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Überdosis Information

Jeder zweite Haushalt verfügt über Handy und Computer, ein Viertel der Deutschen ist online. Tendenz stark steigend. Mit ihren vielfältigen technischen Möglichkeiten bringen diese neuen Haushaltsgeräte aber auch Risiken mit sich. Die Suchtgefahr ist eine der Nebenwirkungen, vor denen Ärzte und Psychologen warnen.

Internetsucht

Jeder zweite Haushalt verfügt über Handy und Computer, ein Viertel der Deutschen ist online. Tendenz stark steigend. Mit ihren vielfältigen technischen Möglichkeiten bringen diese neuen Haushaltsgeräte aber auch Risiken mit sich. Die Suchtgefahr ist eine der Nebenwirkungen, vor denen Ärzte und Psychologen warnen.

"Seit dem ich online bin, hat sich mein Leben drastisch verändert, mein Tag verläuft nur noch so: Aufstehen, Rechner anschalten, Mails checken, Mails beantworten, Duschen, schnell was essen, Schule, dann wieder Rechner an, Hausaufgaben vor dem Rechner machen, dabei chatten, danach Website verwalten, chatten, surfen, bis spät in die Nacht. Vom Wochenende möcht ich erst gar nicht reden. (…) Meine sozialen Kontakte haben sich auf ein Minimum reduziert, dafür habe ich im Netz sehr viele Freunde. Im Chat ist es immer leichter sich zu unterhalten, man hat die Anonymität durch den Nickname und man kann sein, wer man will. Im Grunde habe ich zwei Leben, mein Real-Leben und mein Online-Leben." Bekenntnisse wie dieses eines Schülers, der sich xyz nennt, finden sich viele auf der Homepage von www.onlinesucht.de. Gemeinsam ist den Betroffenen, dass eines Tages, ganz harmlos, ein Computer mit einer Internetverbindung in ihr Leben trat und bald den größten Teil dieses Lebens einnahm und den Tagesablauf bestimmte. Onlinezeiten von 40 oder 50 Stunden in der Woche sind dabei keine Seltenheit. Dazu kommen oft noch lange Telefongespräche mit Chat-Partnern.

Psychologen sprechen von Internet-Sucht, pathologischem Internetgebrauch oder auf englisch von Internet Addiction Desease. André Hahn von der Humboldt Universität in Berlin rechnet damit, dass zwei bis drei Prozent der Internetsurfer betroffen sind. Andere Wissenschaftler gehen von höheren Zahlen aus. Da die meisten Befragungen im Internet stattfinden, sind sie wenig repräsentativ. Die Chance, dabei vermehrt auf Betroffene zu stoßen, ist groß. Doch auch ein Anteil von zwei Prozent würde bei zwölf Millionen Deutschen, die zu Hause über einen Internetanschluss verfügen, 240.000 Süchtige bedeuten. Nimmt man alle 18,8 Millionen deutschen Internetnutzer als Basis, wären es 380.000.

35-Stunden-Woche im Netz. Wie sich das Suchtverhalten äußert, darüber besteht weitgehend Einigkeit. Oliver Seemann von der Münchner Ambulanz für Internetabhängige hat sechs Kriterien zusammengestellt. Eine Abhängigkeit sieht er, sobald fünf Kriterien über einen Zeitraum von mindestens einem Monat erfüllt sind:

  1. Starkes Verlangen oder eine Art Zwang zum Internet-Gebrauch.
  2. Verlust der Kontrolle über die online verbrachte Zeit.
  3. Deutliche Entzugserscheinungen wie starke Nervosität und Unruhe nach Verzicht auf den Internet-Gebrauch.
  4. Deutlicher Rückzug aus dem direkten sozialen Leben.
  5. Deutliche Probleme im direkten sozialen Leben, also in Partnerschaft, Arbeit oder Schule.
  6. Fortsetzung des schädlichen Verhaltens trotz Bewusstsein über negative Folgen des Internet-Gebrauchs.

Gefährdet sind vor allem Jugendliche. In einer Befragung von über 6.000 Internetnutzern stellten André Hahn und sein Kollege Matthias Jerusalem fest, dass von den unter 15-Jährigen 10,3 Prozent als süchtig einzuordnen sind. Der Anteil sinkt bei den über 20-Jährigen auf 2,2 Prozent. Ab 20 ist der Anteil der Süchtigen bei den Frauen höher als bei den Männern, zuvor führen die Jungs mit Abstand. Genutzt werden von den als süchtig Eingestuften vor allem Chats, Musikangebote und Spiele, wobei Frauen sich stärker auf Chats konzentrieren als Männer. Im Durchschnitt sind die Abhängigen 34 Stunden in der Woche online.

Das Internet ist keine klassische Droge wie Heroin, die durch bestimmte Wirkstoffe süchtig macht. Die Ursache für einen exzessiven Internetgebrauch liegen in persönlichen Problemen oder Störungen und können sehr unterschiedlich sein. Mangelndes Selbstvertrauen etwa ist eine Eigenschaft, die sich bei vielen Abhängigen findet. Wer Schwierigkeiten hat, Kontakte zu knüpfen, aus sich herauszugehen, wird die Anonymität eines Chat-Raumes ähnlich angenehm finden, wie andere einen Schluck Alkohol, der einen in Stimmung bringt. In virtuellen Welten lassen sich Probleme per Mausklick lösen, was das Selbstwertgefühl steigert. Online-Rollenspiele erlauben es, unterschiedliche Persönlichkeiten anzunehmen und auszuleben ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. Die kommen dann in der realen Welt auf einen zu, wenn solche Internetsitzungen nicht mehr der Entspannung dienen, sondern der Flucht vor Alltagsproblemen.

Dass stille, introvertierte und depressive Menschen im Netz ein höheres Suchtrisiko eingehen, wird oft vermutet, ist aber nicht eindeutig geklärt. Hahn und Jerusalem weisen auch darauf hin, dass das Internet für viele Jugendliche ein Instrument sein kann, in der Pubertät die eigene Persönlichkeit zu finden, Rollen gefahrlos zu testen, bei Gleichaltrigen Eindruck zu machen und sich gleichzeitig von den Eltern abzugrenzen. Diese positiven Erfahrungen können zum Problem werden, wenn jemand nicht mehr in der Lage ist, seinen Internetkonsum zu steuern. Negative Folgen einer Abhängigkeit für die Gesundheit sind unregelmäßiges Essen, zu wenig Schlaf, überanstrengte Augen und Rückenschmerzen. Besonders gravierend sind die sozialen Gefahren: der Verlust von Beziehungen, Unruhe, Reizbarkeit und Unkonzentriertheit sowie zunehmende Probleme, die Herausforderungen des Alltags noch auf die Reihe zu bekommen.

Von Informationen überrollt. Das Internet bietet nicht nur Unterhaltungen, Musikdateien oder Spiele. Vor allem liefert es Informationen: in Form von Webseiten, aber auch durch die Möglichkeit, E-Mails zu bekommen. Am vernetzten Arbeitsplatz kann das ein Problem werden, wie zahlreiche Studien zeigen. Manager und Führungskräfte bekommen jeden Tag 100 und mehr Nachrichten, von denen viele eine schnelle Antwort nötig machen. Das Ergebnis: Der Arbeitstag wird zerstückelt, es bleibt keine Zeit, sich intensiv mit einem Thema zu beschäftigen. Dazu kommt oft eine regelrechte Sucht nach Informationen, nach den neuesten Nachrichten, den viertelstündigen Aktienkursen.

Oft können die vielen beim Surfen gesammelten Informationen nicht mehr eingeordnet werden. Dafür steigt der Stress. Erhöhter Blutdruck und zunehmende Verwirrtheit sind die Folge. Amerikanische Psychologen haben diesen Folgen der Datenflut bereits einen Namen gegeben: "kulturell bedingte Aufmerksamkeitsstörung" (Attention Deficit Disorder, ADD). Sie erklären die nervösen Reaktionen damit, dass unser Gehirn im Gegensatz zum Computer nicht mehrere Aufgaben gleichzeitig erledigen kann. Wird es ständig durch neue Reize abgelenkt, leidet auf Dauer die Analysefähigkeit und die Wahrnehmung der Realität. Andere Experten sprechen vom "infobiologischen Unzulänglichkeitssyndrom": Menschen leiden, weil sie die eingehenden Informationen nicht schnell genug aufnehmen und verarbeiten können. Wie immer man das Phänomen auch nennt, die psychologische Forschung belegt, dass die Informationsflut unsere körperliche und psychische Gesundheit gefährdet. David Shenk erklärt in seinem Buch "Datenmüll und Infosmog", dass es durchaus möglich sei, dass wir "am Rand einer ADD-Epidemie stehen."

Eine wichtige Rolle bei der "kulturell bedingten Aufmerksamkeitsstörung" spielt auch das Handy. Es macht seinen Besitzer überall erreichbar, ständig erfährt er das Neueste, muss darauf aber auch sofort reagieren. Das Handy ermöglicht das Versenden und Empfangen kurzer Nachrichten (sogenannter SMS) und in Zukunft auch die Verbindung ins Internet. Bei Jugendlichen sind vor allem SMS beliebt: schnelle Liebesgrüße, eine Verabredung für ein Date oder eine kurze Frage: "Wie war Mathe heute?". Dieses an sich harmlose Verschicken kurzer Botschaften kann ebenfalls zur Sucht werden. Noch beherrschen einzelne absurde Fälle die Schlagzeilen, wie die eines 25-jährigen dänischen Taxifahrers, der jeden Tag über 200 Nachrichten verschickte. Doch viele Fachleute vergleichen den Austausch von SMS-Botschaften mit dem Chatten im Internet und sehen ein ähnliches Suchtpotential. Als gefährdet gilt, wer zwangsweise jede kleine Neuigkeit über SMS verbreitet oder alle paar Sekunden auf das Display nach einer Meldung schaut. Zudem benutzen viele Jugendliche beides, Handy und Computer. Denn aus dem Internet lassen sich SMS günstiger verschicken als mit dem Handy. Und schon piepst es wieder in der Jackentasche.

Leo Frühschütz


Wie können Angehörige Internet-Junkies helfen?

Der Verein Hilfe zur Selbsthilfe für Online-Süchtige (siehe "Infos") gibt folgende Ratschläge:

  • Versuchen Sie zu verstehen, was Ihr(e) Partner(in) im Internet sucht und anscheinend findet. Bitten Sie den Betroffenen, Ihnen dies in einem offenen Gespräch zu erklären. Stellen Sie ihn nicht zur Rede, sondern schaffen Sie für dieses Gespräch eine gemütliche, harmonische Atmosphäre. Passen Sie den richtigen Zeitpunkt ab, der sicher nicht gegeben ist, wenn sich der Betroffene (mal wieder) gerade einloggt.
  • Zeigen Sie deutliches Interesse an der Computer-"Tätigkeit" Ihres Partners.
  • Machen Sie dem Betroffenen keine Vorwürfe, denn es würde seine Sucht verstärken und ihn noch weiter von Ihnen entfernen.
  • Sagen Sie Ihrem Partner deutlich, wie Sie sich an seiner Seite dabei fühlen, dass Sie sich ausgegrenzt vorkommen und dass Sie unter dem Partnerentzug leiden. Sprechen Sie aber ausschließlichnur von Ihren eigenen Gefühlen, ohne Vorwürfe gegen den Betroffenen.
  • Tauschen Sie sich mit anderen Onlinesüchtigen und deren Angehörigen aus.
  • Besuchen Sie - im Idealfall gemeinsam mit dem Betroffenen, sonst aber vorerst auch allein — Selbsthilfegruppen, die sich auf Onlinesucht spezialisiert haben.
  • Bedienen / verköstigen Sie den Onlinesüchtigen nicht an seinem Rechner (weil er ja noch so viel zu arbeiten hat), sondern halten Sie die Essenszeiten und -sitten wie gewohnt ein, zu denen Sie Ihren Partner dann hinzu bitten.
  • Laden Sie mal wieder Freunde ein. Beschweren Sie sich aber nicht in deren Beisein über Ihren suchtkranken Partner, berühren Sie dieses Thema gar nicht. Zeigen Sie ihm ganz bewusst, dass ein "Offline-Leben" auch Spaß machen kann.
  • Nehmen Sie den Betroffenen in die Verantwortung. Zeigen Sie ihm, dass er Ihnen wichtig ist und erinnern ihn (und sich selbst) daran, dass Sie sich vorgenommen haben, Probleme gemeinsam zu meistern.

Infos:

  • Anlaufstelle für ärztliche Hilfe ist die "Erste deutsche Internetambulanz" der Psychiatrischen Universitätsklinik München, Nussbaumstrasse 7, 80336 München, Telefon 089/ 51602769, www.psychiater.org/internetsucht/ambulanz.htm.
  • Die Ergebnisse der Studie über "Stress und Sucht im Internet" des Lehrstuhls für Pädagogische Psychologie und Gesundheitspsychologie der Humboldt-Universität Berlin sind unter www.internetsucht.de veröffentlicht.
  • Hilfe zur Selbsthilfe für Onlinesüchtige e.V.: www.onlinesucht.de. Ansprechpartnerin dieser Gruppe: Gabriele Farke, Telefon 0212/ 2642810, E-Mail gfarke@zentral.de.
  • Hessische Landesstelle gegen Suchtgefahren e.V., Geschäftsführer Wolfgang Schmidt, Auf der Körnerwiese 5, 60322 Frankfurt am Main, Telefon 069/ 5969621, E-Mail hls@hls-khs.de.
  • Psychosoziale Beratungsstelle Schleswig, Ansprechpartner: Mike Nielsen, Friedrichsstraße 37, 24837 Schleswig, Telefon 04621/ 381133, E-Mail: Suchthilfe-diakonie-schleswig@t-online.

Bücher:

  • David N. Greenfield: Suchtfalle Internet — Hilfe für Cyberfreaks, Netheads und ihre Partner, Walter Verlag, Düsseldorf, 2000, ISBN 3-530-40111-0, DM 39,80.
  • Gabriele Farke: Sehnsucht Internet, Smart Books, Kilchberg 1998, ISBN 3-908-48912-1, DM 29,00.
  • Gabriele Farke: Hexenkuss.de, Deller Verlag, Langenfeld, 1999, ISBN 3-923-77215-7, DM 34,80.
  • Kimberly Young: Suchtgefahr Internet, Kösel Verlag, München, 1998, ISBN 3-466-30490-3, DM 38,90.
  • David Shenk: Datenmüll und Infosmog, Lichtenberg Verlag, München, 1998, ISBN 3-7852-8425-X, DM 39,90
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