Kolumne

Wutmensch gegen Gutmensch

Unser Kolumnist Fred Grimm findet, wir hören viel zu sehr den lauten Wutmenschen zu, statt den Gutmenschen, die versuchen, die Welt besser zu machen.

Von der eindrucksvollsten Demonstration dieses Jahres haben Sie wahrscheinlich nie etwas gehört. Am Neujahrstag bildeten fünf Millionen Inderinnen eine 620 Kilometer lange Menschenkette. Sie protestierten gegen die Verbannung von Frauen aus Hindu-Tempeln, gegen Unterdrückung und sexuelle Gewalt.

Ein eindringlicher, eher stiller Protest. Auf jeden Fall stiller als der militante Aufstand der „Gelbwesten“ in Frankreich, der Ihnen nicht entgangen sein dürfte. Beinahe die halbe Sendezeit der „Tagesschau“ ging regelmäßig dafür drauf. Dass wenige Tage vor den heftigsten Ausschreitungen in Paris mehr als doppelt so viele Menschen für den Kampf gegen den Klimawandel auf die Straße gegangen waren, erfuhr die deutsche Öffentlichkeit dagegen allenfalls in einer Randnotiz.

Vielleicht kommt es mir ja nur so vor, aber mir scheint, dass man sich hierzulande tausendmal lieber mit den Anliegen von Wutmenschen auseinandersetzt als mit den Themen und Werten, die sogenannte „Gutmenschen“ bewegen. Der Wutmensch, das ist der rassistische Mob auf den Straßen, das ist der hupende Autofahrer oder auch der saturierte ältere Herr, der in Talkshows gern über die „Diktatur der Gutmenschen“ schimpft, die uns angeblich mit Political Correctness, Fahrverboten, Feminismus, Flüchtlingen und Radikalveganismus quält.

Für die klassischen Werte der „Gutmenschen“ – Gleichberechtigung, Solidarität, Respekt für Menschen, Tiere und Pflanzen – kamen vor Kurzem in Berlin eine Viertelmillion Menschen zur #unteilbar-Kundgebung zusammen. Fröhliche Gutmenschen, deren Themen danach in keiner Talkshow diskutiert wurden. Und auch die große Januar-Demonstration für eine ökologische Wende in der Landwirtschaft scheint trotz zehntausender Teilnehmerinnen und Teilnehmer schon wieder vergessen. Im Gegensatz dazu standen TV-Reporter noch atemlos auf Pegida-Kundgebungen herum, als dort nur noch ein paar hundert Pegioten vor sich hin grummelten.

Im Grunde richten wir also bis heute unsere Politik und unser Medieninteresse nach den Bedürfnissen brüllender Kleinkinder aus.

Fred Grimm

Es ist wie früher in der Grundschule. Auch dort gehörte die Aufmerksamkeit stets den lautesten, nervigsten Schülern. Im Grunde richten wir also bis heute unsere Politik und unser Medieninteresse nach den Bedürfnissen brüllender Kleinkinder aus. Wir versuchen, Wutmenschen zu besänftigen statt mit Gutmenschen darüber zu reden, wie wir unsere Welt zu einer besseren machen könnten. Dabei versammeln sich hinter deren leisen Werten regelmäßig wesentlich mehr Menschen als hinter dem Geschrei der Wutmenschen, in deren Köpfen und Herzen nur noch Zynismus und Verachtung regieren.

Wir sollten sie schreien lassen. Und endlich anfangen, das Wort „Gutmensch“ als Ehrentitel zu tragen. Ich habe eh nie verstanden, was daran schlecht sein soll, wenn man sich bemüht, ein guter Mensch zu sein.

Fred Grimm

Der Hamburger Fred Grimm schreibt seit 2009 auf der letzten Seite von Schrot&Korn seine Kolumne über gute grüne Vorsätze – und das, was dazwischenkommt.. Als Kolumnist sucht er nach dem Schönen im Schlimmen und den besten Wegen hin zu einer besseren Welt. Er freut sich über die rege Resonanz der Leser und darüber, dass er als Stadtmensch auf ein Auto verzichten kann.

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