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Entwarnung für Müsli und Co

So läuft das Mediengeschäft eben: „Mann beißt Hund“ verkauft sich besser als umgekehrt. Und was heute hochgeschrieben wird, erlebt morgen einen tiefen Fall. Nun hat es das Thema Vollkorn erwischt

Volles Korn – halbe Wahrheit

So läuft das Mediengeschäft eben: „Mann beißt Hund“ verkauft sich besser als umgekehrt. Und was heute hochgeschrieben wird, erlebt morgen einen tiefen Fall. Nun hat es das Thema Vollkorn erwischt. Davon sollte sich niemand verunsichern lassen. Denn unabhängige Experten stellen klar: Wer im Rahmen einer ausgewogenen Mischkost regelmäßig Vollkornbrot, Bratlinge oder Frischkornmüsli konsumiert, lebt gesünder.

Viele Leserbriefe auf die kurze Veröffentlichung in Schrot&Korn 2/2002 („Ist Vollkorn ungesund?“) zeigen uns, dass die Verunsicherung groß ist. Deshalb greifen wir das Thema erneut auf und geben ihm den nötigen Platz, um auch vermeintliche Haare Stück für Stück aus der Suppe zu fischen.

Zunächst einmal verschweigen diese Berichte komplett die positiven Inhaltsstoffe des vollen Korns. Deshalb hier die wichtigsten Fakten am Beispiel des Weizens:

Vitamine:

In 100 Gramm Weizenvollkornmehl stecken 1.400 Mikrogramm Vitamin E (µg/100g). Beim Auszugsmehl der Type 405 sind es gerade einmal 400 µg/100g. Der Verlust beträgt also 71 Prozent. Noch drastischer fällt der Schwund bei den Vitaminen der B-Gruppe aus. Vitamin-B-1: minus 87 Prozent, Niacin: minus 86 Prozent und Folsäure: minus 80 Prozent.

Mineralstoffe:

Vollkorn ist eine wichtige Quelle für Kalium, Magnesium, Eisen und Zink. Auch in diesem Punkt schneidet Weizenmehl der Type 405 wesentlich schlechter ab: Kalium minus 78 Prozent, Magnesium minus 86, Eisen minus 42 und Zink minus 73 Prozent.

Ballaststoffe:

Von ihnen sollten Erwachsene mindestens 30 Gramm täglich im natürlichen Verbund der Lebensmittel zu sich nehmen. Da sie in den Randschichten enthalten sind, liefert ein Vollkornbrot im Vergleich zu einem Weißmehlbrötchen fast die siebenfache Menge dieser gesundheitsfördernden Faserstoffe.Sekundäre Pflanzenstoffe:

Sie sind vor allem in den Randschichten sowie im Keim vorhanden, gehen also bei der Weißmehlproduktion weitgehend verloren. (Alle Angaben aus dem Lehrbuch „Vollwert-Ernährung“ von Koerber/Männle/Leitzmann.)

Wie in vielen Lebensmitteln stehen den „guten“ Inhaltsstoffen auch im Getreide solche gegenüber, die in extrem hoher Dosierung schädlich sein könnten. Den Menschen haben sie im natürlichen Verbund der Nahrungsmittel jedoch seit Jahrtausenden nicht geschadet. Im Falle der Vollkornprodukte stützen die Gegner ihre Argumentation auf drei Stoffe beziehungsweise Stoffgruppen: Phytinsäure, Enzyminhibitoren und Lektine.

Phytinsäure – was ist das?

„Phytinsäure dient der Pflanze als Hauptspeicher für Phosphor und ist überwiegend im Keim und den Außenschichten von Getreidekörnern, Hülsenfruchtsamen und Nüssen zu finden“, erklärt Wiebke Franz, wissenschaftliche Leiterin der UGB-Akademie (Verein für Unabhängige Gesundheitsberatung). Klar ist, dass Phytinsäure mit Mineralstoffen/Spurenelementen und Protein schwerlösliche Verbindungen bildet – und die Mineralstoffe/Spurenelemente dem Körper dann nicht mehr zur Verfügung stehen. Diese Erkenntnis ist übrigens für Vollwertexperten ein „alter Hut“. Sie ändert nichts daran, dass Vollkornprodukte gesund sind (siehe unten).

Kritiker behaupten: Vollkorn führt zu Zinkmangel

Die Lifestyle-Zeitschrift Men’s Health (Februar-Ausgabe) nennt die Phytinsäure deshalb einen „Mineralienräuber“. Sie behauptet, bei Vollwertköstlern werde häufig Zinkmangel diagnostiziert. Auch der Lebensmittelchemiker und Buchautor Udo Pollmer geht mit dieser Theorie hausieren. Nur durch eine Teigführung mit Natursauerteig lasse sich der „Raubeffekt“ neutralisieren. Hierbei würde die Phytinsäure im Roggenmehl zu 80 bis 90 Prozent abgebaut. Aber da es heute in konventionellen Bäckereien kaum noch echtes (nämlich 100-prozentiges und aufwändig hergestelltes) Vollkornbrot gebe, rät Pollmer zur Vorsicht. In Bio-Bäckereien sind natursauer hergestellte Vollkornbrote Standard.

Studien zeigen: Vollwertköstler nehmen mehr Zink auf

Entgegen den Behauptungen von Men’s Health und Pollmer lässt sich wissenschaftlich nachweisen, dass Vollwertköstler und Vegetarier nicht unter Zinkmangel leiden. So zeigte sich etwa in der Gießener Vollwert-Ernährungsstudie mit Schwangeren, dass Vollwertköstlerinnen sogar besser mit Zink versorgt waren als schwangere Mischköstlerinnen. Ein ähnliches Ergebnis brachte eine Untersuchung mit Vegetariern: Diese hatten eine um 30 Prozent höhere Zinkaufnahme als Mischköstler, was die geringere Zinkverfügbarkeit aus pflanzlichen Lebensmitteln ausglich.

Diese Ergebnisse sind nicht verwunderlich, denn im Weißmehl sind ja, wie oben gezeigt, kaum Mineralstoffe vorhanden. Außerdem lässt sich das Phytinsäure-Thema nicht so eindimensional abhandeln, wie es die Vollkorngegner tun. Denn die Randschichten des Getreides enthalten nicht nur Phytinsäure, sondern auch Phytase. Das ist ein Enzym, das die chemischen Verbindungen aus Mineralien und Phytinsäure wieder „knacken“ kann: Zink, Magnesium und Co. werden dadurch frei und können vom Körper aufgenommen werden. Allerdings muss die Phytase dazu erst aktiviert werden: beispielsweise durch Einweichen, Ankeimen oder Teigzubereitung. Wiebke Franz von UGB: „Beim Einweichen von Getreideschrot über Nacht werden etwa 20 Prozent der Phytinsäure gespalten.“ Außerdem sei es ein Märchen, dass Phytinsäure nur durch die dreistufige Natursauerteigführung abgebaut werde. Wiebke Franz verweist auf eine Studie von 1995. Hier wurde bei verschiedenen Versuchen klar nachgewiesen, dass in Roggenvollkornbroten keine Phytinsäure mehr drin ist – ganz unabhängig von der Teigführungsart. „Sogar in Weizenvollkornbroten aus Hefeteig“, so Wiebke Franz, „werden immerhin 50 Prozent der Phytinsäureverbindungen geknackt.“

Positive Effekte von Phytinsäure

Damit nicht genug: Phytinsäure – die im Weißmehl fehlt – hat möglicherweise positive Effekte. So berichten die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) und die Bundesforschungsanstalt für Ernährung (BfE) von vermehrten Hinweisen, dass der Stoff dazu beiträgt, den Blutzuckerspiegel besser zu regulieren und Krebskrankheiten vorzubeugen.

Enzyminhibitoren – was ist das?

Wie in vielen anderen pflanzlichen Lebensmitteln finden sich auch im Getreide Stoffe, die die Verdauungsenzyme des Menschen bremsen. Im Getreide kommen verschiedene so genannte „Inhibitoren“ vor. Allerdings ist dies kein vollkornspezifisches Thema, denn diese Stoffe sitzen auch im Mehlkörper.

Kritiker behaupten: Vollkorn erzeugt Fuselalkohole

Die Zeitschrift Men’s Health schreibt: Aufgrund der Inhibitoren gelange die Stärke des Getreides unverdaut in den Dickdarm. Hier würden sich die Bakterien auf das „Festmahl“ stürzen und Blähungen verursachen. Zudem komme es zur Bildung von Fuselalkoholen, die den Darm und die Leber schädigen könnten.

Fakt ist: Dafür gibt es keine Belege

Die Theorie der Fuselalkohole stützt sich auf persönliche Erfahrungen des Mediziners Professor Karl Pirlet. Wiebke Franz hält dagegen: „Unabhängige Belege für diese Aussagen finden sich in der Literatur nicht.“ Man müsse klar unterscheiden zwischen der Ernährung von gesunden Menschen und einer Diät für Kranke. Es sei denkbar, dass sich bei Darmkrankheiten die Mikroflora derart verschiebe, dass bestimmte Mikrobenarten Fuselalkohole erzeugen. Dies gelte jedoch in keiner Weise für gesunde Menschen.

Was die (ungefährlichen) Blähungen betrifft, so sind die Erfahrungen individuell verschieden. Gerade in der Umstellungsphase reagieren manche Menschen empfindlicher als andere auf die für sie noch ungewohnte Kost. Erfahrungen zeigen zudem, wie Wiebke Franz berichtet, „dass Blähungen im Zusammenhang mit Vollkorn insbesondere dann auftreten, wenn gleichzeitig größere Mengen zuckerhaltige Lebensmittel konsumiert werden.“ Unabhängig davon gebe es in der Vollwertlehre keinen dogmatischen Zwang zum Vollkorn-Verzehr. Wer die Produkte nicht vertrage, könne die Menge reduzieren oder ganz darauf verzichten. Oft genügt es jedoch, sehr fein gemahlene Vollkorn-Backwaren zu bevorzugen.

Positive Wirkungen der Inhibitoren

Auch im Fall der Enzymhemmer ist Schwarz-Weiß-Malerei fehl am Platz. Denn der langsamere Stärkeabbau bremst gleichzeitig den Blutzuckeranstieg. Außerdem gibt es Studien, die zeigen, dass Vegetarier (die naturgemäß mehr dieser pflanzlichen Stoffe aufnehmen) ein geringeres Risiko für Brust-, Prostata- und Dickdarmkrebs haben, so der UGB.

Lektine – was ist das?

In einer Vielzahl von Obst- und Gemüsearten, aber auch in Kartoffeln, Hülsenfrüchten und eben Getreide kommen Lektine vor. Es handelt sich um sekundäre Pflanzenstoffe, die Fraßfeinde abwehren. Lektine werden jedoch auch vom menschlichen Körper selbst sowie von Mikroorganismen gebildet. Es gibt hitzestabile Arten und solche, die durch Hitze zerstört werden (bekanntes Beispiel: Hülsenfrüchte, die man nicht roh verzehren darf).

Kritiker behaupten: Weizen-Lektin schädigt die Darmwand

Lebensmittelchemiker Udo Pollmer warnt insbesondere vor dem Weizenlektin, das nach seiner Meinung besonders aggressiv sein soll. Er beruft sich auf Tierversuche, bei denen durch hohe Dosen von Weizenlektin die Darmwand geschädigt wurde. Dadurch würden die Lektine sowie Allergieauslöser in den Blutkreislauf eingeschleust und Autoimmunkrankheiten wie Polyarthritis verstärkt oder sogar ausgelöst. Fakt ist: Keine schädlichen Effekte beim Menschen

Bei den angeführten Tierversuchen wurde mit extrem hohen Konzentrationen von Weizenlektin gearbeitet. Die Mengen lagen mindestens hundertmal so hoch wie bei der menschlichen Ernährung. Die Bundesforschungsanstalt für Ernährung (BfE) schätzt, dass die durchschnittliche Gesamtmenge aller Lektine pro Tag bei null bis fünf Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht liegt.

„Es gibt drei Gründe, warum beim Menschen keine Schädigungen durch Weizenlektine beobachtet werden“, sagt Dr. Bernhard Watzl von der BfE:

  • die geringe Menge;
  • eine Schutzschicht des Darms (Epithel), die das Eindringen verhindert;
  • und die große Darmfläche, auf der sich die Lektine verteilen können.

Positive Wirkungen von Lektinen

„Inzwischen werden für einige Lektine auch gesundheitsfördernde Effekte diskutiert“, schreibt die DGE. So könnten Lektine beispielsweise die Entstehung von Dickdarmkrebs hemmen, wie aufgrund zellulärer Untersuchungen nachgewiesen werden konnte.

Verbraucherzentralen: Vollkorn ist empfehlenswert

Genauso sehen es die Verbraucherzentralen. „Wir schließen uns den Stellungnahmen von UGB und DGE/BfE an“, sagte Christiane Schäfer von der Verbraucherzentrale Hessen. Es gebe keinen Grund, von den bisherigen Empfehlungen pro Vollkorn abzurücken. Die Ernährungsexpertin wertet die aktuellen Medienberichte als „fatale Entwicklung“. Die Verbraucher würden durch die Effekthascherei total verunsichert.

Peter Gutting


DGE: Vollkorn senkt Krebsrisiko um 33 Prozent

Vollkornprodukte können helfen, wichtigen Zivilisationskrankheiten vorzubeugen: Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes. Darauf weist die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) hin.

  • So zeigte sich in einer Analyse von 40 einschlägigen Studien, dass das Krebsrisiko bei Personen mit hohem Vollkornverzehr um etwa 33 Prozent verringert war im Vergleich zu Personen mit sehr niedrigem bzw. keinem Verzehr von Vollkorn.
  • Ein verringertes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen bei moderatem Vollkornverzehr wurde in zwei Studien, der Nurses Health Study (NHS) sowie der Iowa Women Health Study (IWHS), beobachtet. Es zeigte sich, dass ein hoher Vollkornverzehr (3 Portionen pro Tag) im Vergleich mit einem sehr niedrigen Verzehr das Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall um 25 bis 30 Prozent verringerte.
  • Beide Untersuchungen stellten auch ein verringertes Risiko für die Entstehung von Diabetes mellitus Typ 2 fest.

Kommentar

Vorsicht, Pollmer!

Lebensmittelchemiker Udo Pollmer hat eine erstaunliche „Karriere“ hinter sich: Vom kompromisslosen Kritiker der Lebensmittelkonzerne zur postmodernen Widerlegungsmaschine, der alles und jedes zum Opfer fällt. Insbesondere die Bio-Branche, die der Buchautor in letzter Zeit mit Vorliebe aufs Korn nimmt. Zum Leidwesen seiner einstigen Mitstreiter und Bewunderer, aber getreu dem Motto: Immer gegen den Strom schwimmen.

Udo Pollmer ist Teil der Unterhaltungsbranche. Als Wissenschaftler kaum noch ernst genommen, tummelt er sich in TV- und Radiostudios. Dort ist Provokation um ihrer selbst willen „hip“: „Pollmer stellt fast alles auf den Kopf, was wir über die Wirkungen des Essens zu wissen glauben“, schrieb das Magazin Focus in klammheimlicher Bewunderung.

Schöner lässt sich der Kern des Unterfangens kaum auf den Punkt bringen. Immer genau die Welle beobachten, mit der ein Thema in den Medien hochgespült wird – und dann, kurz bevor sie sich totgelaufen hat, mit der Gegenmeinung hineinsurfen. So einfach ist das mit der Sensation.

Freilich: Mit den Wellen ändern sich auch die Gegenmeinungen. Heute wahr, morgen falsch. Anything goes, alles ist egal. Immerhin lässt sich damit Geld verdienen, als Buchautor und Talk-Show-Gast.

Kann sein, dass der Wellenreiter demnächst an seinen Ausgangspunkt zurückkehrt und erneut „Vorsicht Geschmack“ ruft (so der Titel eines seiner guten Bücher). Wahrscheinlicher ist jedoch, dass er sich – in die Jahre gekommen – zur Ruhe setzt und seine Tantiemen zählt. Wir aber sind gewarnt, wenn das ewige enfant terrible im Fernsehen auftaucht: Vorsicht, Pollmer!

Peter Gutting


ganzes KornMehl Type 405Verlust

Vitamingehalt von Weizen und Weizenmehl

(µg/100g)

(µg/100g)

in %

Vitamin E

1400

400

71

Vitamin B1

480

60

87

Vitamin B2

140

30

79

Niacinäquivalent

5100

700

86

Pantothensäure

1180

210

82

Vitamin B6

440

180

59

Folsäure

49

10

80

Biotin

6,0

1,5

75

Mineralstoffgehalt von Weizen und Weizenmehl

(mg/100g)

(mg/100g)

in %

Kalium

502

108

78

Calcium

44

15

66

Magnesium

147

20

86

Eisen

3,3

1,9

42

Zink

4,1

1,1

73

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