Sie sind ein Kritiker unseres kapitalistischen Wirtschaftssystems. Was ist das Kernproblem?
Das Wirtschaftssystem fokussiert auf Gewinn und Profit und die Mehrung von Privateigentum, das sind falsche Ziele. Werden diese Mittel zum Zweck, dann gefährden sie alle Grundwerte – von der Menschenwürde über den sozialen Zusammenhalt und die Demokratie bis hin zum Schutz des Weltklimas und der Artenvielfalt.
Sie haben eine neue Form des Wirtschaftens mitentwickelt. Wie würden Sie die Gemeinwohl-Ökonomie (GWÖ) in drei Sätzen beschreiben?
Sie ist eine Wirtschaftsweise, in der alle wirtschaftlichen Aktivitäten auf das Gemeinwohl ausgerichtet sind. Daran wird sie auch gemessen. Dies bedeutet in der Praxis, dass die, die mehr zum Gemeinwohl beitragen, zum Beispiel steuerlich privilegiert werden. Solche, die das Gemeinwohl gefährden, werden über höhere Steuern, Zinsen und Zölle zur Einhaltung der gesellschaftlichen Ziele angereizt.
Neoliberale Thinktanks werden ihren Einfluß geltend machen.
Im Moment wird ziemlich deutlich, wer viel zum Gemeinwohl beiträgt. Es sind Krankenschwestern, Pfleger, die Verkäuferinnen und Verkäufer… Was würde/könnte sich für diese Berufsgruppen in der Gemeinwohl-Ökonomie ändern?
In einer Gemeinwohl-Ökonomie ist allen Menschen ein würdevolles Dasein möglich. Ungleichheiten beim Einkommen halten sich in maßvollen Grenzen. Die Basis könnte beispielsweise ein dreistufiges Mindesteinkommen bilden: ein erhöhter Mindestlohn von etwa 2000 Euro monatlich netto für „systemrelevante“ Berufe. Ein Mindestlohn für alle anderen von beispielsweise 1500 Euro netto. Sowie ein bedingungsloses Grundeinkommen für alle von zum Beispiel 1000 Euro monatlich netto. Das wäre das Ende von Hartz IV, Obdachlosigkeit, extremer Armut aber auch, dem Zwang unwürdige Arbeiten anzunehmen. Ein Verfassungsgrundsatz könnte lauten, dass die Betreuung von Menschen – also von Kindern, Kranken, Pflegebedürftigen oder Sterbenden – nicht geringer entlohnt werden darf als die Betreuung von Finanzvermögen beispielsweise durch Fonds-Manager.
Ist die Corona-Krise eine Chance für mehr Gemeinwohl-Ökonomie?
Wir hoffen es, viele Menschen kommen zum Nachdenken, richten den Blick nach innen und auf ihre Grundbedürfnisse: Was zählt wirklich im Leben? Ergebnis solcher Selbstreflexionsprozesse könnte sein, dass die Menschen sich vermehrt für eine nachhaltige und am Gemeinwohl orientierte Wirtschaftsweise einsetzen, dass Unternehmen eine Gemeinwohl-Bilanz erstellen und dass Banken zunehmend Kredite für nachhaltige Projekte vergeben. Oder dass wir es nicht als „Verzicht“, sondern als Gewinn von Lebensqualität, Gerechtigkeit und Freiheit interpretieren, wenn wir das Leben auf dem Planeten gleich effektiv schützen wie Privateigentum.
Sehen Sie aktuell in Deutschland, Österreich oder in der Europäischen Union den politischen Willen für Veränderungen in diese Richtung?
Die GWÖ hatte vor dem Corona-Ausnahmezustand starken Zulauf: Unternehmen, Gemeinden, Städte, Landkreise und Hochschulen standen beinahe Schlange. Wir hatten Auftrieb von unten nach oben. Nun ist die gesamte Aufmerksamkeit auf Shutdown und Exit gerichtet. Wir versuchen so laut wie möglich zu fordern, dass die Unterstützung von Unternehmen an Bedingungen geknüpft wird, um jetzt den Systemwandel einzuläuten. Doch von den Regierungen höre ich aktuell nichts zu Klimaschutz, Schutz der Artenvielfalt, ethischem Welthandel oder Gemeinwohl-Ökonomie.
Wo stoßen Sie auf Offenheit? Wo auf Abwehr?
Ich sehe wie gesagt zur Zeit nicht, dass die Regierungen den Rat der NGOs suchen. Die Industrie-Lobbies sitzen fest im Sattel, und die eingegrabenen Kanäle scheinen gut zu funktionieren. Wieso hilft die Europäische Zentralbank zuerst börsennotierten Unternehmen statt Menschen oder nachhaltigen Organisationen? Bei der Bevölkerung ist die Bereitschaft für wirksame Maßnahmen in viel höherem Maße ausgeprägt. Das war schon vor Corona am Beispiel Klimaschutz gut zu beobachten: Während die Herzen der Bevölkerung den Fridays for Future-Aktivisten zuflogen, schnürte die Bundesregierung ein Klimapäckchen, das mit bloßem Auge kaum zu erkennen ist. Wir zahlen jetzt den Preis dafür, dass wir das Entstehen zu großer und mächtiger Konzerne zugelassen haben.
Was hoffen Sie? Was befürchten Sie?
Ich hoffe, dass die Regierungen das 1,5-Grad-Ziel oder das Null-Hunger-Ziel gleich ernst nehmen wie zuletzt das Halten der Infektionsrate unter 1,0. Ich fürchte, dass „neoliberale“ Thinktanks, die weiter auf Wachstum und Profit setzen, ihren Einfluss auf Regierungen in eine andere Richtung geltend machen werden. Von daher hoffe ich auch auf mehr Demokratie, Bürgerräte und demokratische Wirtschaftskonvente, in denen die Bürger Grundsatzentscheidungen über das Wirtschafts-, Geld- und Finanzsystem oder eben zum Schutz des Lebens auf dem Planeten selbst treffen können.
Christian Felber

... ist Autor, Tänzer und Hochschullehrer. Der Österreicher hat 2010 den „Verein zur Förderung der Gemeinwohl-Ökonomie“ gegründet. Die Gemeinwohl-Ökonomie ist ein alternatives Wirtschaftsmodell, in dem das Wohl von Mensch und Umwelt das Ziel des Wirtschaftens ist. Felber hat romanische Philologie, Psychologie, Soziologie und Politologie studiert. In seinem neuen Buch „This is not economy“ kritisiert er die Ökonomie als Wissenschaftsdisziplin. Er wirbt unter anderem dafür das Studium der Wirtschaftswissenschaft mit Ökologie und Ethik zu ergänzen.
Wie ist die GWÖ entstanden?
Der Auslöser war der Widerspruch zwischen unseren demokratischen Grundwerten und den sogenannten Werten, welche der globalisierten Ökonomie zugrunde liegen. Ich war damals noch bei Attac in Österreich und hatte schon das Buch „Neue Werte für die Wirtschaft“ geschrieben, das aber für ein breites Publikum zu komplex war. Dennoch haben ein Dutzend Unternehmer vorgeschlagen, das Konzept zu vereinfachen und praktikabel zu machen und sich als Pioniere einer GWÖ-Bewertung zur Verfügung zu stellen.
Nach welchen Kriterien werden Unternehmen bewertet?
Das sind zunächst demokratische Grund- und Verfassungswerte: von der Menschenwürde über Solidarität und Gerechtigkeit bis zur ökologischen Nachhaltigkeit und Demokratie. Das wird in der GWÖ-Bilanz in konkrete und bewertbare Themen und Teilaspekte aufgeschlüsselt.
An der Gemeinwohl-Bilanz wird kritisiert, dass die Kriterien zu komplex seien und der Fragenkatalog zu bürokratisch sei …
Das hieß es bei der Finanzbilanz auch, bei der es ausschließlich um monetäre Informationen wie die Aufstellung von Vermögen und Schulden geht. Heute ist sie rechtsverbindlich. Wir schlagen aber drei abgestufte Berichtsformate für kleine, mittlere und große Unternehmen vor, damit der Aufwand für alle zu bewältigen ist.
Unsere Wirtschaft ist auf Profit ausgerichtet, unsere Gesellschaft auf Konsum. Hat Ihr Konzept da überhaupt eine Chance?
Die Pioniere sind so motiviert und unterstützen sich gegenseitig so stark, dass sie sich als Nische etablieren konnten. Jetzt muss die Politik handeln und die Spielregeln für das Wirtschaften ändern. Sie muss einen neuen Rechtsrahmen schaffen, der die neue, auf Gemeinwohl ausgerichtete Wirtschaftsweise unterstützt.
Der Homo oeconomicus ist ein Psycho- und Soziopath.
Wie radikal muss sich Wirtschaft verändern?
Bis an
die Fundamente. Die Ökonomie muss revolutioniert werden. Die
wirtschaftspolitischen Spielregeln müssen geändert werden – von
Gewinnstreben, Konkurrenz und Wachstum auf Kooperation,
Gemeinwohlorientierung und Gleichgewicht. Und das Menschenbild des
sogenannten Homo oeconomicus muss durch einen emotional gesunden,
beziehungsfähigen und ökologisch empathischen Menschen ersetzt werden.
Der Homo oeconomicus, wie er heute in den Wirtschaftswissenschaften
gelehrt wird, ist ein Psycho- und Soziopath.
Welche Bedeutung hat die Bio-Bewegung in der Gemeinwohl-Ökonomie?
Sie ist eine tragende Säule. Gemeinwohl ohne Bio ist nicht vorstellbar. Am Anfang kamen viele Pionierunternehmen aus dem Ökologiebereich und dem fairen Handel. In der Bewertung der Unternehmen berücksichtigen wir biologische Lebensmittel, erneuerbare Energie und regionale Zulieferer.
Welche Rolle hat Bio in Ihrem Leben?
Ich komme aus der Ökologiebewegung. Meine Ernährung gestalte ich konsequent bio, regional, saisonal und fleischarm. Ich erstelle ja für mich selbst eine Gemeinwohl-Bilanz und ein Auto habe ich noch nie besessen.
Kann die Gemeinwohl-Ökonomie zur Bekämpfung der Klimakrise beitragen?
Die Gemeinwohlbilanz kann einen ganz wichtigen Beitrag dazu leisten. Der Wichtigste ist, das Bruttoinlandsprodukt abzulösen – und zwar durch ein Gemeinwohlprodukt, das Klimastabilität beinhaltet. Dazu braucht es CO2-Steuern in Kombination mit CO2-Zöllen, um Wettbewerbsnachteile für ökologisch produzierende Firmen zu verhindern. Wir brauchen ökologische Menschenrechte, die den Umweltverbrauch der Menschen auf das jährlich erneuerbare Angebot des Planeten begrenzen.
Sie befassen sich nicht nur mit Ökonomie, sondern sagen über sich selbst „Ich tanze, ergo sum (also bin ich)“.
Das Tanzen, Bewegen und Berühren ist eine zentrale Energiequelle in meinem Leben. Beim Tanzen erfülle ich nicht nur Grundbedürfnisse und gleiche mich energetisch zu den politischen Aktivitäten aus, sondern ich schärfe auch den Geist und bringe Denken und Fühlen zusammen. Ich würde sogar sagen, dass Tanz eine Quelle von Weisheit ist.
Sie träumen von einer „Kultur der universalen Liebe“. Was bedeutet das?
Es ist ein alter und keineswegs nur mein Traum, dass die Menschen eines Tages so sensibel und empathisch verbunden sein werden, dass sie gewaltfrei miteinander leben. Erreichen wir diese Kultur höherer Bewusstheit, sollten wir es sogar schaffen, ohne Gesetze und Geld zu leben und trotzdem alle unsere Bedürfnisse gut befriedigen zu können, sogar besser als im Kapitalismus.
Klingt nach der Utopie der Anarchie?
Jedes Morgen ist immer auch ein U-Topos, also ein Ort, an dem wir heute noch nicht sind. Und An-Archie steht für Abwesenheit von Herrschaft, also für Freiheit verantwortungsvoller Menschen.
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