Essen

Ernährungswende: Warum Essen politisch ist

Zu ungesund, zu viel Fleisch ... der Ruf nach einer ‚Ernährungswende‘ wird immer lauter. Doch was ist das eigentlich? Eine Annäherung.

In Münster hat die Ernährungswende gerade begonnen. Ende Februar gründeten 46 Einzelpersonen und Initiativen wie Zero Waste, Münster isst veggie, Slow Food Youth und die Betreiber von Unverpackt-Läden den Ernährungsrat Münster. Fünf Arbeitsgruppen wollen das Ernährungssystem der Stadt systematisch umkrempeln: Gemüse aus dem Umland und vom eigenen Dachgarten, heißt die Devise. In der Schule wieder kochen lernen ... in der Kantine, im Krankenhaus, im Altenheim, in der Kita lecker fleischlos essen.

Ernährungsrats-Sprecher Damian Winter spricht von einer Herausforderung. Gleich hinter der Stadtgrenze beginnt das Münsterland. Dort, im Kreis Steinfurt leben dreimal so viele Mastschweine wie Menschen. „Aber darum machen wir es ja.“ Inzwischen berät der Ernährungsrat den ersten Landwirt. „Der Mann wirtschaftet bisher konventionell mit der Schweinemast“, sagt Damian Winter. „Er will weg von der Tierhaltung und baut sich gerade mit Ackerfrüchten ein zweites Standbein auf.“ Von ‚Ernährungswende‘ redet der Landwirt nicht. Und beim Einkaufen sagt auch kein Mensch: Yep, ich geh’ jetzt eben mal die Ernährungswende vorantreiben! – Obwohl, warum eigentlich nicht?

Jeder ist Mitproduzent.

Wilfried Bommert, World Food Institute

Der studierte Landwirt und Journalist Wilfried Bommert sagt: „Pro Tag fällen wir etwa hundert Entscheidungen, die bestimmen, was wir essen. Mit diesen 100 Entscheidungen bestimmen wir, was produziert wird. Insofern ist jeder Mitproduzent.“ Und so kann jeder etwas verändern, zum Besseren wenden. Verändern will auch Wilfried Bommert, dafür hat er 2012 in Berlin das Institut für Welternährung – World Food Institute e.V. gegründet: ein Thinktank, in dem Wissenschaftler, Praktiker und Journalisten Politik machen.

Sie haben dabei die Ernährungskrise im Blick, die heute dreierlei meint: Verschwendung, Überkonsum, weltweiter Hunger. Also, dass die Hälfte der Mitteleuropäer durch Ernährung krank ist. Wir uns durch hochverarbeitete Industrienahrung zu viel Fett auf die Rippen essen. Und parallel Unterernährung weltweit fortbesteht. Wilfried Bommert: „Diesen Weg können wir schon aus ökonomischen Gründen nicht weitergehen. Die Kosten für das Kurieren von durch Fehlernährung verursachte Krankheiten steigen massiv. Das kann sich kein Staat leisten.“

Antwort auf die Ernährungskrise

Eine Ernährungswende sei eine Antwort auch auf diese Zuspitzung: Ernährung soll wieder sicherer werden! Wer regional anbaut, macht sich unabhängig vom Weltmarkt. Nahrung soll ökologisch vernünftig produziert werden. Ohne Folgeschäden für Gesundheit und die Umwelt. Beispiel Berlin: Die Hauptstadt will innerhalb von fünf Jahren alle Großküchen auf faire regionale Bio-Kost umstellen und die Köche schulen. „Einfach ist das nicht“, sagt Wilfried Bommert. „Es gibt die Logistik noch nicht. Aber es ist möglich und es wird immer besser, je mehr sich diese Versorgungskette der Sache anpasst.“ Dieser Meinung ist auch der Wissenschaftliche Beirat für Agrarpolitik, Ernährung und gesundheitlichen Verbraucherschutz, der die Bundeslandwirtschaftsministerin berät. In einem Gutachten vom Juni 2020 heißt es: „Eine umfassende Transformation des Ernährungssystems ist sinnvoll, sie ist möglich und sie sollte umgehend begonnen werden.“

Demos machen Druck

Warum sollte die Wende diesmal klappen, wo sich so lang nichts verändert hat? Hatte doch das Umweltbundesamt zuletzt 2017 eine Mehrwertsteuer auf Fleisch gefordert und die Ernährungswende propagiert. Antwort der Grünen-Bundestagsabgeordneten Renate Künast: „Weil wir gerade das Thema Ernährung aus der Gourmet- und Bio-Nische herausholen. Der Trend geht hin zum Alltagskochen! Man hat wieder Freude am Garten, Freude Gutes zu kochen.“

Auch Wilfried Bommert ist zuversichtlich: „Bei den ,Wir-haben-es-satt‘-Demos zur Grünen Woche sind alle dabei, von der AG Bäuerliche Landwirtschaft über Öko-Landbauverbände und Slow Food bis hin zu Entwicklungsorganisationen.“ Wenn in rund 25 großen Städten Ernährungsräte wieder stadtnah Ernährung organisierten, entspreche dies 17 Prozent der Bevölkerung. 40 Prozent der Bevölkerung werde durch Gemeinschaftsverpflegung in Kantinen, Kitas, Schulen, Altenheimen versorgt. „Das ist ein enormer Hebel. Damit wird ein Volumen an Nahrung verbraucht, was letztlich die Ernährungswende auf dem Acker möglich machen wird.“

Lebensmittel sind abenteuerlich billig

Neu ist, dass nun auch der Wissenschaftliche Agrarbeirat die Politik auffordert endlich mehr zu tun. Im Gutachten heißt es: „Die bestehenden Rahmenbedingungen sind in Deutschland wenig hilfreich. Die Verantwortung wird zu stark auf das Individuum verlagert. Viele verfügbare Instrumente werden nicht genutzt. Deutschland ist im europäischen Vergleich Nachzügler.“ Im europäischen Vergleich sind Lebensmittel in Deutschland abenteuerlich billig, unter Discountern tobt ein Preiskampf. Lebensmittel in Deutschland kosteten 2019 europaweit weniger als in Griechenland, Zypern, Malta und in 13 weiteren Ländern.

Renate Künast findet: „Ein Werbeverbot für Billigwurst, wie für Tabak, wird nicht reichen. Wir müssen an die Strukturen ran.“ Die Politikerin hat viele Fragen: „Wie stellen wir es an, dass Billigwurst nicht mehr produziert wird? Dass man sie nicht unter Einkaufspreis verkaufen darf! Dass der Handel auf Regional und Bio macht, aber die hochverarbeiteten Lebensmittel bleiben auch im Regal! Dass bis kurz vor Ladenschluss Obst und Gemüse nachgefüllt wird – und nach Ladenschluss vieles in der Tonne landet!“

Ob sich die Landwirte im Münsterland und der Ernährungsrat in Münster verständigen werden, könnte indes auch eine Frage der Haltung sein. Renate Künast sagt: „Den Artenverlust auf dem Land verursachen wir auch in den Städten: Wir haben Verantwortung dafür, was auf dem Land passiert. Wir können nicht sagen: Die machen was falsch. Die Städte kaufen falsch ein!“

Interview mit Renate Künast

Renate Künast ist als Bundestagsabgeordnete der Grünen Mitglied im Ausschuss für Ernährung und Landwirtschaft. Sie war von 2001 bis 2005 Bundesministerin für Verbraucherschutz, Ernährung und Landwirtschaft.

Frau Künast, wie erkläre ich daheim am Küchentisch die Ernährungswende?
Gesunde Ernährung ist Genuss, Handwerk und Kochen. Aber eben auch: Klima und Artenvielfalt. Naturverbrauch und ein anderes Verständnis von Ernährung: Alles hängt zusammen!

Warum Wende?
Falsche Ernährung kommt uns überall entgegen. Selbst in Krankenhäusern stehen Süßigkeitsautomaten. Es gilt Essen und Genuss neu zu erfahren. Fleisch muss nicht im Mittelpunkt stehen! Wir wollen Foodscaping: Warum gibt es in Parks keine Obstbäume?

Es gilt, Essen und Genuss neu zu erfahren.

Was macht die Politik?
Wir fordern eine integrierte Ernährungspolitik von der Stadtentwicklung bis zum individuellen Einkauf. Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser, Kantinen, Altenheime, Mensen werden zu Vorbildern, indem sie vorwiegend Bio-Lebensmittel kaufen. Am besten regional. Und wir müssen ran an die hochverarbeiteten Lebensmittel! Verbindliche Reduktionsziele bei Zucker, Salz, Fett! Werbung, die sich an Kinder richtet, einschränken! Wir brauchen eine Limosteuer und ein Antiwegwerfgesetz, damit Lebensmittel nicht in der Tonne landen.

Verbote sind uncool.
Moment! Erst haben sich Produzenten herausgenommen, ohne Rücksicht auf Boden, Wasser, Luft zu wirtschaften. Und dann sollen die, die das hinterfragen, die bösen Verbieter sein?

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