Essen

Vom Wegwerfen und Wertschätzen

Unser Autor Max Modler war einkaufen, ziemlich viel sogar. Hinterher ist er zu einer ganz neuen Sicht auf die Dauerwurst in seiner Schublade gelangt.

Wer soll das bloß alles essen? Ich koche, brate und backe ja schon, was das Zeug hält. Bringe Kuchen bei den Nachbarn vorbei – mit sicherem Abstand natürlich. Aber, naja, ich hab’ zu viel eingekauft. Und mittlerweile ein paar Kilo mehr auf den Rippen. Als es losging mit der Corona-Krise, fand ich Panikkäufe noch albern. Aber dann kam der Tag, an dem mir klar wurde: Inklusive des alten Knäckebrots aus dem Schweden-Urlaub und der Marzipan-Schokolade, die keiner mag, würden meine Frau, unsere zwei Katzen und ich nicht weit kommen mit unseren Vorräten. Also stapelte ich beim nächsten Einkauf alles in den Wagen, was mir spontan sinnvoll vorkam: Katzenfutter, Knäckebrot, Frischkäse und Sahne, Nudeln, Pizza, Mehl, Nüsse, noch mehr Nudeln, Butter, Dauerwurst ... Zuhause quetschte ich Packung um Packung in diverse Schubladen. Das Ganze war mir peinlich, aber beruhigte mich auch.

In vermutlich sehr vielen Haushalten gibt es jetzt ebenfalls sehr viele Vorräte wie Mehl, Milch, Nudeln und Nüsse. Wird das irgendwann gegessen? Oder wandert es am Ende doch in die Tonne? Weil man es über hat oder eigentlich gar nicht mag? Mich grinst da so eine Dauerwurst in ihrer Plastikhülle immer wieder neu an, wenn ich die Schublade mit der Käsereibe öffne. Irgendwann wird sie gegessen, das habe ich mir fest vorgenommen. Denn ich will nichts wegwerfen. Begriffe wie Butterberg und Milchsee haben sich mir eingebrannt und Fotos von zu krummen Gurken und verwachsenen Möhren, die auf großen Haufen verrotten, weil sie nicht in den Handel kommen. Diese Haufen bebildern drastisch die gigantischen Mengen, die wir an Essen verschwenden und sind doch nur ein Teil des Problems.

Der Klimaeffekt der Lebensmittelverschwendung

Weltweit geht jährlich etwa ein Drittel der Lebensmittel auf dem Weg vom Feld bis zum Teller verloren. Deren Anbau hat laut Umweltbundesamt mehr als 38 Millionen Tonnen Treibhausgase verursacht, rund 43.000 Quadratkilometer landwirtschaftlicher Fläche benötigt und 216 Millionen Kubikmeter Wasser.

Problematisch ist auch die Entsorgung von Lebensmitteln auf Deponien, auf denen Müll so verdichtet wird, dass fast kein Sauerstoff im Spiel ist: Dadurch entsteht Methan, ein Treibhausgas, das 25-mal so klimawirksam ist wie Kohlenstoffdioxid. In Deutschland wird der Müll in der Regel verbrannt, weltweit aber noch viel unbehandelt deponiert.

Dem Umweltbundesamt (UBA) zufolge wirft jeder Deutsche pro Jahr im Schnitt rund 82 Kilogramm Lebensmittel weg: Pro Person zwei vollgepackte Einkaufswagen, die ja auch was gekostet haben. 234 Euro, hat das UBA berechnet. In Summe wandern 6,7 Millionen Tonnen Essen in die Mülltonnen der Privathaushalte. Am häufigsten Milchprodukte, Obst und Gemüse und Backwaren. Manches wird in den Tiefen von Schränken vergessen und vergammelt da, anderes ist noch gar nicht schlecht, wandert aber in den Müll, weil Haltbarkeits- oder vermeintliches Verfallsdatum abgelaufen sind. Gründe für Verschwendung gibt es viele.

Meine Frau und ich versuchen, nichts verkommen zu lassen. Unser Motto: Auch nach Ablauf des Haltbarkeitsdatums mal probieren, ob es noch gut ist. Aus Resten Brühe kochen. Im Blick haben, was als Nächstes gegessen werden sollte. Schließlich sind wir als Verbraucher bei dem Thema ja in der Pflicht. Oder?

Wo Lebensmittelabfälle anfallen

Der „Baseline 2015“-Studie des Thünen-Instituts zufolge entstehen 52 Prozent der Lebensmittel-Abfälle in Deutschland in privaten Haushalten, 18 Prozent in der Verarbeitung, 14 Prozent in der Gastronomie, zwölf Prozent in der Landwirtschaft und vier Prozent im Handel. Auf dem Weg vom Acker oder Weide zum Teller geht einiges verloren. Manchmal nur, weil es nicht der Norm entspricht – wie beispielsweise die krumme Gurke. Seit Abschaffung der gesetzlichen Handelsnormen für sie und weitere 25 Produkte vor mehr als zehn Jahren sollte die Gurke doch eigentlich öfter in Obst- und Gemüseabteilungen zu finden sein. Doch der Handel hat seine eigenen Normen geschaffen und krumme Gurken weitestgehend verbannt – weil Kunden sie angeblich nicht wollen oder weil sie schwieriger zu lagern und zu transportieren sind.

Verbraucherschützer sehen daher den Gesetzgeber in der Pflicht, strengere Vorgaben zu machen. Immerhin will die Bundesregierung im Einklang mit den Zielen der Vereinten Nationen die Lebensmittelverschwendung bis 2030 halbieren. Allerdings gibt es noch keinen konkreten Plan zur Umsetzung. Deutschland sei äußerst schlecht vorbereitet, bemängeln denn auch die Verbraucherzentralen. Statt verbindlicher Abfallquoten gebe es nun Dialogforen und Projekte, die eine belastbare Datengrundlage herstellen sollen. Schnelle Ergebnisse in Form von deutlichen Rückgängen der Lebensmittelabfälle seien da erst mal nicht zu erwarten: „Eine spürbare Reduzierung der Lebensmittelabfälle wird sich allein durch freiwillige Maßnahmen der Wirtschaft kaum erreichen lassen“, lautet das aktuelle Fazit.

Es gibt ein Verteilungsproblem

Mir scheint: Das Problem bleibt damit zu einem großen Teil bei mir hängen, dem Verbraucher. Dabei schaffe ich es gar nicht, mein Verhalten und meinen Konsum jeden Tag zu optimieren. Ich habe ja auch noch anderes zu tun und bin nicht perfekt. Und außerdem müssten alle ihren Alltag freiwillig umstellen, damit das klappt. Schwierig. Ich glaube, nur eine globale Taskforce könnte die Lebensmittelverschwendung in den Griff kriegen.

Wir haben kein Produktionsproblem, sondern ein Verteilungsproblem.

Simone Pott, Welthungerhilfe

Es wäre schön, wenn es diese Taskforce gäbe. Denn auch das Problem ist global: Der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) zufolge werden auf der Welt jährlich 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmittel weggeschmissen. Das ist so viel, dass es eigentlich keine Hungersnot mehr geben müsste, oder? Dazu sagt Simone Pott von der Welthungerhilfe: „Wir haben kein Produktionsproblem, sondern ein Verteilungsproblem.“ Und die Verteilung wird bestimmt von denen, die wohlhabend sind – und deren Geschmack, der wiederum von ihrer jeweiligen Kultur abhängt. „Zölle und Subventionen bestimmen zu einem großen Teil, was wo und wie angebaut und wohin es transportiert und verkauft wird“, erläutert Pott. Und dahinter stünde, was beispielsweise der deutsche Gaumen wünscht. Schokolade zum Beispiel mögen wir ganz gerne, Fischköpfe und Hühnerfüße eher weniger. Die hohe Nachfrage nach Schokolade hierzulande führt wiederum zu einem höheren Bedarf an Palmöl, mit problematischen Folgen wie Land Grabbing, Artensterben und der Zerstörung lokaler Landwirtschaft. Gleichzeitig wurden bei uns Fischköpfe und Hühnerfüße lange Zeit einfach weggeworfen. Inzwischen exportiert man sie einfach, zum Beispiel nach China. Es ist wirklich alles sehr kompliziert.

Mehr Wertschätzung für Lebensmittel

Ich frage mich, was ich und andere Konsumenten an dieser Ess- und Wegwerf-Kultur ändern können. „Zentral bei Food Waste in den reichen Ländern und gerade in Deutschland ist die mangelnde Wertschätzung für Lebensmittel“, erläutert Pott und gibt ein Beispiel: „Wenn ich mir ein Auto kaufe, kümmere ich mich gut darum, lasse mir vielleicht einen Carport bauen, kaufe teures Motoröl, fahre zu Wartungsterminen.“ Lebensmittel hingegen würden oft günstig im Discounter gekauft und entsprechend wahrgenommen, als billig, eh immer da, fast schon unwichtig.

Wenn ich Lebensmittel mehr wertschätze, passe ich auf, dass nichts schlecht wird. Gerade jetzt, wo wir so viele Vorräte haben. Schätze ich meine Dauerwurst denn? Klar, als Vorrat, der mir Sicherheit gibt, als Katastrophen-Kalorien. Schätze ich sie als Delikatesse? Eher nicht. Aber vielleicht geht es ja genau darum: Lebensmittel nicht nur als Delikatesse zu schätzen, sondern wortwörtlich als Mittel, um zu leben? Aufgrund der Corona-Krise drohen derzeit weltweit große Hungersnöte. Das, was wir hier erlebt haben, ist im Vergleich dazu nur der kleine Vorgeschmack auf ein Leben ohne ständigen Überfluss. Mehr Wertschätzung für Lebensmittel könnte einiges ändern, auch global. Ich gelobe daher, die Dauerwurst zu essen. Mit viel Liebe und Respekt. Nur nicht sofort.

Ich bin nicht alleine mit dieser Einstellung. „In der Tat gibt es seit einigen Jahren ein stärkeres Bewusstsein für den Wert von Nahrungsmitteln“, freut sich Pott. Der große Trend zu Bio-Produkten, zu fairen und regionalen Lebensmitteln zeige, dass es viele Menschen gibt, denen es wichtig ist, was sie essen. Von der Qualität her, aber auch von den Auswirkungen auf Umwelt und Mitmenschen weltweit. Ihr Fazit: „Wir sind auf einem guten Weg. Aber es muss noch viel passieren!“

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