Noch vor dem ersten Sonnenlicht fährt Steffen Schnorrenberg mit seinem Kutter hinaus auf die Ostsee und holt seine Netze ein. Der Küstenfischer von der Insel Hiddensee fängt Scholle und Flunder. Sein wichtigster Fisch aber ist der Hering. Die Heringsschwärme kommen auf ihrer Wanderschaft durch das Meer jedoch erst im neuen Jahr wieder an den Stellnetzen von Schnorrenberg vorbei. Gut möglich, dass er sie dann aber gar nicht fischen darf. Denn der Bestand des Herings in der westlichen Ostsee ist so stark geschrumpft, dass der Internationale Rat für Meeresforschung ein Fangverbot empfohlen hat.
CTD-Sonden mit Kranzwasserschöpfer messen Temperatur und Salzgehalt bis in die Tiefen des Meeres.
Über die Ursachen des Heringsschwunds wird viel gestritten. Der Fischereiverband bestreitet gar, dass der Hering weniger wird. Die Netze der Fischer seien voll, heißt es dort. Andere suchen die Schuld bei den Kegelrobben. Da Heringe zu ihrer Beute gehören, werden die Raubtiere von vielen Fischern als Konkurrenten empfunden. „Die Robben fressen mir die Heringe aus dem Netz. Die denken, das ist eine Imbissbude“, flucht auch Fischer Schnorrenberg. An den Kegelrobben liege es aber nicht, sagt Christopher Zimmermann, Leiter des Thünen-Instituts für Ostseefischerei in Rostock. Der Forscher nennt einen anderen Grund für die Misere: „Der Hering produziert immer weniger Nachwuchs“, sagt Zimmermann. Lange Zeit sei unklar gewesen, wie es zu dem Nachwuchsproblem kommt. Jetzt, nach zehn Jahren Forschung, sei das Rätsel aber gelöst: „Dem Heringsnachwuchs werden die steigenden Wassertemperaturen zum Verhängnis.“
Dem Heringsnachwuchs werden die steigenden Wassertemperaturen zum Verhängnis.
25 Grad Celsius – an manchen Tagen im zurückliegenden Sommer war die Ostsee so warm wie das Mittelmeer. Im Juli erreichte sie einen neuen Rekord. Da lag die Wassertemperatur im Mittel bei 20 Grad und damit 0,5 Grad über dem letzten Höchstwert im Juli 2014. Im Jahresdurchschnitt ist die Ostsee mit unter 10 Grad Celcius zwar sehr viel kühler. Doch auch dieser Wert hat sich erhöht. Seit 1990, seitdem Wettersateliten mehrmals täglich das Oberflächenwasser abscannen, um 1,62 Grad.
Mit der Temperatur ändern sich auch die Gewohnheiten. Heute kann Fischer Schnorrenberg schon im Januar die ersten Heringe fangen. „Noch vor 15 Jahren haben wir erst im März mit dem Heringsfischen begonnen“, erzählt der 47-Jährige. Mittlerweile aber kommen die Schwärme früher zum Laichen in den Greifswalder Bodden, wie auch Forscher Zimmermann berichtet. In der Bucht zwischen den Inseln Rügen und Usedom werden die meisten Heringe der westlichen Ostsee geboren. Das wärmere Wasser beschleunigt laut Zimmermann auch den Geburtsvorgang. „Die Entwicklung vom Ei zur Larve geht schneller“, sagt er. Problematisch an dieser Frühgeburt: Es mangelt an ausreichend Nahrung. Heringslarven vertilgen den Nachwuchs von anderen Ostseebewohnern, von Kleinkrebsen. Diese wiederum zeigen sich aber von der Erwärmung unbeeinflusst und schlüpfen später. Die Fischlarven gehen daher leer aus und verhungern. So habe sich der fischbare Heringsbestand seit den 1990er-Jahren halbiert. Beim Kabeljau in der Nordsee haben Forscher eine ähnliche Beobachtung gemacht. Auch seinem Nachwuchs ging wegen der gestiegenen Wassertemperatur die Nahrung aus. Folglich hat der beliebte Speisefisch seine Laichgründe weiter nach Norden, in kühlere Regionen verlagert.
Klimawandel im Meer
Dieser Wandel im Meer hängt Experten zufolge eng mit dem Klimawandel zusammen. Ob in der Ostsee, der Nordsee, im Golf von Mexiko, vor der Westküste Australiens oder in der Arktis – rund um den Globus kommen die Meere ins Schwitzen, selbst in der Tiefsee. Sie nehmen laut dem Weltklimabericht 93 Prozent der Wärme auf, die angekurbelt durch den Treibhauseffekt im System Erde entsteht. Die Meere speichern diese Energie in ihrem Wasserkörper und puffern auf diese Weise die Erwärmung der Atmosphäre ab. Dafür heizt sich das Meerwasser auf. Nicht einheitlich und auch nicht kontinuierlich – in manchen Regionen kühlt sich der Ozean auch mal ab – doch über einen langen Zeitraum betrachtet, zeigt die Temperaturkurve nach oben.
Steigende Temperaturen im Meer
Seit den ersten flächendeckenden Messungen Anfang der 1970er-Jahre haben sich die Weltmeere pro Dekade um durchschnittlich 0,11 Grad Celsius erwärmt. Das klingt nach nicht viel, reicht aber aus, um die Meereswelt merklich zu verändern. Die große Frage ist, ob sich Natur und Mensch schnell genug an diese Veränderungen anpassen können. Als eine der größten Bedrohungen für den Menschen, die mit der Meereserwärmung einhergeht, gilt der Anstieg des Meeresspiegels. An Nord- und Ostsee lassen Küstenschützer deswegen Dämme und Deiche verstärken.
In der Deutschen Bucht kommt er heute kaum noch vor. Die südliche Nordsee ist zu warm geworden. Nicht für den Kabeljau direkt, aber für den Ruderfußkrebs, von dem sich die Larven des Kabeljaus ernähren.
Wie düster die Zukunft der Unterwasserwelt aussehen könnte, zeigte sich Anfang 2016 vor der Ostküste Australiens. Eine sechs Wochen andauernde Hitzewelle setzte dort dem nördlichen Great Barrier Reef zu. Die Wassertemperaturen lagen bei 34 Grad, zwei bis drei Grad über den Normalwerten. Für die Korallen des berühmten Riffs, die noch unter anderen Stressfaktoren, etwa der Versauerung des Meeres, leiden, war das zu viel. 30 Prozent ihres Bestands wurden laut Untersuchungen der australischen James-Cook-Universität zerstört.
Ungefähr zur selben Zeit litten auch die Meeresbewohner vor der nordamerikanischen Pazifikküste unter sehr hohen Wassertemperaturen, bisweilen sieben Grad über dem Normalwert. Auslöser für diese marine Hitzewelle war US-Wissenschaftlern zufolge ein dauerhaft anhaltendes Hochdruckgebiet über dem Golf von Alaska. Bis in den Sommer 2016, insgesamt über mehr als zweieinhalb Jahre zog sich diese heiße Phase. „The blob“ wurde das betroffene Meeresgebiet getauft. „Der Klecks“, wie der Name ins Deutsche übersetzt heißt, war riesig. Er reichte von der Küste Alaskas bis nach Mexiko. Die Folgen waren dramatisch. Das gesamte Nahrungssystem sei zusammengebrochen, so die Bilanz der US-Forscher. Grünalgen und Kleinkrebse, die am unteren Ende der Nahrungskette stehen, waren massiv zurückgegangen. Zehntausende Seevögel, die sich von kleinen Fischen und Krebsen ernähren, verendeten. Auch für Wale war nicht mehr genug da. Auf der Suche nach Nahrung zog es die Meeressäuger näher an die Küste, wo sie sich in Leinen und Netzen von Fischern verfingen. Vergleiche mit früheren Aufzeichnungen zeigten: Noch nie zuvor hatte es eine an Dauer und Ausmaß vergleichbare Hitzewelle im Meer gegeben.
Todeszonen im Meer
Neben all diesen Entwicklungen beobachten Forscher auch mit Sorge die Ausweitung von sauerstoffarmen Meereszonen. Höheres Leben kann dort kaum existieren. Als Hauptursache gilt die Überdüngung der Gewässer mit Nährstoffen aus der Landwirtschaft und aus Abwässern. Über Flüsse gelangen diese Stoffe ins Meer und führen – befeuert durch die Erwärmung – zu einer intensiven Algenblüte. Die Luftnot setzt dann ein, wenn die Algen absterben und von Bakterien vertilgt werden, denn diese Mikroorganismen zehren dabei den Sauerstoff im Wasser auf. Je mehr Algen, desto intensiver der Verbrauch – und desto geringer die Überlebenschancen für Fische, Muscheln und Krebse. Diese „Todeszonen“ befinden sich auch in der Ostsee. Sie erstrecken sich dort sogar über insgesamt fast 70 000 Quadratkilometer – so viel wie nirgendwo sonst auf der Welt. Dieses Ausmaß habe aber nicht nur mit dem Klimawandel zu tun, wie Michael Naumann, Ozeanograf am Leibniz-Institut für Ostseeforschung Warnemünde, einwendet. Ursächlich sei vielmehr die Becken-Struktur des Binnenmeeres: „Man muss sich den Grund der Ostsee wie eine Aneinanderreihung von Badewannen vorstellen“, so Naumann weiter. Ohne ausreichend Westwind gelange nur wenig sauerstoffreiches Wasser aus der Nordsee über die Wannenränder in die Ostseebecken.
Dennoch: Wenn sich die Ostsee zum Wohlfühlbecken für Algen und Bakterien aufheizt, kann das auch für Menschen gefährlich werden. Blaualgen beispielsweise scheiden Stoffe aus, die zu Hautreizungen, Schwindel und Erbrechen führen können. Vibrionen können sogar lebensgefährliche Infektionen auslösen. Diese Bakterien kommen natürlicherweise im Meerwasser vor. Ab 18 bis 20 Grad vermehren sie sich explosionsartig. Über Verletzungen der Haut können sie in den menschlichen Körper gelangen. Dem Landesamt für Gesundheit in Mecklenburg-Vorpommern wurden in diesem Sommer elf Infektionen mit Vibrionen gemeldet – angesichts von Millionen Badegästen eine überschaubare Zahl. Getroffen habe es Menschen mit chronischen Vorerkrankungen wie Diabetes oder mit Immunschwäche, wie die Behörde mitteilt. In einem Fall führte die Infektion zum Tod.
Zu den gesundheitlichen Risiken und den verheerenden ökologischen Auswirkungen der Meereserwärmung kommen die ökonomischen Belastungen. Betroffen sind vor allem Millionen Menschen in Entwicklungsländern, die ihren Lebensunterhalt vom Fischfang bestreiten. Doch auch für Steffen Schnorrenberg auf Hiddensee geht es um die wirtschaftliche Existenz. Sollte die Europäische Kommission, die jährlich die Fangquoten in der Europäischen Union neu festlegt, der Empfehlung des Internationalen Rates für Meeresforschung folgen und in Sachen Hering ein Fangverbot für die westliche Ostsee verhängen, muss er mit schmerzhaften Einschnitten rechnen. „70 Prozent meines Umsatzes mache ich mit Hering. Ein Fangverbot wäre wie ein Berufsverbot“, sagt der Küstenfischer. Das Aus droht aber auch dem Hering. Die steigende Wassertemperatur ist nämlich nur das eine große Problem. Das andere ist die Überfischung. Wenn sich sein Bestand nicht erholen kann, könnte Schnorrenbergs wichtigster Fang über kurz oder lang ganz aus der westlichen Ostsee verschwinden. Auch in diesem Fall könnte der Fischer seine Stellnetze abbauen und den Kutter stilllegen. Dann aber wohl für immer.
Interview: „Um die Inseln und Halligen zu schützen, spülen wir Sand auf“
Johannes Oelerich
Johannes Oelerich ist Leiter der Obersten Küstenschutzbehörde im Umweltministerium des Landes Schleswig-Holstein.
Der Klimawandel schreitet voran. Was bedeutet das für die Pegelstände in Nord- und Ostsee?
Bei der Planung unserer Deichbauwerke gehen wir davon aus, dass Nord- und Ostsee bis zum Jahr 2100 um 50 Zentimeter steigen werden. Wir lehnen uns bei dieser Berechnung am Zwei-Grad-Szenario des Weltklimarates an.
Immer höhere Deiche – lösen wir damit das Problem oder verschieben wir es in eine ferne Zukunft?
Im operativen Küstenschutz planen wir für die nächsten 100 Jahre. Wenn der Anstieg des Meeres darüber hinaus anhält, bleibt noch genügend Zeit, um Lösungen zu entwickeln.
Wie schützt Schleswig-Holstein bislangseine Einwohner vor Überschwemmungen?
25 Prozent der Landesfläche liegen in von Hochwasser bedrohten Niederungen. Dort leben rund 350 000 Menschen. Um sie zu schützen, ziehen sich insgesamt 1500 Kilometer Deich, zum Teil in zwei Reihen durch das Land. Um die Inseln und Halligen zu schützen, spülen wir Sand auf. Allein für die Nordsee-Insel Sylt sind es jedes Jahr rund eine Million Kubikmeter. Damit können wir die Küstenlinie der Insel von 1990 bis heute halten.
Die Niederländer, die vom Meeresanstieg noch stärker betroffen sind, errichten schwimmende Häuser. Gibt es vergleichbare Pläne in Deutschland?
In der Ostsee vor Flensburg haben wir auch schwimmende Häuser. Doch die sind nicht Teil unserer Küstenschutzstrategie. Entsprechend dem Generalplan Küstenschutz aus dem Jahr 2012 müssen wir noch 93 Kilometer Landesschutzdeiche verstärken. Das ist unsere Aufgabe für die nächsten Jahre.
Mehr rund um den Klimawandel im Meer
- Meeresatlas der Heinrich-Böll-Stiftung: Der Meeresatlas bietet einen Einblick in den Zustand und die Gefährdung der Meere.
- Searise Correctiv: Karte mit ausgewerteten Daten über Pegelstände, die an 500 Messpunkten weltweit zeigt, wie sich der Meeresspiegel verändert.
- Fischbestände Online vom Thünen Institut für Ostseefischerei: Diese Seite liefert nach eigenen Angaben Informationen über die Fischbestände, die für den deutschen Markt von Bedeutung sind.
- Die Küsten – ein wertvoller Lebensraum unter Druck, in: World Ocean Review, Bd. 5 (PDF), 2017
- Latif, Mojib: Die Meere, der Mensch und das Leben. Bilanz einer existenziellen Beziehung. Überarbeitete und aktualisierte Neuauflage, Herder 2017, 14,99 Euro
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