Leben

Spiraldynamik: Alles im Lot?

Die meisten erledigen fast alles im Sitzen - Ergebnis: Schmerzen in Rücken, Schulter, Nacken. Was tun? Aktiv werden! Wir haben uns in einem Spiraldynamik-Seminar zeigen lassen, wie’s geht. // Sylvia Meise

Rückgrat zeigen! Zu neunt stehen wir mit allen 24 Wirbeln zur Wand. „Was spüren Sie?“ Physiotherapeutin Eva- Maria Kolt fordert uns auf, mit dem inneren Auge Hubbel für Hubbel die nach außen fühlbaren Wirbel vom Hals bis zu den Lenden herabzuwandern, den Abstand zwischen Beton und Kreuz zu schätzen und zu fühlen, ob die Knochen spitz oder flächig aufliegen. Natürlich strengen wir uns mächtig an - bloß nicht schlecht dastehen! Trotzdem gähnt hinter den meis-ten ein Hohlkreuz.

Das hätte ich nicht gedacht! Müsste mein Rücken nach all der morgendlichen Gymnastik nicht super trainiert sein? Tatsache ist: Zwischen meinem Kreuz und der Wand klafft ein Loch, dass sich allein mit Willenskraft nicht schließen lässt. „Da sind Sie nicht elastisch“, meint die Trainerin trocken. Ob da noch was zu machen ist? „Natürlich! Da sind doch überall Muskeln“, erwidert sie fröhlich und lässt uns zu sanfter Musik ein paar Lockerungs-übungen machen.

Den Körper wahrnehmen

Zur Decke strecken, Arme und Beine schwingen, erst frei, dann in Achterschwüngen. Neben mir schnauft es bereits und ich selbst habe Mühe, bei den Achtern nicht die Balance zu verlieren. Den eigenen Körper bewusst wahrnehmen ist Lektion eins in Sachen „Spiraldynamik“. Lektion zwei vermittelt mehr Wissen über Bewegungsabläufe. „Gutes Sitzen“ ist zwar heute Oberthema, doch Eva-Maria Kolt wird uns im Lauf des Nachmittags Tipps für unser gesamtes Betriebssystem geben.

Die „Spiraldynamik“ gehört zu den jüngeren Konzepten der Physiotherapie, die den Menschen als Ganzes, nicht die Reparatur einzelner Problemzonen, im Blick haben. Daher gibt es auch keine hausaufgabenartigen Übungsserien, sondern viele einzelne Übungen zum Einbauen in den Alltag.

Viele Wege führen zum Ziel

Das Neue dieser Ansätze ist die Zusammenführung verschiedener Ideen. Eine „kybernetische Denkweise“, die berücksichtigt, dass viele Wege zum Ziel führen. Wer sich dafür interessiert, wird als Experte seines eigenen Körpers für Veränderungsprozesse sensibilisiert.

Deswegen beginnt auch unser Seminar mit Theorie: „200 Muskelpaare koordinieren unsere Bewegungen dreidimensional“, erinnert die Physiotherapeutin an längst vergessene Anatomiefakten: Sind nur drei davon durch eine gewohnt falsche Haltung verkürzt, stören sie den Verlauf des gesamten Systems - mit dem Ergebnis, dass das Spannen-Entspannen-Prinzip nicht mehr rund läuft.

„Nicht bewegen! Wie sitzen Sie jetzt? Gehen Sie mit dem inneren Auge durch den Körper. In welcher Position sind Nacken, Brustwirbelsäule, Becken? Was bedeutet das für die Muskeln? Und bei Stress - wie ändert sich Ihre Haltung? Sitzen Sie immer so?“ Eine immer gleiche Sitzposition bewirkt, dass die gleichen Muskeln ständig gespannt, nur selten aber wieder gelöst werden, warnt die Fachfrau. Verkürzung der Muskeln ist die Folge.

Deshalb empfiehlt uns Eva-Maria Kolt als Grundlagen fürs entspannte Sitzen: öfter die Position wechseln, den Stuhl höher/tiefer stellen, auch mal vorn auf der Stuhlkante sitzen, am besten auf den beiden Sitzbein-Knochen. Zwischendurch den Oberkörper bewegen, nach vorn, zur Seite, nach hinten und zurück, Geübte verbinden die Bewegungen wie eine Bauchtänzerin. Oder mal aufstehen und an einem Pult lesen.

Haltung aus dem Lot

Manche Rückenverspannung hat jedoch andere Ursachen. Auch ungelöste Probleme oder Frust am Arbeitsplatz machen den Kopf schwer und ziehen die Haltung aus dem Lot (siehe Interview, Seite 56). Perfekt gegen Stress wären Qigong- oder Yoga-Entspannungsübungen im Stundentakt - „geht wohl nicht im Büro“, räumt unsere Seminarleiterin ein. „Doch! Bei uns schon. Letztens bin ich fast über unseren meditierenden Chef gestolpert - als ich abkürzen wollte zum Günther rüber“, erklärt Grafiker Klaus Böhmer den am Seminar teilnehmenden Kolleginnen, die sich bei dieser Vorstellung kaum halten können vor Lachen.

Nase runter!

Für diese Einlage darf der einzige Mann im Kurs die typische Sitzhaltung nach etwa acht Computerarbeitsstunden vorführen. Mühelos verwandelt er sich in ein buckelndes, verspanntes Arbeitstier. Die Therapeutin warnt vor dieser Fehlhaltung: der „kollabierte Rundrücken“ sei das Schlimmste, was einer Wirbelsäule passieren könne. „Wenn Sie acht Stunden so sitzen, dann stehen Sie auch so auf und joggen auch so!“ Sieht lustig aus, ist es aber nicht, denn die verengte Brust verursacht Atemnot. Wenn der Betreffende dann zunehmend Bewegungen vermeidet, weil’s überall zieht und zwickt, verkleben die einseitig gespannten Muskeln, die nicht genutzten bilden sich zurück.

Brust raus, Bauch rein

Der Muskelapparat ist das einzige Wunderwerk, das sich allein durch ständige Benutzung regeneriert. Wer merkt, dass sich die Brustwirbelsäule nicht mehr nach vorne durchdrücken lässt, sollte etwas tun. „Autoelongation“, Aufrichten aus eigener Kraft, empfiehlt uns unsere Spiraldynamikerin als Gegenmittel. Also: Brust raus und Bauch rein …

Nasenspitze nach unten

Und schon zeigt sich bei mehreren die typische Fehleinschätzung zum Thema „gerader Rücken“: Wer wie wir automatisch die Nase nach oben nimmt und den Hintern rausstreckt, muss umlernen. Erstens: Zeigt die Nase nach oben, wird der Nacken geknickt; die Nasenspitze muss also eher nach unten weisen, damit die Halswirbel gerade stehen. Wer viel vor dem Computer sitzt, sollte den Bildschirm besser so platzieren, dass die Oberkante etwa auf Augenhöhe ist, so schaut man beim Lesen etwas nach unten.

Zweitens: „Bauch rein“ heißt nicht „Hintern raus“ (Hohlkreuz rein) - um den Rücken zu strecken, muss man das Schambein hochziehen und das Kreuzbein, also den Wirbelknochen oberhalb des Steißbeins in der Mitte der Beckenknochen, runterziehen.

Wie? „Moment, ich hol grad mal die Wirbelsäule.“ Eva-Maria Kolt setzt sich das künstliche Skelettstück, bestehend aus Wirbelsäule und Beckenschaufeln, wie ein Püppchen auf den Oberschenkel. Sie lässt uns aufstehen, wieder hinsetzen und „das Becken aufrichten“. Die Skelettpuppe zeigt, wie es geht.

Ein weiterer Aspekt: Nur wenn das Becken aufgerichtet ist, kann es seine Funktion erfüllen, nämlich die Eingeweide halten. Beim ständigen Hohlkreuz aber ist es nach vorn gekippt, die Organe verlieren ihren Halt, drücken gegen die Bauchdecke und dehnen sie. Der Bauch wird also immer dicker, der Beckenboden immer schlaffer, weil er nicht, wie im menschlichen Bauplan vorgesehen, durch die Organe beim Laufen massiert wird. Einmal geübt, kann man die Autoelongation vor dem Aufstehen aus dem Sitzen sowie bei jeder Denk- oder Umblätterpause einschieben.

Stabile Mitte

Letzte Lektion für heute: Laufen. „Wir Menschen sind für den Kreuzgang konstruiert“, die Therapeutin führt in Zeitlupe vor, dass dies eine immer wieder ins Gegensätzliche umschlagende, schraubende Bewegung von Kopf bis Fuß ist. Mannequin-Wiegeschritt ade. Anders als auf Laufsteg oder Stehparty praktiziert, müsse das Becken beim Standbein tief liegen, auf der Laufbeinseite dagegen hochschwingen. Sieht ungewohnt aus, macht aber stabil und erdet den Körper quasi aus der Mitte heraus. Denn: Die Dynamik fürs Laufen und Rennen oder die Achterschwünge mit Armen oder Beinen stammt aus dem Becken. Als Vorbild taugen also eher Läufer oder Tänzerinnen als die Models von Chanel.

Die Spiraldynamik ist, ähnlich wie die westliche Version des Yoga, ein Instrument für Aktive, die bereit sind, an sich selbst zu arbeiten. Zwar haben die Krankenkassen den Ansatz noch nicht offiziell anerkannt, die Therapiestunden sind meist selbst zu zahlen, doch eine Schulung lohnt sich. Die Basics jedenfalls hat man schnell drauf: Wirbelsäule ins Lot bringen und Becken aufrichten geht immer: beim Zähneputzen, im Aufzug, auf dem Bürostuhl oder beim Pausenschwatz … so fühlt sich alles gleich beschwingter an.

Übungen für Vielsitzer

Ständiges Sitzen wirkt sich auch auf den „musculus iliopsoas“ (Lenden-Darmbeinmuskel) aus. Wer ihn elastisch hält, beugt Rückenproblemen vor.

Bild 1:

Den linken Fuß auf einen Hocker stellen und das Knie um 90 Grad anwinkeln. Die Hände erfühlen die Beckenschaufel und helfen, diese gerade auszurichten.

Bild 2:

Das angewinkelte Knie leicht nach vorne schieben, die Hände führen leicht mit. Dabei bleibt der Rücken gerade, das Becken wird nach hinten-unten-außen geschoben. Ohne Abbildung: Dasselbe geht auch im Kniestand auf dem Boden: Linkes Knie auf dem Boden, rechtes Bein aufstellen wie bei der Übung mit dem Hocker. Das Kreuzbein nach hinten-unten rollen, dann beginnt der Lenden-Darmbeinmuskel schon zu ziehen. Jetzt das Knie nach vorne schieben, der Muskel sollte im gestreckten Bein spürbar werden. Die Position halten und auf die Entspannung in der Leistengegend konzentrieren, damit sich der Muskel dehnen kann. Dosierung: zwei Mal täglich zwei Minuten.

Tipp

Statt Aufzug: Erfühlen Sie den Schelmmuskel beim Treppensteigen. So wird er aktiviert, gedehnt und richtig eingesetzt, Stufe um Stufe.

Für zwischendurch

Übung 1:

Dehnt Hals- und Rückenmuskulatur Tief ein- und ausatmen. Nase leicht nach unten, Rücken zwischen Nacken und Kreuzbein gerade ausrichten, dann das Brustbein nach vorn an- heben, Schultern nach hinten-unten absenken. Mit der rechten Hand an der Sitzfläche festhalten. Jetzt den Kopf langsam so weit wie möglich zur linken Schulter neigen, zur Verstärkung die linke Hand auf den Kopf legen (nicht drücken, nur den Zug leicht verstärken) - 15 Sekunden halten. Seite wechseln, wiederholen.

Übung 2:

Dehnt die Oberkörper-muskulatur Die Arme lang nach oben strecken, Hände verschränken und Handflächen nach außen drehen. 15 Sekunden halten.

Übung 3:

Korrekte Kopfhaltung Tief ein- und ausatmen. Nase leicht nach unten, Rücken zwischen Nacken und Kreuzbein gerade ausrichten wie bei der Autoelongation. Hände über Kreuz auf die Schultern legen, Blick geradeaus. Nun den Kopf gerade nach hinten ziehen, wie eine Schublade. 15 Sekunden halten, lockern, wiederholen.

Bis zu 90 Prozent bestehen sie aus Wasser und stecken wie Gelkissen zwischen den Wirbeln. Am Tag werden sie ausgepresst, nachts saugen sie sich wieder voll - deshalb sind wir morgens etwa zwei Zentimeter größer als abends. Ernährt werden sie nicht über Blutgefäße, sondern durch benachbarte Wirbelkörper. Allein unsere Bewegung sorgt dafür, dass Nährstoffe hineingewalkt werden, wie in einen Teig. So bleiben sie elastisch, ermöglichen es, dass die Wirbel sich in alle Richtungen drehen können, und puffern die Belastung ab.

Beispiel Haarstyling: Beim Föhnen wird das Schultergelenk mit rund 70 Prozent belastet - sieben Mal mehr als beim Tragen eines Bierkastens!

Das er-tragen die Bandscheiben:

Auf dem Rücken liegen: 16 Kilogramm
Bequem sitzen ohne Lehne: 73 Kilogramm
Entspannt stehen: 80 Kilogramm
20 Kilo heben aus der Hocke: 272 Kilogramm
10 Kilo heben mit Rundrücken: 368 Kilogramm

(Angaben für einen etwa 70 Kilogramm schweren Menschen, nach Marion Grillparzer: „Unser Rückenbuch“, siehe Info Bücher und Links)

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