichtung des Sees sinkt der Sauerstoffgehalt in der unteren Seehälfte. In der Folge werden durch chemische Prozesse Phosphor und andere Nährstoffe aus dem Sediment am Grund des Sees freigesetzt – eine Art interne Düngung. Die Algen bekommen reichlich zu futtern. Auf der anderen Seite, so Rita Adrian: „Blau wird blauer“, das heißt: klarer. Denn in tiefen nährstoffarmen Seen funktioniert der Selbstdüngungsmechanismus nicht. Hier nimmt die grünliche Algenbiomasse durch die Klimaerwärmung ab. Wobei: Man muss, wenn die Dinge aus dem Gleichgewicht geraten, immer auf Überraschungen gefasst sein.
Forschungsobjekt: Rappbode-Stausee
Am Rappbode-Stausee im Harz läuft seit 2021 ein Forschungsprojekt des Helmholtz-Zentrums für Umweltforschung (UFZ). Koordiniert wird es von Tom Shatwell und seiner Kollegin Valeria Fárez. Shatwell, gebürtiger Australier, ist einer der Mitautoren der Nature-Studie über Hitzewellen. Die Anfahrt zu seinem Forschungsobjekt führt ihn über die 106 Meter hohe Staumauer des Sees, die höchste Deutschlands. Friedlich glitzert der Wasserspiegel. Darunter tummeln sich Forellen und Hechte, Maränen und Karpfen. Der Rappbode-Stausee ist ein tiefer, klarer, blauer See. Infolge der Klimaerwärmung müsste er blauer werden. Eigentlich. Aber das ist nicht gesagt, so Shatwell: „Seen sind sehr eigen. Es kann sein, dass zwei direkt nebeneinanderliegen und trotzdem komplett unterschiedlich sind.“ Viel hänge davon ab, was im Einzugsgebiet passiere, aus dem ein See sein Wasser bezieht. „Für alles, was physikalisch ist – Temperatur, Eis, Schichtung –, können wir relativ gute Vorhersagen treffen. Bei allem, was chemisch und biologisch ist, ist das nicht so einfach.“ Zu komplex.
Modelle zu entwerfen, die dennoch zuverlässige Prognosen erlauben, ist das Ziel der UFZ- und IGB-Wissenschaftler und ihrer internationalen Kolleginnen. Dafür brauchen sie Daten. Möglichst viele. Um weitere zum Rappbode-Stausee zu gewinnen, locken Shatwell und Fárez ihn in die Falle. Genauer: in Sedimentfallen. Oben offene Röhren, die an Seilen 16 Meter und 55 Meter unter der Wasseroberfläche befestigt sind. „Wir wollen sehen, wie viele Algen im See treiben, wie viele Nährstoffe, wie viel Kohlenstoff“, erklärt Shatwell. Einmal im Monat bergen sie die Sedimentfallen für eine Laboranalyse. So wie heute.
Auf der Bootsfahrt zu den Bojen, die die Lage der Fallen markieren, stehen am Ufer Dutzende kahle Fichten Spalier. „Stirbt einfach alles ab“, sagt Shatwell. Eine Folge der Jahrhundertsommer. Die wiederum Folgen haben für den See. Durch die toten Bäume gelangen mehr Nährstoffe ins Wasser. Womöglich lassen sie den See grüner werden – statt blauer. Doch im Wechselspiel der Rückkopplungen sind auch weitere Wendungen möglich. Sie stehen im Zentrum von Shatwells Forschungsprojekt.
Wie Fischer Schröder auf den Klimawandel reagiert
Am Nachmittag, als das Tagwerk getan und der Nebel strahlend blauem Himmel gewichen ist, zeigt Fischer Wolfgang Schröder eine zufriedene Miene. Die Tagesbilanz: 900 Kilo Brassen. Ein Zentner Karpfen. Zwanzig Kilo Hechte. Ein paar Krebse. Eine Wollhandkrabbe. Keine einzige Quappe, „die ein Problem mit dauerhaft wärmerem Wasser hat“. In den Fünfzigern, sagt Schröder, fing sein Vater im Jahr mehrere Tonnen davon. Die neuen Lokalmatadore, die Brassen, gelten eigentlich als Beifang. Wegen der vielen Gräten. „Die werden normalerweise entsorgt, landen in Biogasanlagen oder der Müllverbrennung.“
Durch einen kleinen Kniff brachte Schröder die Brasse zurück auf den Teller: Erst wird der Fisch, so weit wie möglich, filetiert. Anschließend im Zwei-Millimeter-Abstand geschnitten. „Die restlichen Gräten sind so klein, dass man sie unbemerkt essen kann.“ Die Idee brachte dem Fischereimeister einen Preis des Bundeslandwirtschaftsministeriums ein und einen Deal mit einer Berliner Bio-Ladenkette. Fischer Wolfgang Schröder immerhin ist es gelungen, auf den Wandel mit Wandel zu reagieren. Er kann sich erst mal weiter über Wasser halten.
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