Kolumne

Das Leben umarmen

Soll man, kann man diesen Sommer überhaupt noch genießen angesichts der Weltlage? Das fragt sich Fred Grimm in seiner aktuellen Kolumne.

Wahrscheinlich ist kein Satzanfang in den vergangenen beiden Jahren so oft gesagt worden wie dieser: „Wenn das alles vorbei ist …“ Seine Fortsetzung lautete dann in etwa so: „… fahren wir erst mal richtig in den Urlaub“; „… treffen wir uns alle wieder so wie früher“; „…fange ich ganz neu an …“ Undsoweiter. In den dunkelsten Monaten der Pandemie und der damit verbundenen Krisen haben sich viele Menschen an solche Sätze geklammert. Jeder Sonnentag war ein Tag der Hoffnung, dass es jetzt nicht mehr lange dauern würde, bis … Ja, bis was eigentlich?

Der russische Terrorkrieg im Herzen Europas scheint die letzte Sicherheit vertrieben zu haben, dass es einen nahen Zeitpunkt gibt, an dem sich wieder so etwas wie „Normalität“ einstellen würde. Das latente Krisengefühl hat sich in unsere Leben eingenistet wie ein ungebetener Gast. Alles fühlt sich falsch an in diesem Frühsommer. Darf man wirklich fröhlich am Strand herumplanschen, während gerade Millionen Menschen die Heimat zerbombt wird? Ist es ignorant, mit Freunden abends draußen vor dem Restaurant zu sitzen und zu schlemmen, wenn anderswo Eltern ihre verhungerten Kinder begraben?

„Die Widersprüche unserer Welt sind nur auf schreckliche Weise noch sichtbarer geworden.“

Vor vielen Jahren leitete der Spiegel ein Gespräch mit dem Philosophen Theodor W. Adorno mit dem Satz ein: „Herr Adorno, gestern schien die Welt noch in Ordnung …“ „Mir nicht“, unterbrach der Frankfurter Weltendeuter und lag damit damals so richtig wie heute jeder Mensch liegen würde, den oder die das menschengemachte Elend der Welt erschüttert. Dass einem die globale Ungerechtigkeit und die Brutalität der militärisch-industriell geprägten, von fossilen Energieträgern buchstäblich befeuerten Wirtschaftsordnung mit ihrer systematischen Naturzerstörung heute so unverstellt vor Augen treten, bedeutet ja nicht, dass dies alles gerade erst angefangen hat. Die Widersprüche unserer Welt sind nur auf schreckliche Weise noch sichtbarer geworden.

Aber wie nahe kann man die ganzen Krisen und das Elend an sich heranlassen, ohne darüber zu verzweifeln? Soll man, kann man diesen Sommer überhaupt noch genießen oder bleibt einem nur, sich grimmig in der neuen Normalität des Schreckens einzurichten und innerlich auf noch schwerere Zeiten vorzubereiten?

Das Leben ist ein Geschenk und unsere Welt ist es sowieso. Ein unverdientes, könnte man vielleicht meinen, wenn man sieht, wie viele damit umgehen. Aber was wäre eine bessere Reaktion, als gerade jetzt und unbedingt, dieses Leben und unsere Welt zu umarmen? Wir werden sehr viel Kraft brauchen, für die Jahre und Kämpfe, die vor uns liegen. Denn trotz allem sollte einen die Hoffnung nicht verlassen, dass diese Welt, in der gerade Ausbeutung, Hass, Dummheit und Gier die Oberhand zu gewinnen scheinen, nicht auch ganz anders werden könnte. Wenn das alles mal vorbei ist.

Fred Grimm

Der Hamburger Fred Grimm schreibt seit 2009 auf der letzten Seite von Schrot&Korn seine Kolumne über die Wege und Umwege hin zu einer besseren Welt. Er freut sich über die rege Resonanz der Leserinnen und Leser und darüber, dass er als Stadtmensch auf ein Auto verzichten kann.

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