Umwelt

Insektensterben: Sind Insekten nicht sexy genug?

Insekten sterben leise. Warum interessiert uns das so wenig? Sind sie nicht sexy genug? – Für unsere Ernährung jedenfalls ist ihr „Blümchensex“ unverzichtbar.

Die Roten Listen bedrohter Tier- und Pflanzenarten werden immer länger. Und eine Studie nach der anderen bestätigt, was sich schon seit Jahrzehnten abzeichnet: Es steht nicht gut um unsere Insekten. Laut einer viel beachteten Studie des Entomologischen Vereins Krefeld, dessen Mitglieder 27 Jahre lang das Vorkommen von Fluginsekten in Nordrhein-Westfalen erforschten, schwirrten im Jahr 2014 ganze 76 Prozent weniger Fluginsekten durch deutsche Schutzgebiete als noch 1989. Australische Wissenschaftler behaupten, dass es in 100 Jahren gar keine Insekten mehr geben wird.

– Man könnte ja denken: Und wenn schon? Bereits in der Bibel wurden Insekten als Plage beschrieben. Sie stechen und beißen, übertragen Krankheiten und vernichten ganze Ernten. Auch beim Autowaschen hat bislang niemand die im Sommer einst so zahlreich an der Windschutzscheibe klebenden Tierchen vermisst. Insekten, wer braucht die schon? –

Sexy hin oder her, wir brauchen sie. Ihr leises Sterben ist eine ökologische Katastrophe und hat einen hohen Preis für uns.

Gründe, warum Insekten sterben

Fast überall hat die industrielle Landwirtschaft seit Ende des Zweiten Weltkrieges unsere einst so vielfältige, kleinstrukturierte, durch Weiden, Hecken und Wiesen geprägte Kulturlandschaft verdrängt. Sterile, großflächige Agrarwüsten bieten Insekten weder Futter noch Lebensraum, und der Einsatz von Pestiziden tut sein Übriges, um das wenige Leben, das noch auf den Feldern herrscht, zu bedrohen. Auch Überdüngung mindert die Vielfalt auf unseren Äckern, denn viele insektenfreundliche Wildblumen wachsen ausschließlich auf nährstoffarmen Böden.

Dennoch wäre es falsch, die Landwirtschaft als alleinigen Verursacher des Insektensterbens zu verteufeln. Auch viele Privatgärten gleichen heute kargen Steinwüsten oder bringen mit leblos-akkuraten Rasenflächen kein Bienchen mehr zum Summen. Besonders problematisch ist zudem unser Hunger nach Land: 52 Hektar – das entspricht einer Fläche von 73 Fußballfeldern – werden in Deutschland täglich als Siedlungs- und Verkehrsfläche neu ausgewiesen. Gefräßig bedienen wir uns an ihren kostbaren Lebensräumen; würden statt Pflanzen und Tieren hier Menschen leben, wären deren Proteste weit über unsere Landesgrenzen hinaus zu hören.

Doch die Natur hat keine starke Lobby, und so wird es weder laut noch rebellisch, sondern gespenstig still. Und das nicht nur bei Tage: die meisten Insekten sind nachtaktiv und werden von Licht angezogen. Unzählige verenden erschöpft an künstlichen Lichtquellen, verlieren die Orientierung und werden in ihrem Jagd- und Fortpflanzungsvermögen gestört.

Welche Auswirkungen das Insektensterben hat

Schaffen wir es nicht, das Insektensterben zu stoppen, hat das dramatische Konsequenzen. Denn Insekten sind nicht nur Futter für Vögel und viele andere Tiere, sie zersetzen totes Material, erhöhen die Bodenfruchtbarkeit und reinigen unsere Gewässer. Laut Insektenatlas der Heinrich-Böll-Stiftung sind drei Viertel der weltweit wichtigsten Nutzpflanzen davon abhängig, dass Insekten ihnen bei der Bestäubung helfen.

Besonders bei Obst, Gemüse und Nüssen, unseren wichtigsten Vitamin- und Nährstofflieferanten, wird es durch den Mangel an Insekten immer häufiger zu Ernteausfällen kommen. Denn weder Äpfel noch Zucchinis oder Mandeln blühen so herrlich, um uns Frühlingsgefühle zu bescheren. Sie blühen, um Insekten anzulocken, veranstalten für die emsigen Sechsbeiner regelrechte Orgien, bei denen jeder mitmachen darf, wer auf ihren Pollen abfährt.

Was passiert wenn Insekten keine Blüten mehr bestäuben?

Auch für Schokoliebhaber ist das Insektensterben eine schlechte Nachricht: Kakaobäume werden von nur wenige Millimeter großen Gallmücken bestäubt, die in die schmalen Blütenköpfe krabbeln. Ohne Gallmücken keine Schokolade, ohne Bienen keine Äpfel, ohne Schmetterlinge keine Beeren – diese stark vereinfachte Aufzählung, die der Komplexität der verschiedenen Bestäubungsarten nicht gerecht wird, lässt sich endlos fortführen.

Insektensterben juckt uns nicht? Sollte es aber! Was wir von unserem Speiseplan streichen müssten, wenn es keine Insekten mehr gäbe, zeigte 2018 ein Supermarkt in Hannover. Zur Überraschung der Kundschaft wurden hier an einem Aktionstag alle Lebensmittel, die auf Bestäubung durch Insekten angewiesen sind, aus den Regalen genommen. Übrig blieben vor allem Produkte aus Getreide, Zucker, Kartoffeln oder Hülsenfrüchten, die sich selbst oder durch Wind bestäuben. 60 Prozent des Sortiments fehlten, etwa Obst und Gemüse, viele Süßwaren und Kaffee. Brauchen wir solche Aktionen, um zu verstehen, was auf dem Spiel steht?

Wie bestäubt man Blüten ohne Insekten?

Vielleicht interessiert uns das Insektensterben auch deshalb so wenig, weil die Sechsbeiner kostenlos für uns ackern. Weil wir ihre Leistung nicht entlohnen und keine Arbeitszeitstatistiken auswerten – außer vielleicht bei der Honigbiene, dem „kleinsten Nutztier der Welt“. Ironischerweise ist diese jedoch in puncto Bestäubung längst nicht so effizient wie ihre wilde Artgenossin, die Wildbiene. Würde die Insektenbestäubung in Deutschland komplett ausfallen, beliefe sich der wirtschaftliche Schaden auf etwa 1,13 Milliarden Euro pro Jahr. Importe würden teurer, Pflanzen müssten mit Drohnen oder per Hand bestäubt werden.

Auf vielen Obstplantagen in China, auf denen es infolge des massiven Einsatzes von Pestiziden fast keine Insekten mehr gibt, ist letzteres schon seit den 80er-Jahren Realität. Dabei werden körbeweise männliche Blüten von den Bäumen geerntet, ihre Pollen herausgeschüttelt und anschließend mithilfe kleiner Federwedel auf die noch an den Bäumen hängenden, weiblichen Blüten aufgetupft. Irgendwie unsexy, findet ihr nicht? Selbst im Billiglohnland China erscheint das Vorgehen absurd – bei uns in Deutschland wäre es zudem unbezahlbar. Doch es gibt Hoffnung. Dass uns Menschen per se die Bereitschaft fehlt, uns für Insekten stark zu machen, widerlegte 2019 das Volksbegehren „Rettet die Bienen“.

Was das Volksbegehren „Rettet die Bienen“ so erfolgreich werden ließ

Schlüsselfigur des Volksbegehrens „Rettet die Bienen“ in Bayern war die 40-jährige Agnes Becker, die sich schon seit ihrem 16. Lebensjahr in der Ökologisch-Demokratischen Partei ÖDP für den Schutz unserer Lebensgrundlagen engagiert. „Dass unsere Ökosysteme auf immer weniger kleinen Füßchen stehen, war für uns nichts Neues. Doch als die Ergebnisse der Krefelder Studie das dramatische Ausmaß des Insektensterbens belegten, wurde uns klar: Wir haben keine Zeit, auf die große Politik zu warten“, erzählt sie.

Was letztlich als erfolgreichstes Volksbegehren aller Zeiten in die Geschichte Bayerns einging, war zunächst jedoch vor allem eines: ein mühsamer, juristischer Prozess. Becker gesteht: „Einen neuen Gesetzentwurf zu schreiben und zu begründen ist gar nicht so einfach. Und dann galt es, die Menschen von der Wichtigkeit unseres Anliegens zu überzeugen.“ Das gelang ihr: Fast zwei Millionen bayerische Bürgerinnen und Bürger – knapp ein Fünftel der wahlberechtigten Bevölkerung – marschierten im Februar 2019 innerhalb von zwei Wochen in ihre Rathäuser und gaben ihre Stimme für die Bienen ab. – Ein legendärer Erfolg, der die Politiker dazu bewegte, den Gesetzentwurf anzunehmen.

Fast grenzt es an ein Wunder, was Agnes Becker zusammen mit Tausenden Ehrenamtlichen geschafft hat. Sie sagt: „Die Biene als Maskottchen ist ein Sympathieträger: sie ist fleißig und produziert Honig. Wir Menschen empfinden nun mal vor allem das, was wir kennen und uns nützt, als schützenswert.“ Beim Unterschriftensammeln fiel auf: Es waren oft die persönlichen Erfahrungen der Menschen, die sie an die Informationsstände und in die Rathäuser trieb. Früher, da konnte man am Muttertag einen riesigen Strauß Wildblumen gleich hinter dem Haus pflücken, erinnerten sich die einen. Es gab bei uns noch Kiebitze und Rebhühner, erzählten die anderen. „Gerade für ältere Menschen ist das Insektensterben keinesfalls nur ein unpersönliches Umweltphänomen, sondern ein echter Verlust, den sie als solchen empfinden“, weiß Agnes Becker.

So könnt auch ihr Insekten schützen

Gestaltet Eure Gärten und Balkone insektenfreundlich! Jedes Fleckchen Erde ist potenzieller Lebensraum für Insekten. Wer insektenfreundliche Blumen und Pflanzen sät, etwas Wildnis im Garten zulässt, den Rasen seltener mäht und nachts überflüssige Lichtquellen ausschaltet, leistet bereits einen wichtigen Beitrag. Insektenhotels bieten unseren sechsbeinigen Freunden ein Zuhause. Weitere Tipps gibt's beim Nabu.

Was braucht es, damit wir Insekten schützen? Missernten und Schokoladenentzug? Zahlen und Fakten, die ihren wirtschaftlichen Nutzen belegen? Erinnerungen an früher, als die Wiesen noch bunt und Blümchensex noch an der Tagesordnung war? – Was immer uns anrührt, bewegt oder überzeugt: Wir sollten uns dafür stark machen.

Wer bist du denn?

https://insektentrainer.nabu.d...

Was fliegt denn da? - Der Insektenbestimmungsschlüssel des NABU hilft bei der Orientierung.

https://www.boell.de/de/insekt...

Daten und Fakten rund um Insekten, Landwirtschaft, zögerliche Politik und dringend notwendige Insektenschutzmaßnahmen. Kostenlos als PDF verfügbar.

Interview: „Zurück in die Zukunft!“

Dr. Josef Settele ist Biologe, Wissenschaftler und Professor am Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung und berät als Mitglied des Sachverständigenrates für Umweltfragen die Bundesregierung.

Herr Settele, bekommt das Insektensterben genug mediale Aufmerksamkeit?

Das Insektensterben wird oft unter dem Begriff „Biodiversitätsverlust“ mit abgefrühstückt. Im Vergleich zum Klimawandel wird darüber relativ wenig berichtet. Auch seitens der Bevölkerung besteht zwar zunehmendes, aber immer noch relativ wenig Interesse. Zerstört der Borkenkäfer allerdings ganze Wälder oder bedroht der Buchsbaumzünsler unsere Gartenhecken, berührt uns das – viel eher noch als die Tatsache, dass Insekten bei der Bestäubung der Pflanzen fehlen.

Und wie sieht es mit der politischen Aufmerksamkeit aus?

2017 wurde Insektenschutz erstmals im Bundestag thematisiert. Ihr Sterben bedroht unsere Nährstoffversorgung; wir brauchen angemessene Gesetze, um dem entgegenzuwirken. Der nun vom Kabinett auf den Weg gebrachte Gesetzentwurf soll die Verwendung bestimmter Biozide beschränken und die Lichtverschmutzung reduzieren – doch da ist noch viel Luft nach oben. Pflanzenschutzmittel sind noch nicht mit erfasst. Der Entwurf ist ein Schrittchen in die richtige Richtung, greift aber in Sachen Landnutzung sowie Flächenverlust durch Bebauung viel zu kurz bzw. behandelt sie gar nicht.

Wie könnten wir in Deutschland Insekten besser schützen?

Vor 80 Jahren war unsere Landschaft kleinteilig strukturiert. Es gab Hecken gegen die Erosion; Pestizide und Düngemittel, wie wir sie heute kennen, dagegen kaum oder gar nicht. Aus Insektenschutzperspektive wurde damals vieles richtig gemacht! Wir sollten eine solche Landschaft und Landwirtschaft wieder ermöglichen, wobei ich damit uns alle meine. Denn die Landwirte produzieren, was die Politik fördert und was wir Verbraucher nachfragen. Wir müssen unseren Konsum ändern: weniger Fleisch, mehr Regionales, weniger Importe. Idealerweise sollten wir „zurück in die Zukunft“ – das würde den Insekten helfen.

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