Acht Menschen sitzen auf Stühlen im Kreis und atmen. Hinter den meisten liegt ein anstrengender Arbeitstag, einige bemerken Verspannungen im Rücken, und Verwaltungsangestellte Ulla stellt fest: „Ich bin nur im Kopf.“ Atemtherapeutin Britta Jacob lädt zu einer inneren Entdeckungsreise ein: Wo spüren wir unseren Atem? Gibt uns der Körper Impulse, sich zu bewegen?
Bald räkeln und dehnen sich die ersten, es wird herzhaft gegähnt und geseufzt. Einfache Bewegungsübungen, die vom Atem begleitet werden, entlasten die Muskulatur. Wir klopfen in Einzel- und Partnerübungen den ganzen Körper ab, um Spannung abzubauen. So entsteht Stück für Stück Weite: Der Atem geht tiefer, er kommt aus dem Bauch und füllt den ganzen Beckenraum. Das fühlt sich wohlig an und gibt Kraft. Die Wirbelsäule kann sich ohne Anstrengung aufrichten. Auf einigen Gesichtern erscheint ein zufriedenes Lächeln.
Was den Atem mit Gedanken und Gefühlen verbindet
Viele Redewendungen drücken aus, wie stark unsere Gedanken und Gefühle mit dem Atem verbunden sind: Wut kann uns die „Luft abschnüren“, bei einem Schrecken „stockt der Atem“, und bei Überforderung können wir „in Arbeit ersticken“. Ist die Belastung vorbei, „atmen wir auf“.
In vielen Kulturen gilt der Atem als Tor zur Lebenskraft und Vermittler zwischen äußerer und innerer Welt. Seit mehr als 2000 Jahren werden diese Zusammenhänge erforscht, und viele verschiedene Atemlehren vermitteln, wie wir über Atemübungen unsere Befindlichkeit verbessern können. Meditations- und Entspannungspraktiken setzen beim Atem an: Wer seinen Fokus auf das Ein- und Ausatmen setzt, ist ganz im Hier und Jetzt.
Welche Muskeln am Atemprozess beteiligt sind
Mit durchschnittlich fünfzehn Atemzügen pro Minute versorgt ein erwachsener Mensch in Ruhephasen seinen Körper mit lebenswichtigem Sauerstoff und scheidet über das Ausatmen Kohlendioxid und andere Stoffwechselendprodukte aus.
Die Lunge besteht aus elastischem Gewebe, das durch die umliegenden Muskeln bewegt wird. Das Zwerchfell, das quer zwischen Bauch- und Brusthöhle liegt, senkt sich bei jedem Atemzug in den Bauchraum. Auch zahlreiche Muskeln der Rumpf- und Haltemuskulatur sind am Atemprozess beteiligt. Sind sie verspannt, können die inneren Atem-Räume nicht voll ausgenutzt werden.
Weshalb Erwachsene häufig zu flach und hektisch Luft holen
Bei Babys kann man beobachten, wie der Atem wie eine Welle durch Brust, Flanken und Bauch fließt. Diese Vollatmung haben zwei Drittel der Erwachsenen verlernt. Eine sitzende Tätigkeit, schlechte Körperhaltung, enge Kleidung, Leistungsdruck oder zurückgehaltene Gefühle engen die Atmung auf den Brustraum ein.
Dazu kommt: Wer wenig Bewegung hat, kann den Sauerstoff in der Atemluft schlechter nutzen als ein trainierter Mensch. Er muss häufiger atmen. Wer aber flach und hektisch nach Luft schnappt, läuft Gefahr, nicht mehr vollständig auszuatmen – so nimmt er mit dem neuen Atemzug viel der verbrauchten Energie wieder zu sich. Aus dem Alltag kennt jeder die beruhigende Wirkung von tiefen, langen Atemzügen. Wer sich jedoch darauf konzentriert, eine große Menge Luft einzuatmen, verspannt sich leicht.
Beim Yoga liegt bei den meisten Pranayama-Atemübungen der Fokus auf dem Ausatmen. Wenn sich die Lunge gründlich leert, kann entspannt frischer Atem nachfließen. Außerdem stimuliert das Ausatmen den Parasympathikus und fährt uns so bei Hektik runter.
Atemtherapie: Den Atem erfahren und schulen
„Wer mit Atemtherapie beginnt, ist oft auf der Suche nach dem ‚richtigen‘ Atem“, hat Britta Jacob festgestellt. „Dabei hat jeder seinen eigenen Rhythmus. Der Atem eines Menschen ist so individuell wie sein Fingerabdruck.“ Die Hamburgerin arbeitet mit der Methode des „erfahrbaren Atems“ der bekannten Atemtherapeutin Ilse Middendorf, die das Atemgeschehen nicht willentlich beeinflussen will.
Im Mittelpunkt der Selbsterfahrungs-Methode steht das Beobachten des eigenen Atems, das die Wahrnehmung für die Bedürfnisse von Körper und Seele stärken möchte. „Schon ein paar Atemübungen können helfen, sich bei Stress zu regulieren und Verspannungen abzubauen“, sagt Britta Jacob.
Ob Lehrerin oder Klarinettist: So hilft die Methode
In ihrer Atemgruppe sind einige Teilnehmer schon seit vielen Jahren dabei: Evelyn, die mit Anfang 40 wegen Burnout aus dem Lehrerberuf ausscheiden musste, erkundet mit Hilfe des Atems das Ruhebedürfnis ihres Körpers. „Früher habe ich mich bei der Arbeit völlig vergessen“, sagt sie. „Jetzt lasse ich es gar nicht mehr so weit kommen.“
Auch Klarinettist Herbert hat über die Atemarbeit gelernt, ökonomisch mit seiner Kraft umzugehen: „Ein Blasinstrument zu spielen ist ein Leistungsberuf. Hier lerne ich, wie ich durch den Atem die nötige Spannung aufbaue und den Atem nutzen kann, um zu gestalten.“
Ulla, die früher wegen ihrer Rückenbeschwerden kaum noch laufen konnte, ist die Gruppe heilig: „Ich brauche mich hier nur auf den Hocker zu setzen und zu spüren, wie der Atem durch den Körper fließt. Wenn ich mit meiner Kraftquelle im Becken verbunden bin, komme ich zur Ruhe.“ Wenn sie in ihrem stressigen Verwaltungsjob nur noch „im Kopf ist“, zieht sie sich kurz zurück, macht ein paar Dehnübungen und nimmt ein paar bewusste Atemzüge. Und wenn Leute mit Unverständnis darauf reagieren, dass sie eine Atemgruppe besucht, hat Ulla eine Antwort parat: „Am Dienstagabend gehe ich atmen, und sonst hole ich nur Luft!“
Atem-Tipps für den Alltag
- Power-Pause Gähnen und Seufzen sind ganz natürliche Formen der Tiefenatmung. Dehnen und räkeln Sie sich dabei genussvoll, damit frische Energie Ihre Lunge füllen kann. Und vergessen Sie nicht, herzhaft zu lachen, denn das lockert wunderbar das Zwerchfell.
- Spannungen loslassen Setzen Sie sich aufrecht hin, legen Sie die Hände auf den Bauch und atmen Sie durch die Nase. Konzentrieren Sie sich auf das langsame Ausatmen. Es hilft, beim Einatmen („los“) und Ausatmen („lassen“) zu denken und bewusst alle Spannungen auszuatmen.
- Einen kühlen Kopf bewahren Bevor hitzige Gefühle mit Ihnen durchgehen, setzen Sie sich entspannt hin, strecken die Zunge etwas heraus und rollen sie zu einer Röhre. Atmen Sie durch die Zungenröhre ein, halten den Atem einen Moment und atmen durch die Nase aus. 3–5 Mal wiederholen.
- Für Ausgleich sorgen Aufrecht hinsetzen, das rechte Nasenloch schließen und links einatmen. Dann links schließen und durch das rechte Nasenloch etwa doppelt so lang ausatmen. Dann rechts einatmen und nur links ausatmen. 10 x wiederholen. Wechselatmung wirkt ausgleichend.
Der Berufsverband Atem e.V. informiert über Atemtherapie und führt auch eine Liste von Therapeuten.
Unter dem Stichwort "Atemübungen" bietet Yoga Vidya zahlreiche Anleitungen.
Auch im Buch von Heike Höfler: Atem-Entspannung: Soforthilfe bei inneren und äußeren Spannungen. (Trias-Verlag 2015, 112 Seiten, 14,99 Euro) findet ihr über 70 einfache Übungen wie den
Atemspaziergang in der Natur:
Atmet während zwei Schritten durch die Nase ein und während der nächsten vier Schritte durch die Nase oder einen Lippenspalt wieder aus. Geht aufrecht, bleibt gedanklich beim Atem und schenkt euch selbst ein Lächeln. Erspürt mit den Füßen die Bodenbeschaffenheit und öffnet euch mit allen Sinnen der Natur. Bleibt nach einer Weile aufgerichtet mit leicht gebeugten Knien stehen und stellt euch vor, wie kleine Wurzeln aus den Fußsohlen in die Erde wachsen. Verlagert das Gleichgewicht sanft vor- und zurück, wiegt euch wie ein Baum im Wind.
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