Essen

Iss, was dein Körper will

Low Carb, High Protein, kein Fett: Fast täglich können wir lesen, wie „richtig essen“ geht. Doch Ernährungstrends funktionieren nicht für alle gleich. Achtsame Esser hören lieber auf ihren eigenen Bauch.

Es gibt eine Institution in Deutschland, die weiß, was wir essen sollen: Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE). Ihre Ratschläge ergeben sich aus den Empfehlungen für die Nährstoffzufuhr, also das, was der Mensch an Eiweiß, Fett und Kohlenhydraten sowie Vitaminen, Mineralstoffen, Spurenelementen und Ballaststoffen braucht. Abgesehen von Nuancen, die sich aus Geschlecht, Alter, Größe und einer möglichen Schwangerschaft ergeben, sind die DGE-Ratschläge für jeden Menschen gleich.

Daneben verbreiten Magazine und Internetbeiträge, Apps und Ess-Coaches jede Menge Wissen über das vermeintlich richtige Essen. Das Problem, das allen Ernährungskonzepten gemein ist, ob klassisch nach der DGE, Low und Slow Carb, High Protein, Glyx oder Trennkost: Sie stülpen unterschiedlichen Menschen ein einheitliches Konzept über.

Diäten: Ein Konzept für alle?

Dabei zeigen Studien, dass ein und dieselbe Speise ganz unterschiedlich auf den Körper und den Stoffwechsel zweier Menschen wirkt. Der eine ist dünn, egal wie viel er isst, der andere kämpft mit den Kilos. Bei dem einen steigen Cholesterin und Blutdruck nach dem Essen von Bratkartoffeln und Spiegelei rapide an, bei dem anderen bleibt alles im Lot. Sogar die Nährstoffe sowie Vitamine, Mineralstoffe und Spurenelemente werden ganz unterschiedlich genutzt. „Allein die individuelle Darmflora scheint so viel Einfluss auf die Nährstoffverwertung zu haben, dass wir uns als Ernährungsberater fast ein bisschen machtlos fühlen“, gibt Maike Ehrlichmann, Beraterin in Hamburg, zu bedenken.

Eine Zeitlang funktioniere es zwar, sich nach vorgegebenen Ess-Regeln zu ernähren, ob beispielsweise mit weniger Fett und Kohlenhydraten oder mit viel Eiweiß, erklärt Maike Ehrlichmann. Doch dann meldet sich der Körper zurück und fordert Bratkartoffeln mit Spiegelei, Brot mit Salami oder Käsekuchen – und es wird gegessen, was einem in die Finger kommt. Mit Folgen: Das schlechte Gewissen nagt.

Aus dem Wunsch, sich gesünder zu ernähren, kann eine regelrechte Essstörung werden, die Orthorexie.

Bei vielen Klienten gebe es bereits einen regelrechten Zwang zur Selbstoptimierung, beobachtet Ehrlichmann, die eine zeitlang auch als Personal-Trainerin in einem Fitnessstudio gearbeitet hat. Sie zählen konsequent Kalorien und Fettaugen – oft mit Unterstützung von Apps, die anzeigen, ob alles „richtig“ gemacht wird. Wenn nicht, gibt es die rote Karte. Und wieder meldet sich das schlechte Gewissen. Aus dem Wunsch, sich gesünder zu ernähren, kann sogar eine regelrechte Essstörung werden, die Orthorexie. Das ist die krankhafte Fixierung auf gesundes Essen.

Maike Ehrlichmann sieht die Lösung für viele Essprobleme in einer Ernährung, die beim Individuum ansetzt. „Selbstbestimmtes Essen ist der sicherste Weg, sich gesund zu ernähren“, erklärt sie. Ihr geht es darum, individuell passende Ernährungskonzepte zu finden. Dafür müssen die Klienten aber erst einmal herausfinden, was ihnen guttut und was nicht. Zunächst lernen sie darum, sich zu fragen: Wie fühle ich mich vor, beim und nach dem Essen? Wer gerne Süßigkeiten isst und sie immer griffbereit im Schreibtisch hat, kann sich fragen, ob das Gummibärchen oder der Schokoriegel tatsächlich in dem Moment Genuss bereiten oder eigentlich der Hunger nagt? Und wenn ja, worauf? „So erhält man ein individuell wirksames Instrument zur Lebensmittelauswahl, das allen Esstrends trotzt und die besten Ess-Entscheidungen ermöglicht“, erklärt die Ernährungswissenschaftlerin. Essen nach Intuition heißt das.

Aus der Forschung: Essen nach den Genen

  • Firmen wie zum Beispiel „Die Gesundheitsstrategen“ bieten personalisierte Speisezettel an, etwa im Bereich der betrieblichen Gesundheitsvorsorge. Dazu werden Stoffwechselwerte oder der individuelle Gencode ermittelt und daraus eine personalisierte Ernährung abgeleitet.
  • Hintergrund: Menschen gleichen sich in ihrem Erbgut zwar zu einem großen Teil, doch bleibt ein variabler Rest. Er bestimmt nicht nur Augen- und Haarfarbe, sondern auch, wie der Stoffwechsel arbeitet und welche Krankheiten wir gegebenenfalls in uns tragen.
  • Durch individuell zusammengestelltes Essen soll Krankheiten wie Diabetes, Herz-Kreislauf-Beschwerden und Übergewicht vorgebeugt, aber auch die Leistungsfähigkeit und damit Arbeitsleistung verbessert werden.
  • Das Vorgehen birgt aber Risiken. Erstens können solche DNA-Tests auch Krankheiten zum Vorschein bringen, die sich bisher nicht heilen lassen, etwa Alzheimer. Zweitens spielen auch die Lebensgewohnheiten eine große Rolle, etwa wie viel Bewegung in den Alltag eingebaut wird. Dies erfassen Tests nur indirekt.
  • Auch erhalten die Klienten am Ende Esslisten, die vorgeben, was und wie viel gegessen werden sollte. Doch das ist wieder ein Diktat, so wie Diäten und Food-Hypes. Der persönliche Navigator wird ausgeschaltet.

Für jeden fühlt sich Essen anders an

Auch in Seminaren lässt sich intuitives Essen lernen. In einem „Wirksensorik-Seminar“ zum Beispiel, veranstaltet von der Demeter Akademie. Hier lernen die Teilnehmer, wie sich Lebensmittel im Körper anfühlen und ihm bekommen. Es geht nicht so sehr um den Geschmack des Essens und Trinkens, sondern um die Wirkung dahinter. Ganz praktisch sieht das so aus: Die Teilnehmer erhalten zwei Glas Wasser unterschiedlicher Qualität. Sie sollen sie jeweils in Ruhe trinken und nachspüren: Was passiert mit dem Wasser im Körper, wie fühlt es sich an? Im Gespräch werden die Erfahrungen geteilt. Ein Proband sagt, Wasserprobe eins liege ihm schwer im Magen, eine Teilnehmerin beobachtet: „Das Wasser wirkt wie Beton“, und ein dritter bemerkt, das erste Wasser habe ihm „die Kopfhaut zusammengezogen“. Aber auch das: Es macht wach und erfrischt. Probe zwei wird als „belebend“, „geradlinig“ oder „rund“ empfunden. Nach der Probierrunde wird das Geheimnis gelüftet: Probe eins ist Leitungswasser, Probe zwei ebenfalls Wasser eins aus dem Wasserhahn, aber gefiltert. So werden nacheinander auch unverarbeitete Lebensmittel wie Äpfel, Birnen, Nüsse sowie Tee und Kaffee „erspürt“.

Diese noch recht junge Wissenschaft der Wirksensorik beschreibt eine ganz neue Seite des Essens: Nicht Eiweiß, Fett und Kohlenhydrate stehen im Vordergrund, sondern die seelisch-leibliche Lebensmittelwirkung. Und die kann stark variieren, wie schon der einfache Wassertest zeigt. Was dem einen guttut, kann dem anderen richtig unangenehm sein. Das heißt aber auch: Für jeden „fühlt“ sich das Essen und Trinken anders an. In anderen Kulturen wird eine Ernährung, die verschiedene Typen berücksichtigt, bereits seit Jahrtausenden praktiziert. So unterscheidet die Ayurvedamedizin drei Energie-Typen – Vata, Pitta und Kapha. Sie wirken in jedem Menschen in unterschiedlicher Ausprägung und steuern alle Körperfunktionen. Die Lebensmittelauswahl erfolgt entsprechend des Typs und ist „vor allem abhängig von der individuellen Verdauungskraft“, erklärt die Ayurveda-Ärztin Dr. Kalpana Bandecar. Doch auch die Herkunft und welche Gerichte die eigenen Vorfahren gegessen haben, spielt eine Rolle. „Daher brauchen Asiaten ihr Curry und die Deutschen ihr Sauerkraut.“

Diäten und Food-Trends haben nach wie vor Hochkonjunktur, allerdings ist das individualisierte Essen ebenfalls im Kommen. Die Bezeichnungen dafür unterscheiden sich: ob nun von „Intuitivem Essen“, „Instinktnahrung“, „Somatischer Intelligenz“ oder vom „Achtsamen Essen“ die Rede ist. Immer geht es darum, dass der einzelne Mensch im Mittelpunkt der Essensauswahl steht. Und nicht „erlaubte“ und „verbotene“ Lebensmittel und lange Listen.

Auch bei der DGE stehen die Zeichen in diesem Punkt auf Veränderung. Die „10 Regeln für eine vollwertige Ernährung“ lassen inzwischen mehr Spielräume. So werden beispielsweise nicht mehr pauschal fettarme Milchprodukte empfohlen, sondern „Milch und Milchprodukte“. Jeder kann also nach Gusto entscheiden. Auch wird zum „achtsamen Essen und Genießen“ geraten.

Vollwert-Ernährung ist mehr als eine Diät. Hier erfahrt ihr, auf welche Kriterien es neben der Verwendung möglichst naturbelassener und frischer Lebensmittel noch ankommt.

Was bedeutet Vollwert?

Zum Üben: Das Bauchorakel

Meist weiß der Bauch schon, was ihm gut tut. Doch manchmal müssen wir den Dialog mit dem inneren Coach etwas trainieren. Dazu eine praktische Übung:

Schließt die Augen, legt die Hand auf den Bauch und atmet einmal kräftig ein, sodass sich die Hand hebt. Atmet entspannt und lang aus und dann normal weiter.

Dann fragt euch: Wie hungrig bin ich jetzt? Wie fühlt sich mein Bauch an? Stellt euch fiktiv vor, wie ihr ein Stück Käsekuchen esst. Was sagt das Bauchorakel? Und was ist bei zwei Stücken anders? Dann stellt euch vor, ihr esst ein Steak, dann eins mit Bratkartoffeln. Eine Tomate, einen Tomatensalat mit Zwiebel usw.

Bei jeder einzelnen Vorstellung meldet uns der Körper aufgrund erlebter Ess-Erfahrungen, ob uns das Essen guttun wird oder nicht. So lernen wir wieder, was wir wirklich brauchen.

Der Körper sagt, was er braucht

Dass wir sehr gesund essen, wenn wir individuell entscheiden, was wir brauchen, zeigten bereits vor 100 Jahren Studien der Kinderärztin Clara Davis. Sie ließ kleine, gerade abgestillte Kinder aus einer Vielfalt an Lebensmitteln selbst auswählen: aus Gemüse, Obst, Brot, Fleisch, Fisch. Teils war das Essen gekocht, teils roh, und auch Ungewöhnliches wie Leber, Hirn und Kalbsbries kam auf den Tisch. Die Kleinen wählten sehr vielseitig und ausgewogen aus den angebotenen Speisen aus, zeigen die Ernährungsprotokolle. Die Mengen an Eiweiß, Fett und Kohlenhydrate entsprachen sogar in etwa dem, was heute Ernährungsgesellschaften wie das Dortmunder Forschungsinstitut für Kinderernährung empfehlen. Darüber hinaus wählten Kinder, die an einer Krankheit litten, etwa Rachitis, gezielt den Vitamin-D-reichen Lebertran aus, der gut für die Knochen ist. Zwar wäre so eine Studie heute unter ethischen Gesichtspunkten nicht vertretbar. Doch sie kann zeigen: Der Mensch weiß, was er braucht, wenn man ihn lässt.

Neuere Studien bestätigen dies: Wer beim Essen der eigenen Intuition folgt, ist zufriedener mit dem eigenen Körper, seinem Gewicht und hat einen niedrigeren Body-Mass-Index, fand Dr. Tracy Tylka von der Abteilung für Psychologie der Ohio State Universität heraus. Sie überprüfte den Gesundheitszustand von College-Studentinnen, die entweder ihrem Bauchgefühl folgten oder klassisch aßen. Dass Intuitiv-Esser oft auch bessere Blutwerte haben und vielfältiger und genussvoller speisen, ergab eine Studie um die US-amerikanischen Forscher Teri Sue Smith und Steven Hawks.

Das beweist noch nicht, dass das Essen nach dem inneren Coach tatsächlich zu mehr Gesundheit führt. Doch Appetit und Bauchgefühl seien gute Wegweiser, sagt Maike Ehrlichmann. Ihrer Erfahrung nach ist der, der auf sein Bauchorakel hört, insgesamt zufriedener und hat mehr Spaß am Essen. Und das ist ja auch gesund.

Interview: „Am meisten stören Ernährungs-Regeln“

Maike Ehrlichmann

Maike Ehrlichmann ist studierte Ernährungswissenschaftlerin, zertifizierte Beraterin und Gründerin des Esstrainings „Ehrlich Essen Methode“.

Woher weiß ich, welches Essen gut für mich ist?
Der Körper weiß es. Man muss allerdings genau hinhören, dann erhält man eine Antwort.
Kann das denn jeder? Quasi auf Knopfdruck in sich hineinspüren? Nein, das geht oft erst einmal nicht. Man kann es aber trainieren. Ich lasse meine Klienten zunächst mit Hilfe einer Skala ihr Hungergefühl quantifizieren. Denn mit Zahlen kennen sie sich aus. Oft empfehle ich auch eine Atemübung, darüber kommt man zu mehr Bauchgefühl und kann Hunger und Appetit besser wahrnehmen.

Und dann gibt es ständig Schokolade?
Das ist bei fast allen Klienten die Sorge. Doch das passiert nicht. Anfangs essen manche vielleicht mehr Süßes, einfach, weil sie sich Süßigkeiten so lange verboten hatten. Doch in dem Moment, wo der Druck weg ist, etwas nicht zu dürfen, verliert sich auch der Drang. Über die Beobachtung, „wie schmeckt mir das erste Stück Schokolade, das zweite, die ganze Tafel?“ lernt man schnell, wie viel Schokolade richtig ist.

Was hindert uns denn am intuitiven Essen?
Am meisten stören die Ernährungs-Regeln, die viele verinnerlicht haben. Wenn sie im Kopf herumspuken, kann ich nicht richtig nach innen hören. Auch Stress und der ständige Blick aufs Handy verhindern es. Auf stofflicher Ebene stören vor allem Geschmacksverstärker, Aromen und Süßstoffe. Denn sie täuschen einen Geschmack vor, der so nicht gegeben ist.

Dann gehören zum individuellen Essen auch gute Bio-Lebensmittel?
Absolut. Nur hochwertige Nahrungsmittel ohne Zusätze und voll mit echtem Geschmack geben uns ein ehrliches Feedback. Wir benötigen sie unbedingt, um satt und zufrieden zu sein und um uns rundum wohlzufühlen.

Wie soll das am Familientisch gehen, wenn jeder auf etwas anderes Lust hat?
Man kann einen Wochenplan machen, in dem jeder aus der Familie sein Lieblingsgericht wiederfindet. Dann stellt man die Komponenten wie z.B. Nudeln, Gemüse, Käse, Soße, Salat und Sonnenblumenkerne auf den Tisch. Davon bedient sich jeder nach aktuellem Gusto.

Mehr zum Thema

www.wirksensorik.de
Die Wirkung hinter dem Geschmack

www.intueat.de

Intuitiv essen (Kostenpflichtiger Onlinekurs)

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