Leben

Das neue Wohnen

In den 80ern wurden Wohnprojekte als Hippie-Kommunen belächelt. Heute weisen sie uns die Zukunft. Eine Homestory. 

Warum ein Wohnprojekt die bessere Alternative sein kann

Wie wollen wir wohnen? Das fragten sich Lisa und Janis lange vor der Geburt ihrer Tochter Alva (1). Die jungen Eltern wollten auf Dauer nicht in der 60-Quadratmeter-Innenstadtwohnung bleiben. Doch wie sonst? Da war einerseits der Traum vom idyllischen Landleben, mit Freunden zusammen einen Hof kaufen und das persönliche Bullerbü erschaffen. Andererseits hat man dann lange Wege, bräuchte ein Auto, was nicht sehr ressourcenschonend ist. Lisa und Janis haben ihre Lösung gefunden. Sie werden 2025 in das gemeinschaftliche Wohnprojekt „Wohntraum“ an den Stadtrand von Darmstadt ziehen. Es ist das vierte Projekt der Darmstädter Genossenschaft Wohnsinn

Podcast S2:F7

Folge 7: Leben im Wohnprojekt

Konfliktreicher Alltag oder Wohntraum für alle?

Ökologisch und sozial

Im Moment stehen dort noch die Bagger, bald jedoch 40 Wohneinheiten im Geschosswohnungsbau, vorwiegend aus Holz. Ein barrierefreies Zuhause für etwa 100 Menschen. Alle Wohnsinn-Projekte sind ökologisch ausgerichtet: Gemeinsam genutzte Räume, wie etwa Gästezimmer, sollen dabei helfen, den persönlichen Quadratmeterbedarf in der eigenen Wohnung bescheidener zu halten. Zu je einem Drittel sollen Alleinlebende, Familien und Paare einziehen. Ein Drittel der Wohnungen sind sozial gefördert. 

Welche Vorteile das gemeinsame Bauen und Wohnen bietet

Egal ob mieten oder kaufen, heutzutage ist es schwierig, bezahlbaren Wohnraum zu finden. Genossenschaften bieten einen Ausweg, denn sie wollen keine Gewinne erwirtschaften. Das hält die Kosten gering, vor allem langfristig. So liegen Nutzungsentgelte des ersten Wohnsinn-Gebäudes von 2008 etwa 35 Prozent unter dem Mietspiegel. Wer bei Wohnsinn mitmacht, wird Mitglied und erwirbt Dauernutzungsrechte. 30 Prozent Eigenanteil für die eigene Wohnung sind gewünscht. Man kann auch mehr Geld einbringen und zahlt dann aufgrund niedrigerer Kapitalkosten ein geringeres Nutzungsentgelt. 

Was es braucht: engagierte Menschen

Dafür braucht es aber engagierte Menschen, die ehrenamtlich viel Zeit und Energie investieren. So etwa Kornelia und Bernd Müller. Die Geschwister gehören zu den Gründer:innen von Wohnsinn und haben mit Geduld und Herzblut über Jahrzehnte hinweg an der Idee und Umsetzung des ökologischen und gemeinschaftlichen Bauens mitgefeilt. Kornelia berichtet: „Wenn ich anfangs geahnt hätte, wie viel Energie da hineinfließt, hätt‘ ich es vielleicht nicht gemacht.“ Aber sie lacht dabei und es schwingt bei aller Bescheidenheit ein wenig Stolz mit, es geschafft zu haben und daran gewachsen zu sein. Und Bernd sagt: „Man hat immer Probleme und muss Lösungen finden. Aber lieber brüte ich über der Finanzierung des Wohnprojekts, als dass ich Kreuzworträtsel löse.“ 

Energieeffizient und preisgünstig bauen

Das erste Treffen der Initiativgruppe von Wohnsinn fand 1986 statt. 1998 wurde die Genossenschaft gegründet und erst 2001 konkret gebaut. Wichtig war den Gründer:innen von Anfang an, sowohl energieeffizient als auch preisgünstig zu bauen. Beim ersten der bislang vier Wohnprojekte wurde noch viel darüber diskutiert, ob der damals recht junge Passivhaus-Standard für Geschosswohnungsbau überhaupt funktionieren könne. Es kostete viel Überzeugungsarbeit, um die Entscheidung durchzubringen. Kornelia erzählt, sie hätten sogar Fahrten zu Passiv-
häusern organisiert, um zu zeigen, wie Wohnen ohne Heizung geht. Bei den nachfolgenden Bauprojekten war der Passivhaus-Standard keine Frage mehr. 

Ideale und ihre Umsetzung

Krachend gescheitert sei man bei anderen ökologischen Ansprüchen, etwa der Idee, im Projekt ganz auf persönliche Autos zu verzichten. Das war für viele unter gar keinen Umständen vorstellbar. Doch immerhin lebt circa die Hälfte der Haushalte autofrei und es gibt ein privat organisiertes Carpooling, in dem sich mehrere Bewohner:innen zwei Autos teilen. In anderen Belangen scheint das Teilen besser zu funktionieren: Die Bohrmaschinendichte pro Nase sei geringer als bei konventionellen Wohnformen, wirft Kornelia schmunzelnd ein.

Wohnprojekte: Tipps und Adressen zum Gründen, Bauen und Finden

verein.fgw-ev.de
Der Verein Forum Gemeinschaftliches Wohnen bietet mit einer überregionalen Projektbörse eine bundesweite Vernetzung von selbst organisierten, gemeinschaftlichen Wohnprojekten und Interessenten. 

www.wohnprojekte-portal.de
Informiert und vernetzt Menschen rund um gemeinschaftliches Wohnen. Wie gründe ich ein Wohnprojekt? Gibt es bereits ähnliche Projekte? Wo finde ich Leute, die mitmachen, Projekte im Aufbau oder eine frei gewordene Wohnung in meiner Nähe? 

www.stiftung-trias.de
Die gemeinnützige Stiftung kauft Grund und Boden und vergibt ihn mittels Erbbaurecht an gemeinwohlorientierte Wohnprojekte. 

www.nachhaltigesbauen.de 
Infos für Bauwillige u.a. zum Qualitätssiegel Nachhaltiges Gebäude QNG 

Das Kleingedruckte in gemeinschaftlichen Wohnprojekten


Ein Leben in Gemeinschaft hat viele Vorteile. Man erlebt eine selbstverständliche Zugehörigkeit, wie sie vielleicht früher im idealen Dorf üblich gewesen ist. Wer lieber in der Anonymität der Großstadt lebt, wird sich weniger wohlfühlen. Lange vor ihrem Einzug bei Wohnsinn waren Lisa und Janis bereits in der Gemeinschaft aktiv. Die ersten drei Monate waren eine Art Probezeit zum Kennenlernen: Passt das zu uns? Alle zwei Wochen ein Plenum? Jeden Monat ein Samstag für Gemeinschaftsaktivitäten? Einmal im Jahr ein ganzes Wochenende? Noch dazu sind alle „Wohnträumer“ zusätzlich in AGs organisiert. Janis z.B. ist Teil der Unter-AG Carpooling. Lisa macht mit in der Bau-AG. Aktuell geht es dort um Bodenbeläge, ob Parkett oder Linoleum. Die AG erarbeitet Vorschläge, das Plenum stimmt ab. Solche Aufgaben können Spaß machen, aber auch nervenaufreibend sein, vor allem, wenn man schnell das Gefühl hat, stets mehr als die anderen zu machen. Tatsächlich braucht es fürs Gemeinschaftsleben einige kommunikativen Fähigkeiten. Dann macht es aber Spaß (siehe Interview mit Helene Rettenbach unten).

„Gemeinschaft ist eine tägliche Übung in Demokratie“

Die Sprecherin des Fördervereins gemeinsames Wohnen Jung und Alt, Darmstadt, ist Ansprechpartnerin für Einzelpersonen und Gruppen, die gemeinschaftlich wohnen möchten. 
www.wohnprojekte-darmstadt.de  

Brauchen wir neue Wohnformen?
Immer mehr Menschen vereinsamen. Der demografische Wandel und veränderte Familienstrukturen wirken sich aus. Wir brauchen Alternativen zum Einfamilienhaus, der Standardmietwohnung oder dem Heimplatz. Immer mehr Menschen leben als Single. Die traditionellen Unterstützungssysteme fallen weg.
Ersetzt ein Gemeinschaftsprojekt familiäre Strukturen? 
Gemeinschaft kann eine Prophylaxe gegen Einsamkeit sein. Was möchte man selbst? Jede Gemeinschaft braucht einen Ort. Was soll da passieren? Reicht es, zusammen Kaffee zu trinken? Will man sich politisch engagieren, Kinoabende veranstalten, Hausaufgabenhilfe leisten? Das Spektrum ist riesig.
Wer entscheidet, was in einer Gemeinschaft passiert? 
Gemeinschaftlich Wohnen ist eine tägliche Übung in Demokratie und erfordert von allen Engagement. Damit es gelingt, braucht es Entscheidungen, mit denen möglichst alle leben können. Das sind anspruchsvolle Prozesse, verbunden mit vielen Diskussionen. Dafür braucht man Geduld. 
Muss man ein spezieller Typ Mensch sein, um in einem Wohnprojekt zu leben? 
Man muss Lust haben auf andere Menschen. Man sollte konfliktfähig sein, bereit sein zu lernen und an Beziehungen zu arbeiten. Ein großes Harmoniebedürfnis kann schwierig sein. Und man sollte Erwartungen an die Gruppe nicht zu hoch setzen.
Woran kann es scheitern? 
Wohninitiativen geben immer wieder auf, wenn sie zu lange kein Haus oder Grundstück finden oder das Vorhaben nicht finanzierbar ist. Der Gruppenprozess bleibt auch in der Wohnphase eine Daueraufgabe.

Wenn ein Bauträger beteiligt ist

Muss man weniger selbst verantworten und anpacken, wenn bei einem Wohnprojekt ein Bauträger beteiligt ist? Gerd Hansen, Geschäftsführer von Archy Nova bestätigt die Vermutung. Seit 1984 entwickelt und realisiert die Firma als Ideenschmiede und Bauträger nachhaltige Immobilienkonzepte. In Hamburg Baakenhafen verwirklicht sie gerade das gemeinschaftliche Bau- und Wohnprojekt We-house Baakenhafen. Diplom-Ingenieur und Projektentwickler Hansen denkt vor, plant und geht wichtige Schritte vor. Er holt etwa die Baugenehmigung ein und beauftragt den Generalunternehmer. 

Ab wann man einsteigen kann
Sobald das Bauprojekt so weit steht, werden Mitstreiter:innen gesucht, die ihr Geld einbringen, mitmachen und dort wohnen möchten. Bei Kennenlerntreffen gleichen Interessierte ab, ob die Vorstellungen ähnlich oder ganz anders sind, und wer was oder wie viel in die Gemeinschaft einbringen möchte. Entscheidungen in der Bauphase sollen jetzt möglichst im Konsens von den künftigen Bewohner:innen gefällt werden, erzählt Hansen. Auf Nachfrage, was Konsens genauer bedeute, ob Mehrheitsverhältnisse nötig seien, antwortet er: Der Grad des Widerstands werde abgeprüft. Die letzte Entscheidung läge beim Geschäftsführer, der vom Beirat aus künftigen Bewohner:innen unterstützt werde. 

Sauna oder nicht Sauna
Es sei etwa darüber diskutiert worden, ob aufs Dach des Wohnprojektes eine Sauna kommt. Die Idee wurde aus Brandschutzgründen verworfen, nun wird diskutiert, ob es woanders im Gebäude eine Sauna geben soll. Bei ca. 25 000 Euro Baukosten hat die Idee jedoch nicht nur Befürworter. Noch sei das letzte Wort hier nicht gesprochen. Während bei selbst organisierten Projekten von der Gründung bis zum Einzug schon mal 15 Jahre ins Land ziehen können, bietet We-house Gemeinschaftsbildung im Zeitraffer an. Das Projekt wurde 2023 mit dem Ideenpreis Wohnbau Hamburg ausgezeichnet. Entworfen hat das Gebäude das Tübinger Architekturbüro Eble. 

Wie nachhaltig sind Wohnprojekte?

Laut einem Report der Deutschen Energieagentur Dena von 2022 ist der Gebäudesektor mit ca. 40 Prozent der Bereich, in dem in Deutschland die meisten CO2-Emissionen verursacht werden. Neben dem Energieverbrauch für Warmwasser und Heizung wurde auch die sogenannte „graue Energie“ berücksichtigt, die etwa für Baumaterialien und den späteren Rückbau anfällt. Gebäude gehören somit zu den größten Klimakillern. 

Bei vielen Wohnprojekten ist Nachhaltigkeit ein wichtiges Kriterium. Sowohl Wohnsinn als auch We-house Baakenhafen sparen konsequent Material, Energie und Emissionen ein, beim Bau wie im täglichen Betrieb. Wer ein Gebäude hinterher selbst bewohnt, für den lohnen sich Energiesparmaßnahmen, die in der Bauphase zunächst mehr Geld kosten, natürlich mehr. Das ist ein Vorteil der genossenschaftlich organisierten Wohnprojekte. Es lohnt sich, nachhaltig zu bauen und zusammenzurücken. Finanziell, menschlich und global. 

Leben

Klimafreundlich wohnen: So geht's

Wenn es um klimafreundliches Wohnen geht, zählt jeder Quadratmeter. Wir erklären, warum und stellen Projekte vor.

Mehr Infos

www.wohnsinn-darmstadt.de Genossenschaft mit bislang vier gemeinschaftlichen Wohnprojekten in Darmstadt

baakenhafen.we-house.life Wohnprojekt mit Beteiligung eines Bauträgers in Gründungsphase in der Hamburger Hafencity

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