Kolumne

Das Jahr der Frauen

Fred Grimm fragt sich, warum die Stimmen der Frauen auf vielen Gebieten immer leiser und seltener werden.

Wahrscheinlich haben auch Sie 2024 irgendwann mal eine imaginäre Bettdecke über den Kopf gezogen und sich fest eingekuschelt: Eine Zeitlang keine schlechten Nachrichten mehr hören, keine bangen Gedanken an das, was werden soll. So viel Tod und Zerstörung, so viel Grauen, was Menschen einander antun; die Jahresrückblicke, die jetzt auf uns einprasseln, sind eine Chronik des Schreckens. Und doch gibt es selbst in so einem Jahr Meldungen, die einen ganz besonders bedrücken, vielleicht gerade weil sie es nicht auf die vorderen Seiten der Zeitungen oder in die „Tagesschau“ geschafft haben.   

Im August verkündeten die afghanischen Taliban das sogenannte „Tugendgesetz“. Fortan dürfen Frauen nicht nur weder Haar oder gar einen Quadratzentimeter Haut zeigen, wenn sie das Haus verlassen, jetzt ist ihnen auch noch das Sprechen in der Öffentlichkeit untersagt, weil allein der Klang ihrer Stimmen – so die Tugendterroristen – Männer in tiefste Unmoral stürzen könnte. Anfang Oktober erkannte der Europäische Gerichtshof mit Blick auf Geflüchtete aus Afghanistan das Frau-Sein an sich als legitimen Asylgrund an. 

Die Stimmen der Frauen werden auf vielen Gebieten seltener und leiser.

Fred Grimm

In seinem verstörenden Extremismus sticht das „Tugendgesetz“ heraus. Und doch fügt es sich auf traurige Weise in eine Welt, in der Frauenstimmen immer seltener zu hören sind. Stattdessen geben Gestalten wie Putin, Xi Jinping oder Donald Trump den aggressiven Ton an. Sie führen Kriege oder drohen damit, weil Länder sich ihnen einfach nicht so unterwerfen wollen wie man es von Frauen im Reich der Taliban verlangt. Übrigens sind auch in den Führungsetagen der fossilen Konzerne weibliche Stimmen in etwa so rar wie singende Tänzerinnen auf Kabuls Straßen. Dort wird weiter unverdrossen die Unterwerfung der Erde – „Mutter Natur“ – zelebriert, der man Öl, Gas und Kohle abtrotzt und so auch in diesem Jahr weiter die Klimakrise befeuert hat, deren Folgen Hunderte Milliarden Euro Schäden verursacht. Die US-Politikwissenschaftlerin Cara Daggett hat für die Verknüpfung wütender, ungebremster Männlichkeit, Autoritarismus und Weltzerstörung durch fossile Brennstoffe den Begriff „Petromaskulinität“ geprägt.

Seit vielen Jahren werden die Stimmen der Frauen auf beinahe allen Gebieten des öffentlichen Lebens seltener und leiser. Wer sich vorwagt, erlebt etwa in den Sozialen Medien eine nicht minder unerfreuliche deutsche Taliban-Variante, bei der Männer vor allem eher linksgrün denkende Frauen attackieren, als wünschten sie sich so ein „Tugendgesetz“ auch für unser Land. 

1975 gab es mal ein „Jahr der Frau“, mit dem die Vereinten Nationen die Welt darauf hinweisen wollten, dass Gesellschaften auf allen Ebenen reicher, klüger und nachhaltiger werden, wenn Frauen endlich den gleichen Einfluss haben wie der Mann. Fast genau fünfzig Jahre später ist es so wichtig wie noch nie, daran immer wieder zu erinnern.

Fred Grimm

Ein freundliches Männergesicht mit Glatze

Der Hamburger Fred Grimm schreibt seit 2009 auf der letzten Seite von Schrot&Korn seine Kolumne über die Wege und Umwege hin zu einer besseren Welt. Er freut sich über die rege Resonanz der Leserinnen und Leser und darüber, dass er als Stadtmensch auf ein Auto verzichten kann.

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Kommentare

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Moni Bauer

Ich bin der Ansicht, dass die Welt friedlicher wäre, wenn Frauen statt Männer an der Macht wären
Moni

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