Ich sitze im Zug, und den Zeitungsartikel auf dem Klapptisch vor mir lese ich nun schon zum dritten Mal. Beziehungsweise: Ich versuche es.
Denn meine Gedanken schweifen andauernd ab. Zum frisch operierten Arm meiner kleinen Tochter, zu den Dingen, die ich vor dem Urlaub noch erledigen muss, und zum Termin, der vor mir liegt. Ich bin auf dem Weg zum „Shared Reading“, was übersetzt „geteiltes Lesen“ heißt. Noch deutet nichts daraufhin, dass diese Form des Lesens ausgerechnet heute genau das Richtige für mich ist.
Bis vor Kurzem hatte ich noch nie von Shared Reading gehört. Dabei lese ich viel und gerne. Aber eben immer allein oder zusammen mit meinen Kindern. Vom Projekt erfuhr ich durch Nicole Pollakowsky, eine befreundete Journalistin. Seit einem Jahr leitet sie gemeinsam mit ihrer Kollegin Susanne Jung ehrenamtlich eine Heidelberger Shared-Reading-Gruppe. Die Leseleiterinnen, die eine Ausbildung zum sogenannten „Faciliator“ absolviert haben, suchen die Texte aus und moderieren die Gespräche. Kommen kann jeder, der Eintritt ist frei.
Wer zuhört, gehört schon dazu.
Die Gruppe wird zur Gemeinschaft
Vor 20 Jahren hat Dr. Jane Davis in Liverpool die Idee des gemeinsamen Lesens entwickelt. Sie initiierte Kurse an der Universität, bei denen nicht literaturwissenschaftliche Theorien im Mittelpunkt standen, sondern der gegenseitige Austausch darüber. Die Methode ist einfach:
Menschen kommen zusammen, lesen sich gegenseitig vor und sprechen über die Texte. Seit dem Jahr 2015 gibt es die Initiative „Shared Reading – An Worten wachsen“ auch in Deutschland.
Die Lesenden (12 Frauen und ein Mann), die sich jeden Montag im Seniorenzentrum in der Altstadt treffen, sind über Zeitungsartikel und Aushänge auf die Gruppe aufmerksam geworden. Alle sind etwa 75 Jahre alt und seit jeher literaturinteressiert. Dieser Spaß am Lesen genügt als Voraussetzung. Auf der deutschen Shared-Reading-Website heißt es:
„Wer zuhört, gehört bereits dazu.“ Das stimmt. Auch ich bin sofort mittendrin. Wir lesen die Kurzgeschichte „Sag ja“ des amerikanischen Schriftstellers Tobias Wolff, die im Jahr 1985 erschien. Sie handelt von einem Ehepaar, das im Gespräch während des abendlichen Abwaschs auf die Frage kommt, ob Schwarze und Weiße heiraten sollten. Die Geschichte wird aus der Perspektive des Mannes erzählt – eines Ehemannes, der von sich sagt: „Ich gebe mein Bestes.“ Der sich selbst als rücksichtsvoll beschreibt – weil er ja beim Abwasch hilft – und deshalb mit sich und seiner Welt zufrieden zu sein scheint. Seine Frau aber ist nicht zufrieden. Sie konfrontiert ihn mit der Frage, ob er sie auch geheiratet hätte, wenn sie schwarz wäre. Als er sich windet, lässt sie nicht locker. Und der selbstzufriedene, aber auch arglose und ehrliche Mann läuft schnurstracks ins Messer: Nein, hätte er nicht, gesteht er. Für diese Antwort wird er mit Missachtung bestraft.
Sie verlässt die Küche, und vielleicht hat sie auch ihn innerlich schon längst verlassen.
Wir lesen den Text, den die Leseleiterinnen kopiert und an alle Teilnehmer verteilt haben, abwechselnd laut vor. Zwischendurch sprechen wir über das, was gerade in der Geschichte passiert. Während ich beim stillen Lesen immer schnell zu wissen glaube, worauf der Autor hinauswill, bin ich hier umringt von den Fragen und Interpretationen meiner Mitleser: Ist das, was zwischen dem Paar passiert, ein Streit oder ein Spiel? Wer von beiden ist über- und unterlegen? Welche Mechanismen greifen da ineinander? Wer liebt wen mehr? Schnell ziehen wir Bezüge zu unseren Erfahrungen, zum eigenen Verhalten und auch zu unseren Streitigkeiten. Wir sprechen über Rollenbilder und Rassentrennung.
Als die Frau in der Geschichte sich beim Spülen schneidet und ein Tropfen Blut aus ihrem Finger quillt, interpretiert eine Teilnehmerin das als Hinweis auf die „One-Drop“-Regel zur Rassenklassifizierung in den USA im 20. Jahrhundert: Wer einen Tropfen schwarzen Bluts in sich hat, galt als Schwarzer. Sie hat darüber in Michelle Obamas Biografie gelesen. Was wäre uns anderen entgangen, hätten wir alleine gelesen!
Wir sprechen über das Anderssein und die Angst vor dem Fremden – die topaktuellen Fragen unserer Zeit stehen während unserer 90 Leseminuten im Raum.
Das wäre uns allein alles entgangen!
Die Teilnehmer haben im Laufe der Zeit viel Persönliches voneinander erfahren: Über Partner, frühere Berufe, Verluste und beim Lesen einer Geschichte von Heinrich Böll erzählte eine Teilnehmerin, wie in ihrem Nachbarhaus vor Jahren eine RAF-Zelle ausgehoben wurde. Eine andere hat zum gemeinsamen Lesen mal ihren Enkel mitgebracht. Die Gruppe ist zur Gemeinschaft geworden. Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht offen wäre für neue Teilnehmer: Besonders Studenten wären willkommen – den Austausch mit jungen Leuten genießen die Teilnehmer, und die Heidelberger Mensa ist nur einen Steinwurf vom Seniorenzentrum entfernt.
Shared Reading, so heißt es in Studien, gibt neue Energie. Wer einmal dabei war, der glaubt das aufs Wort. Auch ich fahre bereichert wieder nach Hause. Beim Lesen und Zuhören bin ich zur Ruhe gekommen, habe mich vertieft in die Kurzgeschichte und in die rege Diskussion. Die Zeitung vom Morgen nehme ich im Zug nicht mehr zur Hand. Allein lese ich erst morgen wieder.
Über Shared Reading
Die Begründerin des organisierten gemeinsamen Lesens ist Dr. Jane Davis aus Liverpool. Vor 20 Jahren bot sie an der Universität Liverpool die ersten Kurse für gemeinsames Lesen an. Sie werden seither wissenschaftlich begleitet und erforscht. Studien zeigen: Lesen in der Gruppe fördert die physische und psychische Gesundheit und verringert die soziale Isolation. Inzwischen lesen in Großbritannien wöchentlich rund 400 Gruppen in Krankenhäusern, Seniorenzentren, Schulen und auch Strafvollzugsanstalten.
Der frühere Verlagsleiter und heutige Sozialunternehmer Carsten Sommerfeldt hat das gemeinsame Lesen im Jahr 2015 unter dem Titel „Shared Reading – an Worten wachsen“ nach Deutschland gebracht. Mit seinem Team baut er von Berlin aus ein Netzwerk auf und bildet die ehrenamtlichen Leseleiter, genannt „Faciliator“ aus, die Texte auswählen und die Gespräche moderieren. Der Eintritt zu Shared-Reading-Veranstaltungen ist frei. Die Kosten für Raummiete, Kopien und die Ausbildung der Leseleiter tragen Organisationen – im Fall der Heidelberger Gruppe in unserer Geschichte ist es das Kulturzentrum Karlstorbahnhof in Heidelberg.
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