„Ich umarme Sie jetzt mal virtuell“, sage ich und drücke mein Gesicht eng neben das Tablet, aus dem mich Uwe Schneidewind fröhlich anlacht. Der Nachhaltigkeitsforscher sitzt in seinem Wuppertaler Arbeitszimmer, ich in Dresden. Wegen Corona. Das Virus wird uns thematisch im Laufe des Interviews nicht mehr loslassen. Und womöglich wird das Virus sogar einen ökosozialen Wandel in unserer Welt auslösen.
Seit 1972 warnt der Club of Rome vor dem Kollaps der Erde und fordert einen Umbruch. Worauf warten wir?
Offenbar genügt es nicht, die ökologischen Folgen unseres Lebensstils wie Klimawandel, Umweltverschmutzung und Ressourcenknappheit nur zu kennen. Vielleicht brauchen wir erst konkrete Erfahrungen, wie wir anders, nachhaltiger und besser leben können. Vielleicht könnte uns die Corona-Krise da einen heilsamen Impuls geben.
Sie sehen die Corona-Krise als einen Motor für den ökosozialen Wandel?
Es gibt zwei Kräfte, und es ist noch nicht absehbar, welche sich durchsetzt. Auf der einen Seite merken wir, wie viel Veränderung möglich ist: Nehmen wir mal die gestrichenen Flüge oder das Kippen der Schwarzen Null. Von vielen Maßnahmen dachten wir ja, dass die Politik diese nie wagen würde. Auf der anderen Seite gibt es den Drang, die Wirtschaft möglichst zügig wieder an den Start zu bringen, so wie sie vorher war, und dafür alle „Öko-Behinderungen“ abzuschaffen, zum Beispiel indem man wieder einmal Kaufanreize für Autos setzt.
Welche politische Maßnahme hat Sie in der Corona-Krise am meisten überrascht?
Das fast komplette Einstellen des Flugverkehrs! Das war für mich ein Wow!-Erlebnis. Was hatte die Branche immer argumentiert! Die Welt würde zusammenbrechen, wenn es nicht immer mehr günstige Flüge gäbe. Seit Monaten fliegt niemand und man hat doch den Eindruck: Es geht auch ohne!
Stärkt das die Umweltbewegung?
Die Politiker werden jedenfalls nicht mehr so leicht das Argument vorbringen können: „Das geht nicht, weil sonst alles zusammenbricht.“
Steht uns durch Corona ein gesellschaftlicher Kipp-Punkt bevor?
Vieles, was wir ganz selbstverständlich genommen haben, wird nun infrage gestellt: das nahe Miteinander, Flugreisen, Essen außer Haus. Vielleicht werden wir in Zukunft mit bestimmten Dingen nicht mehr so verschwenderisch umgehen. Darin steckt ein Potenzial zur Mäßigung und Neuausrichtung unseres persönlichen und gesellschaftlichen Lebens.
Was ist wichtiger: Wohlstand für alle oder Umweltschutz?
Das ist nicht so einfach. Schon viel zu lange denken wir: Zuerst Wohlstand, dann kümmern wir uns um die Umwelt. Nur funktioniert es nicht. Anders herum ist es aber auch schräg. Umwelt um jeden Preis hätte massivste Auswirkungen auf die Ärmsten weltweit. Wir müssen Strategien finden, die beides klug kombinieren und eine globale Solidarität organisieren. Die entwickelten Staaten sollten mit Technologie und Investitionen den Aufbau einer regenerativen Energieversorgung im globalen Süden unterstützen. Das würde einen gewissen Ausgleich schaffen. Denn der überproportionale CO₂-Verbrauch der entwickelten Staaten schmälert die Chancen der ärmeren Länder.
Müsste die Politik mehr regulieren?
Das ist eine wichtige Frage: Sind Kapitalismus und Nachhaltigkeit überhaupt zu verbinden? Ich denke: Ja, aber wir brauchen einen neuen Ordnungsrahmen. Ein Beispiel sind die hohen Nitratmengen in den Böden: Durch eine kluge Weiterentwicklung der Grenzwerte könnten wir das in den Griff bekommen. Denn im Grunde hat kein Landwirt Interesse daran, das Grundwasser zu verseuchen. Er tut es aber dennoch, weil er unter hohem ökonomischen Druck steht und die Subventionspolitik Massentierhaltung fördert.
Das Einstellen des Flugverkehrs war ein Wow!-Erlebnis.
Wie einsichtig sind Konzerne, wenn es um den ökosozialen Wandel geht?
Kein Unternehmen kann es sich mehr erlauben, das auszublenden. Trotzdem müssen Betriebe ökonomisch erfolgreich und wettbewerbsfähig sein. Bisher ist das, was am Ende Gutes durchgesetzt wird, selbst bei gutem Willen oft überschaubar.
Haben Sie ein Beispiel?
Nehmen wir mal Automobilkonzerne. Die Mobilität der Zukunft kommt mit weniger Autos aus. Wir brauchen andere Antriebe und kleinere Autos. Wenn aber ein Unternehmen die Hauptrendite mit SUVs erzielt, ist es schwer, diese von heute auf morgen aufzugeben, auch wenn jeder weiß, dass sie nicht in die Welt von morgen passen.
In Ihrem Buch „Die große Transformation“ haben Sie den Begriff Zukunftskunst entworfen. Was ist das?
Eine lustvolle und kreative Haltung, wie wir mit den gewaltigen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts umgehen können. Es ist ein Privileg, dass wir die Zeit und Energie haben, an diesen globalen Visionen zu arbeiten.
Sind Sie nicht ungeduldig, wenn die Leute nicht aufwachen?
Menschen haben ja Gründe, warum sie ihren Routinen treu bleiben. Wer an einer Vision des würdevollen Lebens für alle Menschen auf diesem Planeten arbeitet, kann nicht schon am Nachbarn verzweifeln, wenn der nicht direkt den Ruf hört. Meine Perspektive ist von Dankbarkeit getragen. Ich finde, dass ich unendlich beschenkt bin, als einer von siebeneinhalb Milliarden Menschen Zeit zu haben, mich um solche fundamentalen Fragen zu kümmern. Das eigene Leben etwas widmen zu können, das so viel größer ist als man selbst, ist ein gewaltiger Energiespender.
Wenn Sie die Welt nochmal erfinden dürften, wie sähe sie aus?
Ach, ich glaube, diese Welt sähe gar nicht so anders aus. Wenn man sich anschaut, was in den vergangenen 40, 50 Jahren auf dieser Welt passiert ist: Es wurden Zukunftsvisionen entwickelt, für die sich Millionen von Menschen einsetzen. Das gibt mir das Gefühl, dass wir uns auf einem gar nicht so schlechten Kurs befinden. Ich fühle mich in dieser Welt ganz wohl.
Sie haben also Hoffnung, dass wir doch noch die Kurve kriegen?
Ja, ich bin da sehr optimistisch.
Zur Person: Prof. Dr. Uwe Schneidewind
...ist Wirtschaftswissenschaftler und zählt zu den wichtigsten deutschsprachigen Intellektuellen und Ökonomen. Der Professor für Innovationsmanagement und Nachhaltigkeit an der Bergischen Universität Wuppertal war bis April 2020 Präsident des Wuppertal-Instituts für Klima, Umwelt und Energie. Außerdem ist er Mitglied im Club of Rome und sitzt im wissenschaftlichen Beirat des BUND. 2018 erschien sein Buch „Die große Transformation – eine Einführung in die Kunst gesellschaftlichen Wandels“. Darin entwickelt er eine Vision, wie der soziale und ökologische Wandel gelingen kann.
Der Ort für ein Interview in Zeiten von Corona: Unsere Autorin Uta Gensichen traf Prof. Dr. Uwe Schneidewind im virtuellen Raum.
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