Kolumne

Der Preis des Lebens

Ein Preisschild für den Regenwurm? Unser Kolumnist Fred Grimm geht der Frage nach, welchen Wert die Natur hat oder besser gesagt haben sollte.

Vor ein paar Jahren hat die amerikanische Zeitschrift „Wired“ mal ausrechnen lassen, wie viel der Mensch eigentlich wert ist. Damit war nicht der symbolische Wert gemeint. Der liegt – je nach Person – wohl irgendwo zwischen unendlich und 1,12 Euro. Nein, dabei ging es allein um den Körper, unseren Materialwert sozusagen.

Wie viel Geld würde man für unsere Haut bekommen, wie viel für die Organe? Wie hoch sind die Marktpreise für die unfassbare Vielfalt unserer Körperflüssigkeiten? Wie viel gäbe es für körpereigene Chemikalien wie Phosphor oder Kalium?

Am Ende kam Wired auf die erstaunliche Summe von 46 Millionen Dollar, die zumindest mir einen Moment lang ein deutlich besseres Körpergefühl beschert hat. Allein die zwölf Gramm des Hirn-Hormons Thyrotropin sind demnach 654.000 Dollar wert. Wenn ich nur wüsste, wie ich das Zeug aus meinem Schädel kriege!

Seit geraumer Zeit versuchen Wissenschaftler auch für die Natur eine Art Preis zu errechnen, damit wir endlich ihren wahren Wert erkennen. Die Luft, die wir verpesten, muss niemand bezahlen. Ebensowenig die Wildbiene, die wir gerade ausrotten, oder den Regenwurm, der fleißig unsere Böden lüftet.

Der längst verstorbene Biochemiker und Kybernetiker Frederic Vester gehörte zu den Ersten, die auf dieses Grundproblem unseres Wirtschaftssystems hingewiesen haben. In seinem 1983 erschienenen Buch „Der Wert eines Vogels“ versucht er sich an einer Kalkulation für all das, was beispielsweise ein Blaukehlchen als ökologischer und emotionaler Partner des Menschen leistet. Seine jährliche Arbeitsleistung beziffert Vester auf 154,09 Euro. Das Blaukehlchen vernichtet Schädlinge und erfreut unsere Herzen. Sein beruhigender Gesang entspricht dem Gegenwert einer täglichen Valiumtablette, meint Vester. Ihm zufolge verdient eine Buche für ihre Lebensleistung sogar eine Viertelmillion. Sie reinigt die Luft, spendet Schatten und Schönheit und gewährt ein Heim für zahllose Kleintiere, ohne die der Wald zusammenbrechen würde.

Nun wünscht sich niemand, dem an der Natur etwas liegt, dass diese auch noch über Preise als handelbare Ware in den Kapitalismus integriert wird. Andererseits belohnen ihre Gratis-Dienstleistungen die rücksichtslose Ausbeutung. Keine der 20 größten Wirtschaftsbranchen würde profitabel arbeiten, müssten die Unternehmen die Vernichtung unserer natürlichen Ressourcen und Lebensgrundlagen auch bezahlen.

Vielleicht sollten wir dem Wind, den Blaukehlchen und Schmetterlingen, dem Meer und den Bäumen tatsächlich mal eine
Weile lang ein imaginäres Preisschild anheften, um endlich zu begreifen, welchen Reichtum wir da täglich vernichten lassen. Vielleicht werden wir ja dadurch zu genau den Menschen, die wirklich 46 Millionen Dollar wert sein könnten.

Fred Grimm

Der Hamburger Fred Grimm schreibt seit 2009 auf der letzten Seite von Schrot&Korn seine Kolumne über gute grüne Vorsätze – und das, was dazwischenkommt. Als Kolumnist sucht er nach dem Schönen im Schlimmen und den besten Wegen hin zu einer besseren Welt. Er freut sich über die rege Resonanz der Leser und darüber, dass er als Stadtmensch auf ein Auto verzichten kann.

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