Umwelt

Fukushima: Danach war alles anders!

Vor fünf Jahren explodierten die Reaktoren von Fukushima. Noch immer ist die Region radioaktiv verseucht. Was macht das mit den Menschen – dort und hier?

Der 11. März 2011 war in Japan wie anderswo ein ganz normaler Freitag – bis 14 Uhr 46 Ortszeit. Da bebte die Erde vor der japanischen Ostküste so stark wie nie zuvor. Eine halbe Stunde später brachen bis zu 15 Meter hohe Tsunami-Wellen über Städte und Dörfer herein. Die Bilanz des Schreckens: Fast 19 000 Tote, über eine halbe Million Obdachlose und ein schwer beschädigtes Atomkraftwerk, Fukushima Daiichi. Seitdem steht der Name der Stadt und der Präfektur Fukushima als Synonym für einen Zeitenwandel in der Beurteilung der Atomenergie.

Fukushima: Eine Japanerin berichtet

Vier Tage nach der Katastrophe veröffentlichte Yoko Schlütermann ihren ersten Aufruf. Die in Deutschland lebende Japanerin wollte helfen – und tut es bis heute. Die Deutsch-Japanische Gesellschaft Dortmund, deren Vorsitzende sie ist, sammelt Spenden und schenkte damit bisher 1000 Kindern aus Fukushima einige unbeschwerte und erholsame Ferienwochen in Okinawa – weit weg von einem immer noch absurden und riskanten Alltag. Im November 2015 hat Yoko Schlütermann Fukushima zum dritten Mal nach der Katastrophe besucht und war frustriert. „Ich sehe gar keinen Fortschritt. Das einzige, was immer mehr wird, sind die schwarzen Säcke mit kontaminierter Erde. Und keiner weiß, wohin damit.“ Als die Reaktorblöcke von Fukushima Daiichi brannten und explodierten, trieb der Wind den Großteil der freigesetzten Radioaktivität hinaus auf den Pazifik. Später drehte der Wind, es regnete, und die strahlenden Partikel verseuchten die Umgebung des Kraftwerks und die Region im Nordwesten davon.

Die Menschen im Umkreis von 20 Kilometern um das AKW sowie aus weiteren belasteten Ortschaften wurden evakuiert. Seither versuchen die Regierung und der AKW-Betreiber Tepco, die weniger verstrahlten Gebiete zu dekontaminieren. Tausende Arbeiter reinigen Gebäude, tragen den Boden ab und verstauen das strahlende Material in schwarze Plastiksäcke.

Offizielles Ziel ist es, die örtliche Strahlenbelastung auf weniger als 20 Millisievert (mSv) pro Jahr zu senken. Ist das gelungen, sollen die Menschen zurückkehren, etwa in die Stadt Minamisoma am Rande des Sperrgebiets. Doch sie wollen nicht, berichtet Yoko Schlütermann. „Ich habe dort mit dem Leiter eines neu errichteten Bürgerzentrums gesprochen. Er rechnet damit, dass etwa zehn Prozent der Einwohner wiederkommen, vor allem alte Menschen. Die Jungen und die Familien kehren nicht zurück.“ Ähnliche Nachrichten gibt es auch aus anderen inzwischen freigegebenen Ortschaften. „Die Menschen glauben den Erklärungen nicht. Sie wissen, dass es überall Hot Spots gibt“, sagt Yoko Schlütermann.

In der Stadt Iwaki, 30 Kilometer südlich des AKW, leben zahlreiche Evakuierte immer noch in provisorischen Unterkünften. Die Stadt gilt amtlicherseits als sicher. „Doch die Leiterin einer von einer Initiative betriebenen Messstelle hat mir erzählt, dass sie hier Hot Spots gefunden haben. Die Schulwege sind sauber, aber schon in den Gräben daneben kann die Belastung weitaus höher sein und Kinder toben nun mal.“ Viele Eltern würden deshalb ihre Kinder zur Schule fahren und sie auch sonst wenig aus dem Haus lassen. „Die Mütter haben Angst um ihre Kinder.“

Radioaktivität: Wie belastet sind die Lebensmittel?

Die Präfektur Fukushima lebt von Landwirtschaft und Fischfang. Doch seit dem GAU kaufen viele Menschen keine Lebensmittel aus Fukushima mehr. Dabei ließ die Präfektur allein 2012 10 Millionen Säcke Reis überprüfen. Ganze 71 überschritten den japanischen Grenzwert von 100 Becquerel je Kilogramm (Bq/kg). In der EU sind übrigens bis zu 600 Bq/kg erlaubt. Das japanische Gesundheitsministerium untersuchte 2015 (bis Ende November) über 28 000 Proben aus der Präfektur und fand 66 Grenzwertüberschreitungen. Sie betrafen vor allem Pilze, wild wachsende Pflanzen und Wildschweinfleisch. Von über 6000 Fischprodukten waren sechs zu hoch belastet. Der Importeur Arche Naturküche hat in den vergangenen fünf Jahren keine radioaktive Belastung in japanischen Lebensmitteln gefunden. „Wir lassen, um ganz sicher zu gehen, trotzdem bis auf Weiteres jede ankommende Charge untersuchen“, so Geschäftsführer Stefan Schmidt.

Mehr Fälle von Schilddrüsenkrebs als erwartet

Nicht ohne Grund: Die Präfektur Fukushima hatte vorsichtshalber die Schilddrüsen von 300 000 Kindern und Jugendlichen per Ultraschall untersuchen lassen. Dabei wurden insgesamt 137 Fälle von Schilddrüsenkrebs entdeckt. Das sei rund das 30-Fache dessen, was üblicherweise an Erkrankungen zu erwarten wäre, stellte Professor Toshihide Tsuda von der Okayama Universität fest, als er die Ergebnisse auswertete. „Es steigert sich schneller als erwartet.“

Erwartet deshalb, weil die Atomkatastrophe von Tschernobyl 1986 gezeigt hatte, dass das freigesetzte radio-aktive Jod Schilddrüsenkrebs bei Kindern verursacht. Doch dort stiegen die Krebszahlen erst nach fünf Jahren deutlich an. „Wir sollten darauf vorbereitet sein, dass in den nächsten Jahren noch mehr Fälle auftreten“, schrieb der Mediziner Tsuda im Oktober 2015 in einer Fachzeitschrift. Er vermutet, dass im März 2011 weitaus mehr radioaktives Jod freigesetzt wurde als bisher angenommen. Das Jod hat seinen Schaden in den ersten Tagen nach der Katastrophe angerichtet und ist inzwischen zerfallen.

Doch das radioaktive Cäsium, das für die Strahlung der Hot Spots verantwortlich ist, hat eine Halbwertszeit von 30 Jahren. Es wird die Menschen noch über Generationen begleiten.

Warum „wegziehen“ für viele Japaner keine Alternative ist

Eigentlich Grund genug, die Region zu verlassen. Doch damit tun sich viele der Betroffenen schwer, weiß Yoko Schlütermann. „Es gibt in Japan die Kultur der Familiengrabstätte, in der die Ahnen über Generationen hinweg begraben wurden. Es ist die wichtigste Aufgabe des ältesten Sohnes, dieses Familiengrab zu pflegen. Da zieht man nicht einfach weg.“

Rund 100 000 Menschen leben immer noch in Notunterkünften in anderen Städten in der Präfektur Fukushima oder weiter weg. Sie wollen gerne zurück, trauen aber den Versprechungen der Regierung nicht. Während in anderen vom Tsunami heimgesuchten Regionen der Wiederaufbau langsam vorangeht, herrscht rund um das AKW weiter Unsicherheit.

Interview

Sechs Fragen an Jochen Stay, dem Sprecher der bundesweit tätigen Anti-Atom-Organisation „ausgestrahlt“.

Herr Stay, was hat Fukushima in den Köpfen der Deutschen bewirkt?

Durch die Katastrophe hat sich die vorher schon vorhandene mehrheitliche Ablehnung der Atomenergie noch einmal deutlich verstärkt, von 60 auf mehr als 80 Prozent. Das Lager der Befürworter und Befürworterinnen ist hingegen stark geschrumpft.

Und der Bundestag beschloss daraufhin den Ausstieg.

Der Bundestag hat 2011 beschlossen, die Hälfte der aktiven Reaktoren sofort stillzulegen, die andere Hälfte aber noch bis zu elf Jahre weiter laufen zu lassen. Das war eine sehr gelungene PR-Maßnahme, diesen Weiterbetrieb als Ausstieg zu verkaufen. Seither wird vom Ausstieg geredet, als sei er schon vollzogen.

Was hat das für Folgen?

Ich treffe immer wieder Menschen, die gehen davon aus, dass längst alle AKWs abgeschaltet sind. Dabei wird völlig übersehen, dass wir mit den derzeit laufenden acht Reaktoren nach Frankreich immer noch der zweitgrößte Atomstromproduzent der EU sind. Diese Reaktoren werden immer älter, immer störanfälliger und die Betreiber investieren nichts, um sie sicherer zu machen. Deshalb müssen sie jetzt stillgelegt werden.

Dann ist da noch der Atommüll, von dem keiner weiß, wohin.

Das größte Problem, das wir derzeit haben, sind die acht laufenden Reaktoren. Wir brauchen sie nicht, aber sie produzieren weiter Müll. Wenn bei mir die Badewanne am Überlaufen ist, dann drehe ich zuerst den Hahn zu und dann schaue ich, wie ich den Schaden begrenzen kann. Doch die Bundesregierung will den Hahn stattdessen weiter aufdrehen.

Das müssen Sie ein wenig genauer erklären.

Seit 2010 zahlen die AKW-Betreiber für jedes Gramm Uran, das sie als Brennstoff einsetzen, eine Brennelementesteuer. Diese Steuer will die Bundesregierung Ende 2016 auslaufen lassen. Diese massive Steuerbefreiung schenkt den Konzernen fünf bis sechs Milliarden Euro. Sie macht den Betrieb der Kraftwerke wieder rentabel, hält sie länger am Netz und ist einfach das völlig falsche Signal.

Wissen Sie schon, wo Sie am 11. März 2016 sein werden?

Ich werde auf einer der vielen Mahnwachen sprechen, zu denen wir an diesem Tag aufrufen. Damit wollen wir auch daran erinnern, dass eine solche Katastrophe auch bei uns jederzeit passieren kann, solange die Reaktoren noch laufen.

Japan setzt noch immer auf Atomkraft

Auch vom Gelände des Kraftwerkes kommen kaum gute Nachrichten. Regelmäßig gelangt verseuchtes Kühlwasser ins Meer. Wie es im Inneren der zerstörten Reaktoren aussieht, ist nach wie vor nicht bekannt. Die Bergung der zum Teil geschmolzenen Reaktorkerne wird Jahrzehnte dauern. „Für die Erkundung des Reaktorinneren als auch für die eigentliche Bergung müssen die erforderlichen Techniken und Methoden in größerem Umfang erst noch entwickelt werden“, schreibt die deutsche Gesellschaft für Reaktorsicherheit in ihrem aktuellen Fukushima-Bericht. 80 Milliarden Euro soll der Abriss kosten. Zusätzlich hat der Staat bisher 50 Milliarden Euro für Aufräumarbeiten und Entschädigungen ausgegeben.

Nach der Katastrophe hat die japanische Regierung ein Gesetz zur Förderung erneuerbarer Energien verabschiedet und damit einen Boom beim Bau von Photovoltaik-Anlagen ausgelöst. Auch entsteht derzeit vor der Küste Fukushimas eine schwimmende Windkraftanlage mit sieben Megawatt Kapazität. Doch noch kommen nur zehn Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien. Bis 2030 will die Regierung den Anteil mindestens verdoppeln.

Als „wenig ehrgeizig“ bezeichnete das Fachblatt Japanmarkt den amtlichen Energieplan. Er sieht auch die Wiederinbetriebnahme zahlreicher Atomkraftwerke vor. Sie blieben nach dem Erdbeben abgeschaltet und werden seither auf ihre Sicherheit überprüft. Zwei AKWs gingen 2015 wieder ans Netz. Weitere sollen folgen, denn Japans Premierminister Shinzo Abe setzt auf Atomkraft. „Schade, dass die Regierung aus Hiroshima, Nagasaki und Fukushima gar nichts gelernt hat, ich bedauere das sehr“, sagt Yoko Schlütermann.

Der Widerstand wächst

Doch inzwischen setzen sich die Menschen in den betroffenen Regionen mit Demonstrationen und Klagen zur Wehr, allen voran Hirohiko Izumida. Er ist Gouverneur der Präfektur Niigata, in der Kashiwazaki-Kariwa liegt, das leistungsstärkste AKW der Welt mit sieben Reaktoren. Die möchte Tepco gerne wieder in Betrieb nehmen. Doch Izumida bezeichnet Tepcos Vorgehen als „institutionalisiertes Lügen“.

„Diese deutlichen Ansagen, dieser Widerstand, das ist eine neue Entwicklung“, sagt Stefan Schmidt, Geschäftsführer von Arche Naturküche. Das Unternehmen importiert seit über 30 Jahren Bio-Lebensmittel aus Japan. „In der japanischen Kultur kritisiert man Probleme oder Fehler nicht so offen wie bei uns“, weiß er. Da ist es schon etwas Besonderes, wenn in Tokio 20 000 Menschen gegen Atomkraft demonstrieren, wie 2015 zum vierten Jahrestag von Fukushima.

Warum Deutschland aussteigt

In Deutschland gingen am 26. April 2011, aufgewühlt vom GAU in Fukushima und dem 25. Jahrestag der Atomkatastrophe von Tschernobyl, 250 000 Menschen auf die Straße.

Sechs Wochen später erklärte Bundeskanzlerin Angela Merkel im Bundestag: „Fukushima hat meine Haltung zur Kernenergie verändert.“ Die Abgeordneten der Regierungskoalition machten die ein Jahr zuvor beschlossenen Laufzeitverlängerungen für die deutschen AKWs rückgängig und beschlossen endgültig den Ausstieg. Ende 2022 werden mit Ohu 2 und Emsland die letzten deutschen Reaktoren vom Netz gehen. Seither ist es still geworden um die Atomkraft – obwohl immer noch acht Reaktoren laufen und es in diesen Kraftwerken 2014 insgesamt 68 „meldepflichtige Ereignisse“ gab. Eine Zahl, die im langjährigen Mittel liege, schrieb dazu übrigens das Bundesamt für Strahlenschutz.

Die energiepolitische Debatte dreht sich in Deutschland seit 2011 vor allem um die Erneuerbaren Energien. Sie haben in den vergangenen Jahren einen enormen Siegeszug angetreten. Den Grundstein dafür hatte das Erneuerbare Energien Gesetz (EEG) schon vor Jahren gelegt. Fukushima setzte zusätzliche Energie frei. Immer mehr Menschen engagierten sich für den Umbau der Energieversorgung vor Ort. Die Zahl der Bürgerenergiegenossenschaften hat sich seit 2011 auf fast 1000 verdoppelt. 2015 deckten Erneuerbare Energien fast ein Drittel des deutschen Stromverbrauchs. Doch tut sich die Energiewende hierzulande zunehmend schwer: Immer öfter wehren sich Initiativen gegen Windkraftanlagen vor ihrer Haustür. Industriekonzerne wettern gegen die Öko-Strom-Zulage. Die Bundesregierung will die Förderbedingungen ändern und bremst damit die Energiegenossenschaften aus.

Wer zahlt den Ausstieg?

Dennoch: Der Erfolg der Erneuerbaren hat die großen Atomkonzerne RWE, Eon, EnBW und Vattenfall ins Schlingern gebracht. Sie haben versäumt, in Windräder und Photovoltaik zu inves-tieren. Ihre vielen Atom- und Kohlekraftwerke lassen sich nicht mehr wirtschaftlich betreiben und fahren Milliardenverluste ein. Deshalb wird eine Frage immer wichtiger: Wer zahlt am Ende? Denn mit dem Abschalten der Reaktoren ist es nicht vorbei. Der Rückbau der AKWs und die Endlagerung des radioaktiven Mülls werden Milliarden kosten. Dafür haben die Konzerne zwar 39 Milliarden Euro Rücklagen gebildet. Doch schmelzen diese durch die schlechte wirtschaftliche Lage der Konzerne wie die Gletscher im Klimawandel. Jochen Stay von der Initiative „.ausgestrahlt“ fordert deshalb: „Die Politik muss diese Rücklagen in Sicherheit bringen, solange sie noch da sind.“

Mehr zum Thema


Yoko Schlütermanns Hilfsaktion für die Kinder von Fukushima.

Aktuelles aus Fukushima
auf Deutsch.

Die atomkritische Ärzteorganisation IPPNW berichtet über die gesundheitlichen und Umweltfolgen der Katastrophe.

Japanologen übersetzen Texte zu Fukushima und japanischer Politik ins Deutsche.

Das Aktionsportal der Anti-Atom-Organisation.

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