Die große Zeit der Videokonferenzen scheint inzwischen wieder vorbei zu sein. Aber für viele Büromenschen gehört der gelegentliche Zoom-, Teams- oder Skype-Call noch immer dazu. Mittlerweile sehen auch alle – bis auf mich, leider – vor ihren Kameras perfekt aus wie Instagram-Stars. Doch am Ende eines „Calls“ zucke ich trotz aller Routine jedes Mal kurz zusammen, wenn auf meinem Monitor die Frage auftaucht: „Wie beurteilen Sie die Qualität dieses Anrufs?“
Ohne es so recht zu merken, sind wir in eine Welt hineingeraten, die ständig Urteile von uns erwartet. Wir vergeben Sterne für Bio-Kisten, Klempnerdienste, das Einchecken im Hotel, das Auschecken. Wir schreiben über Smoothie-Standmixer, Barbiere oder Netflixserien. Sitzt man im Zug, lockt ein QR-Code zum Draufklicken: „Wie war Ihre Fahrt?“ Zeit für die Antwort wäre bei den vielen Verspätungen ja genug da.
Wo spannende Geschichten warten
Ich gehöre allerdings zu jenen, die ungern werten, sondern lieber lesen, was andere so erleben. Bei Google zum Beispiel genügt es vielen nicht, ein bis fünf Sterne zu vergeben. Sie begründen auch, warum. Manche Rezensionen lassen Mini-Dramen des Alltags aufscheinen: „Ich bin noch nie so behandelt worden wie an dieser Rezeption“, beschwert sich da einer. Die lakonische Antwort des Hotels: „Unsere Mitarbeiterin an der Rezeption auch nicht.“ Humoristisch veranlagte Menschen beurteilen die Hamburger Davidwache („Sehr dubiose, aber kostenlose Unterkunft“), den Neckar („Zehn von zehn Enten würden wiederkommen“) oder die Nordsee („Mal ist das Wasser da, mal weg, kann man sich nicht drauf verlassen – ein Stern“).
Ich gebe zu, dass ich mich manchmal selbst gern von fremden Wertungen leiten lasse, auf der Suche nach einem Café zum Beispiel. 2,7 Sterne? Klingt nach Büroplörre. 4,9 bei 2304 Rezensionen? Da muss ich hin! Auch wenn den Orten mit den besten Noten vielleicht gerade deshalb das Besondere fehlt. Ohnehin dürfte man im Bereich der Ein-Sternbewertungen die spannenderen Geschichten erleben.
„Wir sind in eine Welt geraten, die ständig Urteile von uns erwartet.“
Mich interessieren beispielsweise die Unterkünfte, die nur auf durchschnittlich 1,1 Sterne kommen. Klingt das nicht nach fensterlosen Zimmern, düsteren Fluren mit knarzenden Böden und Hotelmitarbeitenden, die aussehen, als seien sie einem Fahndungsplakat entsprungen? Also nach einem Gruselfilm zum Selbsterleben, der jedes noch so sorgfältig arrangierte Krimi-Dinner toppt?
Die Urteilsfreude, die sich in den „Google Reviews“ austobt, hat etwas zutiefst Demokratisches. Jede Stimme zählt. Für manche wird sogar bezahlt. Doch die Dauerbenotung wirkt auf mich auch wie ein Placebo. Die von manchen Menschen geradezu obsessiv genutzte Macht, für alles Mögliche Sterne zu vergeben, lenkt davon ab, dass in den ganz großen Fragen, die unsere Zukunft bestimmen, nicht unsere Meinungen zählen, sondern unsere Taten.
Fred Grimm
Der Hamburger Fred Grimm schreibt seit 2009 auf der letzten Seite von Schrot&Korn seine Kolumne über die Wege und Umwege hin zu einer besseren Welt. Er freut sich über die rege Resonanz der Leserinnen und Leser und darüber, dass er als Stadtmensch auf ein Auto verzichten kann.
Kommentare
Registrieren oder einloggen, um zu kommentieren.