Kolumne

Durchsichtiges Manöver

Kein Wachstum, kein Profit: Fred Grimm über Gläser, die nicht kaputtgingen und deshalb vom Markt verschwanden.

Neulich mal wieder: Eine blöde Bewegung, ein Scheppern und der Küchenboden sah aus, als hätte ein Mentaltrainer einen Scherbenteppich zum angstfreien Drüberlaufen angelegt. Wahnsinn, wie viele Splitter in einem einzigen Glas stecken können, dachte ich beim Zusammenfegen. Zu DDR-Zeiten habe ich mal erlebt, wie ein Kellner dutzende Biergläser auf einem Tablett balancierte, stolperte, alles fallen ließ – und sämtliche Gläser den Aufprall überstanden. Ich traute meinen Augen nicht. 

Tatsächlich gab es in der DDR, in der letztlich nicht mal die Mauer hielt, eine Glassorte, die bis zu fünfzehnmal stabiler war als alles, was im Westen auf die Tische kam. Diese Sorte, „Superfest“ genannt, verdankte ihre Entstehung zwar eher der Not, aber im Kern eben auch einem höchst ökologischen Kalkül. Da sowohl Rohstoffe als auch Energie knapp waren und die Herstellung von Gläsern beides im Übermaße benötigt, erforschten kluge Frauen und Männer am Leipziger Zentralinstitut für anorganische Chemie jahrelang, wie man Glas robuster macht. Am 8. August 1977 meldete ein vierköpfiges Team das Patent Nr. 157966 („Verfahren und Vorrichtung zur Verfestigung von Glaserzeugnissen durch Ionentausch für verfestigtes Trinkglas“) an. 

Gläser, die nicht kaputt gehen, lassen sich nur einmal verkaufen.

Fred Grimm

Von 1980 an stellte der VEB Sachsenglas Schwepnitz nach diesem Patent Abermillionen Superfest-Gläser in allen möglichen Varianten her. Funktional gestaltet, stapelbar, für Wodka, Bier, Sekt oder Weinbrand geeignet, und dabei ziemlich unkaputtbar. Und genau das war spätestens mit der Wende ein Problem. Aus der VEB Sachsenglas wurde die Saxonia-Glas GmbH, aus dem Superfest-Prinzip ein unüberwindbares Hindernis für eine marktwirtschaftliche Zukunft. Gläser, die kaputt gehen, lassen sich immer wieder neu verkaufen, unkaputtbare dagegen nur einmal. Kein Wachstum, kein Profit. Professor Günther Höhne, der beste Kenner des DDR-Industriedesigns und, wie ich aus glücklicher Erfahrung weiß, gemeinsam mit seiner Ehefrau auch ein wunderbarer Gastgeber, beschrieb es einmal so: „Die Gläser sind zu gut für reines Marktdenken.“

1991 wurden die Anlagen zur Herstellung der Superfest-Gläser verschrottet. Heute gelten die erstaunlich leichten Teile, von denen über hundert Millionen in Umlauf kamen, als begehrte Objekte auf den Onlinemärkten für Gebrauchtes. Ein tröstliches, aber auch irgendwie trauriges Ende. In dem aber auch ein neuer Anfang liegen kann. Das Berliner Start-up „Soulbottles“ will sich, wie ich neulich las, für seine Flaschen an einer Wiederauflage des Materials versuchen. Der Name: „Soulbottles Ultra“. Es wäre eine nette Hommage an das DDR-Design, das Ressourcenschonung und Kreislaufsysteme oft schon mitdachte, als man im Westen noch an den ewigen Überfluss glaubte. Gerade im Monat November, in dem wir gern der deutschen Einheit gedenken, sollten wir nicht vergessen, was auch der Westen vom anderen Deutschland hätte lernen können. 

Fred Grimm

Ein freundliches Männergesicht mit Glatze

Der Hamburger Fred Grimm schreibt seit 2009 auf der letzten Seite von Schrot&Korn seine Kolumne über die Wege und Umwege hin zu einer besseren Welt. Er freut sich über die rege Resonanz der Leserinnen und Leser und darüber, dass er als Stadtmensch auf ein Auto verzichten kann.

Veröffentlicht am

Kommentare

Registrieren oder einloggen, um zu kommentieren.

Das könnte interessant sein

Unsere Empfehlung

Ähnliche Beiträge