Kolumne

Wer brennt wie Brandt?

Die Bundestagswahl im September ist die wichtigste Wahl unserer Generation, findet Fred Grimm. Doch wen wählen?

Als ich neun war, überredete ich meine Mutter, mit mir zu einer Wahlkundgebung von Willy Brandt zu gehen. Ich hatte ihn im Fernsehen gesehen und war tief beeindruckt, ohne recht zu verstehen, warum. An einem nebelkalten Oktobertag im Jahr 1972 kamen Tausende in die Hamburger Innenstadt, um den Bundeskanzler zu hören, viele von ihnen mit „Willy wählen“-Buttons am Revers ihrer Mäntel. Meine Mutter hatte Angst, mich im Gedränge zu verlieren, aber alles ging gut.

Später las ich nach, was eigentlich los gewesen ist. Um die Politik der SPD/FDP-Regierung war ein heftiger Streit entbrannt. Allen voran Willy Brandt hatte sich für die Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn eingesetzt, die im Krieg so schwer unter den deutschen Truppen gelitten hatten. Dafür wollte er auf einstmals deutsche Gebiete in Polen verzichten, die von CDU, CSU und NPD wütend beansprucht wurden. Und weil die sozial-liberale Koalition auch noch für mehr betriebliche Mitbestimmung warb und das Wort „Umweltschutz“ in die deutsche Politik einführte, finanzierten deutsche Industrielle den Anti-Brandt-Wahlkampf mit bis dato ungeahnten Millionensummen. Wenige Wochen vor der Wahl sagten Umfragen der Union 51 Prozent der Stimmen voraus.

Doch dann geschah etwas Unerwartetes. Die Menschen begannen auf einmal, sich für Politik zu interessieren, spürten, dass da etwas ganz Großes in Gefahr war, unter einem Berg aus Zynismus begraben zu werden. Da trat jemand an, der bereit war, auch gegen geballte Widerstände immer wieder für das Richtige zu werben, selbst wenn es ihn die Macht kosten sollte. Brandt wollte „mehr Demokratie wagen“, weil er fühlte, dass die Menschen klüger waren als es die Leitartikler und Unternehmensführer ahnten. Am Wahltag gaben 91 Prozent aller Deutschen ihre Stimme ab, die SPD erreichte 46 Prozent, so viel wie vorher und nachher nie wieder.

Diesen Herbst stehen wir vor der wichtigsten Wahl unserer Generation.

Diesen Herbst stehen wir vor der wichtigsten Wahl unserer Generation. Und ich wünschte mir, auch diesmal wäre da jemand, der den Kampf gegen die Klimakrise mit ähnlicher Entschlossenheit und Leidenschaft vertritt wie einst Brandt die neue Ostpolitik. Ihn trieb die Einsicht in die Realitäten, gegen die man langfristig keine Politik gestalten kann. Auch wir wissen längst, was zu tun ist: Nicht ein bisschen Kohleausstieg, sondern einer, der heute beginnt. Nicht ein bisschen Bio – als Luxusnische im von Tierquälerei, Boden- und Artenvernichtung geprägten System der industrialisierten Landwirtschaft, sondern den Einstieg in den Umstieg auf hundert Prozent. Nicht ein bisschen Verbrennermotor, sondern gar keiner mehr.

In diesem Herbst sollten die Wähler regelrecht gezwungen werden, zu entscheiden, in welcher Welt sie leben wollen. Ich bin mir sicher: Auch heute sind sie wieder klüger als viele Einflüsterer denken. Man müsste nur mal wieder – mehr Demokratie wagen.

Fred Grimm

Der Hamburger Fred Grimm schreibt seit 2009 auf der letzten Seite von Schrot&Korn seine Kolumne über gute grüne Vorsätze – und das, was dazwischenkommt. Als Kolumnist sucht er nach dem Schönen im Schlimmen und den besten Wegen hin zu einer besseren Welt. Er freut sich über die rege Resonanz der Leser und darüber, dass er als Stadtmensch auf ein Auto verzichten kann.

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