Himbeerrot, sonnengelb und froschgrün sind die Farbkleckse in meinen drei kleinen Töpfchen – und jetzt die Pinsel hinein … „Probieren Sie’s doch mal mit den Fingern“, ermuntert mich Kunsttherapeut Alfred Niedecken. Ich zögere. Als Kind habe ich das gemacht – laaange her … Er schmunzelt: „So geht es fast allen.“
Nur zur Probe reibe ich mit allen zehn Fingern auf dem Papier herum und merke, das ist gar nicht unangenehm, macht sogar Spaß. In dem Darmstädter Malatelier bietet Niedecken „Begleitetes Malen“ nach Bettina Egger für Erwachsene und Kinder an. Dabei treffen sich bis zu acht Malende in einem kleinen Raum – ohne Fenster, damit keine äußeren Einflüsse vom Emportauchen der inneren Bilder ablenken können. Diese inneren Bilder nämlich bergen nach dem Ansatz der Schweizer Kunsttherapeutin die Möglichkeit, sichtbar werden zu lassen, was ungelöst und ungesagt der persönlichen Weiterentwicklung im Wege steht – und sie wecken gleichzeitig die Kraft, selbst die Lösung anzupacken.
Innere Bilder sichtbar machen
Der wesentliche Prozess liegt also bei ihrem Ansatz im Malen selbst und den Denkanstößen, die es auslöst. Es werden Gouache-Farben verwendet, mit denen man ein Bild so lange übermalen kann, bis es genau den gesuchten Ausdruck trifft.
„Wenn man erst mal etwas gemalt hat, was man sich nie zu sagen oder gar zu denken traute, dann bekommt das Bild etwas Reales und kann unser Handeln beeinflussen. Das ist wie im Kino, dort müssen wir auch lachen oder weinen, obwohl vorne nur eine Leinwand hängt und obwohl wir genau wissen, dass alles nur gespielt ist“, erläutert Alfred Niedecken, der selbst auch Maler ist. Der Therapeut sei bei diesem Prozess der Mittler zwischen Malendem und Werk, also Unterstützer, nicht „Erklärer“.
Malen für jeden
Die Beweggründe seiner Kursteilnehmer sind verschieden. Mancher will „einfach in die Vollen gehen“, andere wollen bestimmte Probleme in ihrem Leben in den Griff bekommen. Auch bei den Kindergruppen komme es hin und wieder vor, dass sich ein Kind drückende Bilder von der Seele male. Bei Alfred Niedecken haben sie die freie Wahl, was und wie sie malen wollen. Der 52-Jährige betont: „Hier werden keine Auftragsbilder gemalt, keine Geschenke für Oma und Opa.“ Nach jedem Bild fragt er Kinder wie Erwachsene, ob sie sich dazu äußern möchten. Die Dauer der Teilnahme umfasst mindestens ein halbes Jahr – nach dieser Zeit wird dann eine kleine Rückschau veranstaltet.
Maltherapie ist innerhalb der Kunsttherapie nur eine Facette. Auch Tanz, Musik oder das Formen von Skulpturen zählen zu den Möglichkeiten, eigene Energiepotenziale zu entdecken oder sich von Ballast zu befreien. Allen gemeinsam ist der Gewinn für die Persönlichkeitsentwicklung. Kunsttherapie gilt als Selbsterfahrung, die Spontaneität und Kreativität beleben kann und so Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen aufbauen hilft.
So gestärkt lässt sich manches neu ordnen und strukturieren. Obwohl die positive Wirkung bekannt ist, lassen sich die Behandlungserfolge, anders als bei Medikamenten, schwer messen. Daher wird Kunsttherapie gern abschätzig betrachtet und bleibt beim Sparen oft als Erste auf der Strecke.
Selbstheilendes Potenzial
Seit der Gesundheitsreform übernehmen die Krankenkassen die Kosten für Kunsttherapien nur im Ausnahmefall. Dabei zeigte eine Studie der Ottersberger Fachhochschule in Zusammenarbeit mit dem Krankenhaus Herdecke, dass der dort angewendete anthroposophische Ansatz den Patienten „neue Ressourcen“ erschloss und ihnen bei der Gesundung half. Krankenhäuser, die das selbstheilende Potenzial schätzen, bieten daher im Rahmen des psychosozialen Diensts auch Maltherapie an. Zum Beispiel die Frauenabteilung der Uniklinik Halle. „Ich kann nicht malen“, sei allerdings der erste Satz, den die Patientinnen meist äußerten, berichtet die Psychologin Ute Berndt. Sie erkläre dann, dass es vorrangig um den Prozess des Malens gehe, nicht um das Bild.
Gemalte Träume
Im Allgemeinen werden die Bilder in Halle (wie auch in Darmstadt) nicht gedeutet, manchmal allerdings springen metaphorische Bestandteile geradezu ins Auge und die Urheber wollen auch gerne darüber reden. Wenn sich Frauen mit schlimmen Albträumen quälen, schlägt Berndt vor, diese zu malen, „die können sie dann hierlassen“. Das habe sich als gutes Ritual erwiesen.
Auch ins Darmstädter Atelier kommen Menschen, die eine Krankheitsdiagnose oder eine Operation verarbeiten wollen. Doch unabhängig davon, aus welcher Situation heraus die Bilder entstehen, sie verbleiben erst mal im Atelier. Alfred Niedecken hält wenig von Ausstellungen, denn: „Diese Bilder sind wie Tagebuchaufzeichnungen.“
Gras wachsen lassen
Manchmal gibt der Profi, der sich sonst mit technischen Anleitungen eher zurückhält, sogar einen Tipp: „Gras wächst von unten nach oben“, zwinkert er mir zu.
Ein schlichter Hinweis, der das Bild komplett verändert. Mit zehn Fingern und verschiedenen Grün- und Gelbtönen ziehe ich jetzt die Striche von unten nach oben und im körpereigenen Rhythmus aufs Papier – am Ende sieht man förmlich eine Sommerwiese wogen. Auch das ist Maltherapie: Entspannung durch die pure Freude am Malen.
Malen hilft heilen
Heilpädagogik
In der Arbeit mit geistig behinderten Menschen liegt der Erfolg der heilpädagogischen Kunsttherapie in der entspannenden Wirkung des Malprozesses; zudem ermöglicht sie die nonverbale Kommunikation und kann somit die Entwicklung sozialer Kompetenzen fördern.
Psychotherapie
Variante, bei der der Therapeut den Schaffensprozess unterstützt, indem er etwa Gedanken zur Bildidee hinterfragt. Die Bilder werden als Metaphern betrachtet, mit denen der Malende Probleme verarbeiten sowie Gefühle in Ordnung bringen und neu gestalten kann.
Psychoanalyse
Maltherapie nach C. G. Jung findet meist in der Psychoanalyse statt und arbeitet mit der Interpretation von Symbolen und Farben. Bei der „aktiven Imagination“ werden diese inneren Bilder gemalt und anschließend vom Analytiker interpretiert und mit dem Patienten besprochen.
Anthroposophie
Anthroposophische Maltherapeuten bieten das „Formenzeichnen“ oder „Geführte Zeichnen“ an. Die sich wiederholenden Muster und rhythmischen Bewegungen beim Malen wirken beruhigend und können eine Stabilisierung sowie die Selbstheilungskräfte fördern.
Liebe, Wut oder Trauer sind unzureichende Wortetiketten für die dahinter tobenden Gefühle. Bilder dagegen weisen einen direkten Weg zur Seele. Wie andere nonverbale Ausdrucksformen machen sie Unsagbares sicht- und verstehbar. Kein Wunder: Die Prozesse in unserem Gehirn gehen nur zu zehn Prozent auf das Konto der verbalen Ebene – der Rest, der unser Handeln bestimmt, sind Sinneswahrnehmungen, Gefühle und vor allem: Bilder.
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