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Rohkost: Den Kochtopf für immer vergessen?

Wie gesund ist reine Rohkost? Über diese Frage wird heftig gestritten. Für die einen ist sie die Idealnahrung schlechthin, für die anderen ist Rohkost gleichbedeutend mit Mangel und Verzicht.

Wie gesund ist reine Rohkost? Über diese Frage wird heftig gestritten. Für die einen ist sie die Idealnahrung schlechthin, für die anderen ist Rohkost gleichbedeutend mit Mangel und Verzicht. Trotz zahlreicher positiver Effekte raten die meisten Ernährungswissenschaftler von 100 Prozent Rohkost als Dauerernährung eher ab.

„Lasst die Nahrung so natürlich wie möglich“, dieser Satz des Vollwert-Pioniers Werner Kollath (1892-1970) wird von ernährungsbewussten Menschen gerne zitiert. Er ist ein klares Plädoyer für möglichst wenig verarbeitete Lebensmittel und somit auch für einen hohen Anteil an Rohkost. Empfohlen werden nach der Vollwert-Lehre mindestens 30, oft sogar 50 Prozent. Denn nur in unerhitzter und frischer Nahrung sind alle wichtigen Inhaltsstoffe in ursprünglicher Form und Menge enthalten. Wer saisonale Angebote aus regionaler Erzeugung anderen Produkten vorzieht, kann mögliche Nährstoffverluste durch lange Transportwege und Lagerzeiten gezielt vermeiden.

Nicht nur Otto Normalverbraucher tut sich schwer, den obengenannten Empfehlungen zu folgen. Auch bei überzeugten Vollwertköstlern stimmen Theorie und Praxis nicht immer überein. Noch weniger Menschen sind so konsequent, daß sie jede Kochnahrung ganz von der Speisekarte streichen. Für die „Hundertprozentigen“ jedoch ist Rohkost das Nonplusultra, die Lösung aller Ernährungsprobleme. Verblüffende Heilerfolge bei ernährungsbedingten Zivilisationskrankheiten wie Arteriosklerose, Herz-Kreislauf-Leiden, Rheuma und in einigen Fällen auch bei Krebs scheinen ihnen recht zu geben. Ist reine Rohkost also der Essweisheit letzter Schluss?

Die Verfasser der Gießener Rohkost-Studie, der ersten umfassenden Datenerhebung über den Ernährungs- und Gesundheitsstatus von Rohköstlern in Deutschland, beantworten die Frage mit Nein. Trotz mancher Stärken sei reine Rohkost als Dauerernährung ungeeignet, besonders für Risikogruppen wie Schwangere, Stillende und Kinder – so das Fazit der Autoren Koebnick, Leitzmann und Strassner. Bei einzelnen Nährstoffen, etwa Vitamin D und Eisen, sei die Versorgungslage „marginal bis mangelhaft“. Auch andere Parameter wie Eiweiß, Calcium, Jod und Vitamin B12 ließen aufgrund der unzureichenden Zufuhr langfristig Defizite erwarten. Die Gießener Studie hat 572 Personen mit einem Rohkostanteil von mindestens 70 Prozent und einer durchschnittlichen Praxis von 2,3 Jahren (Minimum: vier Monate) erfaßt. Unabhängig von den Bewertungen der Experten war die Mehrzahl der Teilnehmer mit ihrer Ernährung sehr zufrieden, 98 Prozent wollten sie auf Dauer beibehalten.

Rohkost hat auch „günstige Auswirkungen auf die Gesundheit“, wie die Diplom-Ökotrophologin Carola Strassner betont: Sie nennt die hohe Dichte an essentiellen Nährstoffen, vor allem bei den hitzelabilen oder oxidationsempfindlichen sekundären Pflanzenstoffen, den hohen Gehalt an Ballaststoffen, die positive Wirkung auf das Zahnfleisch durch gründliches Einspeicheln und Kauen sowie das damit verbundene höhere Sättigungsgefühl bei nur geringer Energiezufuhr. Auch das Verhältnis der Hauptnährstoffe Kohlenhydrate, Eiweiß und Fett entspricht weitgehend den DGE-Empfehlungen. 57 Prozent der Teilnehmer lagen jedoch unterhalb der empfohlenen Energiezufuhr.

Allerdings, so Strassner, sei der „Spielraum für individuell unterschiedliche Bedürfnisse und Verträglichkeiten“ bei vielen Rohköstlern relativ eng. Wer die Nahrungsmittelauswahl durch persönliche Vorlieben und Abneigungen oder die durchaus wünschenswerte Rücksicht auf regionale und ökologische Faktoren zusätzlich einschränke, gefährde die optimale Versorgung und schmälere den Genuss. Strassner will die kritische Bilanz aber nicht als generelles Argument contra Rohkost missverstanden wissen, „dazu ist das Thema zu komplex“. Außerdem sei die Rohkost-Szene zersplittert in diverse Richtungen und stelle somit keine einheitliche Ernährungsform dar. Ihre Anhänger seien oft nur durch die Ablehnung von Kochkost, Getreide, Milch, Fleisch und Fisch vereint. Viele Rohköstler hätten – gemessen an der geltenden Norm – Untergewicht und hielten sich mit dem Trinken sehr zurück.

Ein Essverhalten, das wie die reine Rohkost von den Vorgaben der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) abweicht, führt indes nicht automatisch zu Gesundheitsschäden. Krankheit hängt weder allein vom falschen Essen ab noch von Zufuhrnormen für einzelne Nährstoffe, die den Durchschnitt definieren und nicht absolut gelten. Am Beispiel Vitamin B12 wird dies deutlich. Obwohl die meisten Rohköstler die DGE-Richtwerte erheblich unterschreiten, entwickeln nur die wenigsten einen akuten Mangel. Denn erstens verfügt der Körper über eigene B12-Langzeitspeicher, die je nach Füllstand eine ausreichende Versorgung für bis zu 10 Jahre gewährleisten. Zweitens können selbst Veganer, die weder Milchprodukte noch fermentierte Lebensmittel essen, eventuell unbeabsichtigt Vitamin B12 über Mikroorganismen aufnehmen, die an der Außenseite roher Pflanzennahrung haften. Ob dies tatsächlich in nennenswertem Umfang geschieht, ist noch ungeklärt.

Auch bei den Anhängern einer reinen Rohkosternährung ist vieles Spekulation. Von den moderaten Wegbereitern wie Bircher-Benner oder Waerland haben sich deren moderne Nachfahren weit entfernt. Helmut Wandmaker, der mit seinem Buch „Willst Du gesund sein, vergiss den Kochtopf“ Furore machte, sieht im "Abfall der Menschheit von roher Nahrung" den „wahren Sündenfall“. Wir seien an gekochte Nahrung genetisch nicht angepasst, diese vergifte den Körper, Brot und Getreide verstopften die Atemwege mit zähem Schleim. Weitere Thesen: Milch ist für Erwachsene unverdaulich, „anorganische“ Mineralien aus Kochkost führen zu Verkalkung, die Gärung stärkehaltiger Kohlenhydrate verursacht Herzerkrankungen und - durch den entstehenden Alkohol - letzten Endes eine Art „Trunksucht“. Wandmaker verspricht „unbändige, robuste Gesundheit“ durch basenbildende Früchte-Rohkost („die beste Medizin“) und lehnt auch Nüsse und (ungekeimte) Samen wegen ihrer verdauungsstörenden Enzyminhibitoren ab.

Kritiker bemängeln, dass Wandmaker gesicherte Erkenntnisse häufig mit unbewiesenen Behauptungen vermische. Neben der „Gefahr der Einseitigkeit“ monieren die Gießener Wissenschaftler unter anderem Wandmakers Aussagen über die Unverdaulichkeit von Getreide und die reinigende Kraft der Fruchtsäuren, die „jeder physiologischen Grundlage entbehren“. Auch könne „das weitgehende Fehlen von fettreichen Lebensmitteln zu einer mangelhaften Absorption der fettlöslichen Vitamine und damit zu einer Mangelversorgung des Organismus führen.“

Ähnlich kompromisslos pro Rohkost wie Wandmaker äußert sich der Bestsellerautor Franz Konz. Seine „UrKost“ setzt sich zusammen aus grünen Wildpflanzen, frischen Früchten, Wurzeln und etwas fetter Nahrung wie Eicheln, Bucheckern oder Nüssen. Die meisten Kulturpflanzen sind in Konz' Augen minderwertig, infolgedessen auch die übliche Rohkost und die obstbetonte „Sonnenkost“. Während der normale Rohköstler seine Nahrung „mixt, hackt, schabt, raffelt, presst und zerschneidet und dadurch viel zu viele Angriffsflächen für vorzeitige Oxidationsvorgänge schafft“, will Konz von solchen Manipulationen nichts wissen. Die Tatsache, daß die Suche nach geeigneter UrKost in freier Natur sehr mühsam sein kann, lässt Konz als Einwand nicht gelten. Unsere Bequemlichkeit stehe der Gesundheit häufig im Wege. Doch Konz schaut nicht nur aufs Essen. Im Grunde ist die UrKost nur Teil einer umfassenden Alternativmedizin, die den herrschenden Lebensstil des „zivilisierten“ Menschen radikal in Frage stellt.

Wieder anders geht Devanando Otfried Weise zu Werke. Er hebt stärker die psychische und – wenn man so will – spirituelle Seite der Ernährung hervor. Werde das Essen aus seinem sinnlichen und sozialen Zusammenhang gelöst, so könne auch die beste Speise nicht wirklich nähren. „An erster Stelle stehen Geschmack und emotionale Befriedigung“. Weises zentrale Botschaft ist ein Aufruf zu mehr Bewußtheit und innerer Intuition: „Sie wissen selbst am besten, was Ihnen nutzt und schadet“. Über die Richtung läßt Weise aber keinen Zweifel: „Rohkost hat Priorität“. Kochen zerstöre die natürliche Ganzheit der Lebensmittel, Vitamine, Enzyme und die „Schwingungen der lebenden Zellen“. Deren „Lichtstrahlung“ ist mit Spezialgeräten meßbar und wird von einigen Wissenschaftlern um den Biophotonen-Forscher Fritz-Albert Popp als wesentliches Qualitätsmerkmal für Lebensmittel angesehen. Durch das Erhitzen, so sagt Weise, entstünden zugleich unzählige neue Substanzen, die unser Körper nicht richtig verwerten könne. In einer Grillkartoffel habe man 450 neue chemische Verbindungen nachgewiesen. Trotz alledem ist schonend Erhitztes bei Weise nicht strikt verboten, doch seine „harmonische Ernährung“ ist fleischfrei und vegan.

Dies trifft auf die meisten Rohkost-Formen zu, mit einer Ausnahme: der „Instinktotherapie“ des Schweizers Guy-Claude Burger. Für ihn gehören auch rohes Fleisch und roher Fisch als „Urnahrung“ auf den Speiseplan, wenngleich er vor einem übertriebenem Verzehr warnt. Schon wegen möglicher Infektionen mit Salmonellen oder EHEC-Bakterien raten Ernährungswissenschaftler von dieser Praxis ab. Im Mittelpunkt steht bei Burger der „Ernährungsinstinkt“, der sich durch Riechen und Schmecken ausdrückt. Was als wohlschmeckend empfunden werde, sei in der Regel auch gesund, vor giftigen und schädlichen Stoffen schütze uns eine "instinktive Sperre". Diese funktioniere aber nur bei natürlicher Rohkost. Gekochte Nahrung betrachtet Burger als völligen Irrweg. Nach seiner Ansicht werden mit gekochten Lebensmitteln täglich etwa so viele krebserregende Substanzen aufgenommen wie beim Rauchen von zwei Päckchen Zigaretten. Die beim Kochen gebildeten „anormalen Moleküle“ führten vor allem bei Getreide zu einer Erregung des Nervensystems, zu Aggression und zu geistiger Verwirrung.

Auch die Ernährungsberaterin Jamila Peiter hat früher die Thesen von Burger in ihren Büchern und Seminaren verbreitet. Die reine Rohkost, vor allem aber ihren eigenen „Gesundheits-Fanatismus“ betrachtet Peiter mittlerweile als Täuschung. In ihrer kürzlich erschienenen Autobiographie spürt sie den tieferen Gründen für ihr damaliges Verhalten nach. Radikale Rohkost-Anhänger würden nicht selten von Schuldgefühlen regiert und versuchten sich durch ihre übertriebene Ess-Disziplin unbewußt zu reinigen. Andere möchten ihre Umwelt durch Askese beeindrucken. Die Beraterin spricht vor allem von sich und will nicht alle anderen über einen Kamm scheren. Doch sieht sie bei ihren einstigen Mitstreitern ähnliche Motive wirken.

„Perfekte Gesundheit ist eine Illusion“, gesteht Jamila Peiter. Alle rigiden Ernährungs-Programme erzeugen negativen Streß und beeinträchtigen die Funktion der Verdauungsorgane, meint sie. Roh oder gekocht, vegetarisch oder nicht, diese Fragen stehen für sie nicht mehr im Vordergrund. Zwar sei Rohkost bei manchen Leiden eine „Hilfe für einen begrenzten Zeitraum“, als Dauerlösung tauge sie jedoch nur in Einzelfällen. Peiter isst nach wie vor viel Frisches und fast nur „Bio“, will sich aber nicht auf die materielle Ebene der Ernährung fixieren. Den Zustand der Seele sowie Freude und Genuss dürfe man nicht als Nebensächlichkeiten abtun. „Ein entspannter und glücklicher Mensch kann praktisch alles essen und trinken, vorausgesetzt, er achtet bewusst auf die Menge.“

Nicht für jeden ist Rohkost demnach der richtige Weg. Für den Makrobioten Steve Acuff ist sie lediglich eine „wertvolle Ergänzung“, die bei der Aufrechterhaltung des Yin-Yang Gleichgewichts eine Rolle spielt. Die beiden polaren Kräfte steuern nach asiatischem Verständnis alle Lebensvorgänge. Nur wenn sie in Balance sind, bleiben wir gesund. Rohkost (Yin) sei speziell bei Frauen und Kindern angezeigt ^wegen ihres erhöhten Yin-Bedürfnisses“, schreibt Acuff. Auch Männer, die viel Fleisch, Käse und Eier (Yang) essen, könnten ihren Yang-Überschuss mit Rohkost abbauen. Im Winter und in kälteren Klimazonen passe Rohkost aber nicht zum Speiseplan, denn sie kühle den Körper ab. Ähnlich hatte vor Jahrhunderten schon Hildegard von Bingen argumentiert, die besonders morgens warme Speisen empfahl. Beim Kochen hängt für Acuff einiges von der Zubereitungsweise ab. Wer wenig Wasser verwende und nur kurz erhitze, halte die Vitalstoffverluste in Grenzen. Wer beim überwiegenden Genuß von Rohkost zum Frieren neigt, sollte nach Acuff lieber den Herd bemühen.

Die anthroposophisch orientierte Ernährungswissenschaftlerin Petra Kühne teilt diese Auffassung. Die Suppe zum Frühstück habe in bäuerlichen Haushalten noch immer Tradition. Aus Kühnes Sicht wirkt Kochkost mehr nach innen auf die Organsysteme, Rohkost dagegen bis in die äußersten Bereiche der Haut. Ernährung soll uns zur Innerlichkeit leiten, so will es die Lehre von Rudolf Steiner. Daß Rohkost die Seelenwärme aus dem Körper ziehe, schränke ihren Stellenwert zumindest ein. Nicht zufällig habe die reine Rohkostlehre genau dort die meisten Anhänger, wo eine „Kultur der Äußerlichkeit“ herrsche, nämlich in den USA.

Wenn Menschen im sonnenüberfluteten Kalifornien nur Obst essen, mag das angehen, bemerkt auch Jamila Peiter. In Deutschland könnten kühlende Orangen den Organismus zur falschen Zeit eher schwächen. Konkrete Rohkost-Empfehlungen in Prozentzahlen halten beide für unpraktisch und kontraproduktiv. Kühne: „Wer läuft schon dauernd mit der Waage herum?“ Da wir alle Individuen seien, müsse jeder selbst herausfinden, was ihm bekommt.

Der Durchschnittsbürger isst zu viel, zu süß, zu salzig und zu fett. Frische Speisen sind oft Mangelware. Den meisten Menschen empfehlen Ernährungswissenschaftler daher, ihren Rohkostanteil zu erhöhen. Möglichst schrittweise, um das Verdauungssystem nicht zu überfordern. Am verträglichsten ist Rohkost, wenn sie entweder allein, als Zwischenmahlzeit oder vor dem warmen Hauptgang gegessen wird. Um die wertvollen Inhaltsstoffe zu erhalten, sollte man saisonale Produkte aus der näheren Umgebung bevorzugen und zu Hause kühl, lichtgeschützt und nur kurzzeitig lagern. Zudem sollten die Zutaten nicht zu lange gewässert und erst unmittelbar vor der Zubereitung angeschnitten werden.

Wer sich überwiegend von Rohkost ernährt, muss nach Meinung von Fachleuten auf abwechslungsreiche Kost besonders achten. Eiweiß (10-15%), Fett (25-30%) und Kohlenhydrate (55-60%) sollten zueinander in angemessenem Verhältnis stehen. Andernfalls seien Energiedefizite zu erwarten. Reine Obstrohkost, die primär Wasser und Kohlenhydrate enthält, scheint auf Dauer in unseren Breiten problematisch. Nüsse und Samen dagegen liefern reichlich pflanzliches Eiweiß und genügend Fette. Als Fettlieferanten kommen Avocados, Hafer oder kaltgepreßte Pflanzenöle in Frage. Wer sich mit Rohkost nicht wohl fühlt, als Normalgewichtiger ständig abnimmt oder oft friert, sollte allerdings seine Ernährungspraxis überdenken.

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