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Wie frisch ist Frischmilch?

Fast unmerklich verdrängte die ESL-Milch die traditionelle Frischmilch selbst aus der Bio-Kühltheke von Supermärkten und Discountern. Im Bio-Laden können die Kunden noch wählen.

Richtig frische Milch gab es Anfang der 70er-Jahre noch bei Oma. Die wohnte neben einem Bauernhof, und ihre Enkel holten dort abends um sieben, nach dem Melken, die Milch ab. Die Bäuerin schöpfte die noch lauwarme Milch mit einer Kelle in die Kanne. Bis die Kinder nach Hause kamen, hatten sie die Kanne schon halb leer getrunken. Heute würde das gegen ein Dutzend Hygienevorschriften verstoßen, zudem gilt es als Gesundheitsrisiko. Und die Milch wurde schnell sauer.

Der Absatz von Rohmilch ab Bauernhof oder von unbehandelter Vorzugsmilch im Bio-Laden ist gering. Es ist relativ aufwendig, alle Vorschriften zu beachten. Obligatorisch ist der Hinweis: „Vor Genuss abkochen“.

Was heißt hier frisch?

Traditionelle Bio-Frischmilch wird täglich oder alle zwei Tage bei den Bauern abgeholt und in der Molkerei pasteurisiert. Dabei erhitzt man die Milch min-destens 15 Sekunden lang auf 72 bis 75 Grad Celsius. Das zerstört die meisten Keime und Milchsäurebakterien. Pasteurisierte Milch hält ab Abfüllung ungeöffnet und gekühlt bis zu zehn Tage. Wer Milch länger haltbar haben will, hatte lange Zeit nur eine Alternative: H-Milch. Sie wird für wenige Sekunden auf mindestens 135 Grad erhitzt und damit keimfrei gemacht. Dadurch hält sie ungeöffnet und ungekühlt bis zu drei Monate. Der Hitzeschock verändert die Eiweiße. Deshalb schmeckt H-Milch nicht wie frische, sondern wie gekochte Milch. Den meisten Deutschen macht das nichts aus. Rund 70 Prozent der verkauften konventionellen Trinkmilch ist H-Milch.

Bio-Kunden dagegen stehen auf Frische. Nur jede sechste Bio-Milch ist H-Milch. Vor gut zehn Jahren begann eine dritte Milchsorte die Lücke zwischen Frisch- und H-Milch zu füllen: ESL-Milch. ESL steht für „extended shelf life“, also ein längeres Leben im Regal. Ihre Haltbarkeit liegt bei etwa drei Wochen ab Abfüllung. Das nützt dem Handel ebenso wie den Kunden. Beide müssen weniger unverbrauchte, sauer gewordene Frischmilch wegschütten.

Wie ESL-Milch haltbar gemacht wird

Dieses Plus an Haltbarkeit lässt sich mit zwei Methoden erzielen. Beim rein thermischen Verfahren wird die Milch für ein bis drei Sekunden von durchströmendem Dampf oder mit Hilfe von Wärmetauschern auf 125 bis 127 Grad erhitzt. Dieses Verfahren kann der Milch wegen der höheren Temperaturen einen leichten Kochgeschmack beigeben. Beim kombinierten Verfahren entrahmt man die Milch. Die entrahmte Milch wird durch ein Mikrofilter gepresst, das die meisten Bakterien, Hefen und Sporen abtrennt. Der Rahm wird auf 105 bis 125 Grad erhitzt und der Milch wieder zugefügt. Es folgt eine normale Pasteurisierung. Man schmeckt kaum einen Unterschied zu herkömmlicher Frischmilch.

Das bundeseigene Max Rubner Institut hat die Vitamingehalte verschiedener Milchsorten überprüft. Das Ergebnis: Es gibt im Vergleich zu pasteurisierter Milch „keinen Hinweis für niedrigere Konzentrationen an Vitaminen in ESL-Milch.“ Das gelte unabhängig vom Herstellungsverfahren und der Lagerungsdauer. Untersuchungen der Universität München-Weihenstephan bestätigen das.

Am Ende ihrer Haltbarkeit wird ESL-Milch nicht sauer wie frische Milch. Dafür enthält sie zu wenige Milchsäurebakterien. Ähnlich wie überlagerte H-Milch schmeckt sie etwas muffig-bitter, weil Enzyme Fett und Eiweiße zersetzen.

24 Tage haltbar: darf sich „Frischmilch“ nennen

Inzwischen hat ESL-Milch in Supermärk-ten und Discountern die herkömmliche Frischmilch weitgehend verdrängt: konventionell ebenso wie bio. Doch das fällt gar nicht groß auf. Denn ESL-Milch darf sich seit August 2007 „pasteurisierte Frischmilch“ nennen.

Der Zusatz „hocherhitzt“ wurde aus der Konsummilch-Kennzeichnungs-Verordnung gestrichen. Mit Werbesprüchen wie „länger frisch“ oder „extra-frisch“ brachten die Hersteller daraufhin ihre Produkte auf den Markt. Anfang 2009 hatte die Verbraucherzentrale

Hamburg solche Auslobungen von ESL-Milch kritisiert und eine klare Kennzeichnung gefordert. Daraufhin einigten sich Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner, die Milchindustrie und der Handel auf eine freiwillige Regelung:

Die herkömmliche pasteurisierte Frischmilch heißt seither „Frischmilch – traditionell hergestellt“. ESL-Milch nennt sich „Frischmilch – länger haltbar“.

Hersteller können, müssen aber nicht, auf Hocherhitzung und Mikrofiltration hinweisen. „Etikettenschwindel“ nennt das Silke Schwartau von der Verbraucherzentrale Hamburg. „Wenn Milch bis zu 24 Tage haltbar gemacht und zu diesem Zwecke entsprechend behandelt wird, dann kann sie nicht mehr frisch sein und darf nicht so bezeichnet werden.“ Nach Ansicht der Milchindustrie kann man die ESL-Milch sehr wohl als Frischmilch bezeichnen, weil sie sich sensorisch kaum von pasteurisierter Milch unterscheidet. Die Nachbarn in Österreich sehen das anders. Bei ihnen darf nur Milch als „frisch“ vermarktet werden, die nach der Abfüllung höchs-tens fünf Tage haltbar ist.

Eine klare Linie vertritt Demeter. Der Anbauverband schreibt in seinen Richtlinien: „Alle Verfahren zur Herstellung von ESL-Milch sind ausgeschlossen.“ Andere Anbauverbände lassen ESL- und H-Milch zu.

Die Frage „Was bedeutet frisch?“ stellt sich auch bei zwei anderen, häufigen Behandlungsverfahren. In vielen Molkereien wird die Milch zuerst im Separator in Magermilch und Rahm getrennt – bei 6000 Umdrehungen pro Minute. Danach wird nur noch so viel Rahm zugegeben, wie für die jeweilige Milchsorte vorgeschrieben ist: 1,5 Prozent für fettarme Milch, 3,5 Prozent für Vollmilch. Nur wenn auf der Verpackung steht „Vollmilch mit natürlichem Fettgehalt“ ist der Milch diese Prozedur erspart geblieben. Im Bio-Laden ist das bei Vollmilch der Normalfall. Bei fettarmer Milch lässt sich die Zentrifuge nicht vermeiden.

Zerfetzte Fettkügelchen: Ursache für Allergien?

Massiver noch als beim Separator greift der Homogenisator in die Qualität der Milch ein. Er schießt sie mit hohem Druck durch kleine Düsen auf ein Blech. Der Aufprall zerfetzt die Milchfettkügelchen, sodass sie sich nicht mehr als Rahm absetzen können.

Es gibt einige Studien, die darauf hindeuten, dass dies eine mögliche Ursache für den Anstieg an Milchallergien bei Kleinkindern sein könnte. Auf der Verpackung muss dieser Verarbeitungsschritt nicht mehr angegeben werden. Konventionelle Milch ist grundsätzlich homogenisiert. Bio-Milch in Flaschen, manche auch im Karton, nicht. Demeter hat das Homogenisieren als Verarbeitungsschritt verboten. Doch der Großteil der Frischmilch im Karton, ESL-Milch und H-Milch laufen auch in Bio-Molkereien über den Homogenisator. Denn die meis-ten Kunden sind wenig begeistert, wenn sich nach wenigen Tagen eine Rahmschicht bildet. Doch eigentlich zeigt das Aufrahmen nur an, dass die Milch an Frische verliert.

Eines haben alle Milchsorten gemeinsam: Geöffnet hält die Milch im Kühlschrank nur drei bis vier Tage.

Bio-Milch hat auf jeden Fall mehr zu bieten als konventionelle. Da die Kühe auf die Weide dürfen, enthält Bio-Milch 40 bis 60 Prozent mehr Omega-3-Fettsäuren und konjugierte Linolsäuren (CLA); außerdem 30 bis 70 Prozent mehr Vitamine sowie Carotinoide und andere Antioxidantien. Die Omega-3-Fettsäuren verringern das Herzinfarktrisiko und die konjugierten Linolsäuren stärken das Immunsystem. Anders gesagt: Bio-Milch hält frisch.

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