LEBENSMITTEL Noch immer landen jedes dritte Brot und jeder dritte Apfel im Müll. Dabei gäbe es viele Möglichkeiten, das zu ändern. // Katja Niedzwezky
Die ersten 122 Tage diesen Jahres haben Bauern und Lebensmittelfirmen nur für die Mülldeponie produziert, denn alle Nahrungsmittel, die sie bis dahin hergestellt haben, landeten in der Tonne. Rein statistisch zumindest, das hat die Umweltorganisation WWF ermittelt. Damit hat sich der 2. Mai den wenig schmeichelhaften Titel „Tag der Lebensmittelverschwendung“ eingehandelt.
Fünf Jahre nach dem Kinofilm „Taste the Waste“ und vielen Diskussionen über das erschreckende Ausmaß der Lebensmittelverschwendung werfen wir noch immer rund ein Drittel unserer Nahrungsmittel weg. In Deutschland sind es laut WWF 18 Millionen Tonnen im Jahr, weltweit spricht die FAO von 1,3 Milliarden Tonnen. Dieses Ausmaß an Lebensmittelverschwendung ist nicht nur moralisch verwerflich. Es hat ernste Konsequenzen – für die Menschen in den Entwicklungsländern und für das Klima.
Brisanz war lange Zeit nicht klar
Lebensmittelverschwendung war lange Zeit kein Thema. Den Stein ins Rollen brachte der Filmemacher Valentin Thurn, als er 2008 eine Reportage über Menschen drehte, die Lebensmittel aus den Mülltonnen der Supermärkte holen: „Als die Mülltaucher die Container der Märkte geöffnet haben, haben sie auch meine Augen geöffnet, ich konnte das gar nicht glauben“, erinnert sich Thurn. „So viele gute Lebensmittel!“ Das Team wollte herausfinden, warum es sich für Unternehmen lohnt, essbare Lebensmittel zu entsorgen. Bei der Recherche stießen sie zunächst auf eine riesige Datenlücke. Niemand kannte Zahlen zum Anteil von Lebensmitteln im Müll, niemand konnte sagen, wo überall Essen verschwendet wird und warum.
Thurn und sein Team interviewten Supermarkt-Manager, Großmarkt-Inspektoren, Landwirte und Politiker und produzierten 2010 zunächst eine Fernsehdoku und später den Kinofilm „Taste the Waste“. Die Zuschauer reagierten genauso bestürzt wie der Regisseur. Schon kurze Zeit nach der Ausstrahlung ließ die damalige Bundeslandwirtschaftsministerin Ilse Aigner eine Studie in Auftrag geben, die die Datenlücken schließen sollte.
Das Ergebnis wurde 2012 veröffentlicht: Als größte Verursacher für Verluste wurden die Privathaushalte ausgemacht. Sie sollen zu 61 Prozent für Lebensmittelabfälle verantwortlich sein, der Handel nur für fünf Prozent. Der Schwerpunkt der bundesweiten Kampagne des Landwirtschaftsministeriums „Zu gut für die Tonne“ richtet sich dann auch entsprechend an die Verbraucher.
Gegen Lebensmittelverschwendung: die WWF-Aktion „Essensretterbrunch“ mit Enie van de Meiklokjes und Andreas Hoppe. (© Robert Günther/WWF)
Wer wirft mehr weg?
Die ermittelten Zahlen sind jedoch stark umstritten. „Die Studie wurde in der Öffentlichkeit verkürzt wiedergegeben und so lange gedreht, bis es politisch gepasst hat“, kritisiert Thurn. Das meiste werde weggeworfen, bevor es uns erreicht. Sicher ist: Die Studie hat die Landwirtschaft nicht betrachtet. Und so kam der WWF vor einem Jahr in seiner Studie, für die auch die Verluste auf dem Acker betrachtet wurden, zu einem umgekehrten Ergebnis: 60 Prozent der Lebensmittel gehen verloren, bevor sie die Konsumenten erreichen, also auf dem Acker, bei den Produzenten und Großverbrauchern wie Kantinen und Restaurants.
Letztendlich ist es zweitrangig, wer mehr wegwirft. Unbestritten ist, dass auf allen Stufen zu viel verschwendet wird. Die Bundesregierung müsse alle Akteure in die Pflicht nehmen, fordert deshalb Valentin Thurn: „Wir können nur Lösungen finden, wenn wir entlang der Kette zusammenarbeiten. Wir sind alle Bösewichte, es kann nicht einer dem anderen den Schwarzen Peter zuschieben.“
Uns Verbraucher haben Handelsklassen und Qualitätsnormen jahrzehntelang vorgegaukelt, dass Möhren alle gleich groß sind, Äpfel niemals Schorf haben und jede Gurke gerade wächst. Wir haben uns daran gewöhnt. Also sortieren Landwirte schon bei der Ernte die „schrägen Stücke“ aus und pflügen sie gleich wieder unter. Die niedrigen Preise für Lebensmittel in Deutschland tragen zudem dazu bei, dass die Wertschätzung schwindet. Oft landet zu viel im Einkaufswagen – und später im Müll.
Als Verbraucher können wir ein Zeichen gegen Verschwendung setzen, indem wir einfach mal bei weniger perfekten Stücken zugreifen: Viele Bio-Läden beziehen Obst und Gemüse aus der Region, nicht immer ganz gerade und glatt. Und wer aus Kartoffeln ohnehin Kartoffelbrei machen will, braucht keine Exemplare aus dem Gemüse-Schönheitssalon. Auch die Milch, die nicht mehr so lange hält, hat einen bevorzugten Platz im Einkaufskorb verdient, wenn man sie sowieso bald trinken möchte.
Im Handel könnten nach Einschätzung des WWF bis zu 90 Prozent aller bisher entsorgten Lebensmittel gerettet werden. Zwar sei die Datenlage „sehr diffus“, doch es gebe Ansatzpunkte. Der WWF fordert zum Beispiel, das Herstellungsdatum auf den Produkten anzugeben, um das Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) vergleichbarer zu machen. Für Produkte wie Salz, Hartweizen und Reis sollte es ganz abgeschafft werden. Überdacht werden sollte auch der Anspruch, dass Obst, Gemüse und Backwaren bis Ladenschluss vollständig verfügbar sein müssen.
Jede Aktion gegen Lebensmittelverschwendung zählt, denn in jedem Lebensmittel stecken wertvolle Ressourcen: Wasser, Energie, Arbeitskraft. Wenn das Essen im Müll landet, war aller Einsatz umsonst. Zudem heizt Lebensmittelverschwendung den Klimawandel an. Nach Angaben der UN-Landwirtschaftsorganisation FAO sind Erzeugung, Verarbeitung, Lagerung und der Transport nicht verzehrter Lebensmittel verantwortlich für den Ausstoß von 3,3 Gigatonnen Treibhausgas weltweit. Wäre die Lebensmittelverschwendung ein Staat, stünde sie damit auf Platz 3 nach China und den USA, die jeweils etwa sieben Gigatonnen Treibhausgas im Jahr ausstoßen.
Und während Millionen Menschen hungern, werden fast 30 Prozent der weltweiten Anbaufläche mit Nahrungsmitteln bebaut, die in der Tonne landen. Hauptverschwender in den Industrieländern sind der Handel und die Konsumenten. In den Entwicklungsländern gehen hingegen 40 Prozent schon direkt nach der Ernte oder bei der Verarbeitung verloren. Mangelndes Wissen, Schädlingsbefall, unzureichende Kühlung und zu wenig Lagerplatz zählen zu den Ursachen. Die FAO empfiehlt daher dringend Investitionen in die Infrastruktur. Die Verbraucher in den Entwicklungsländern verschwenden fast nichts – sechs bis elf Kilogramm pro Jahr – in Europa und in Nordamerika sind es um die 100 Kilogramm.
Was tut die Politik?
Auf internationaler Ebene ist in den letzten Jahren einiges in Gang gekommen: Die Europäische Kommission hat sich zum Ziel gesetzt, genusstaugliche Lebensmittelabfälle in der EU bis 2020 zu halbieren. Frankreich hat im Februar ein lang diskutiertes Gesetz verabschiedet und hohe Strafen für Supermärkte ab 400 Quadratmeter eingeführt, die übrig gebliebene Lebensmittel nicht spenden beziehungsweise nicht als Tierfutter oder als Kompost der Landwirtschaft zur Verfügung stellen. Auch Italien will die Lebensmittelvergeudung im Handel eindämmen, aber mit Anreizen statt mit Strafen. So soll es der Abbau bürokratischer Hürden einfacher machen, abgelaufene Lebensmittel zu spenden. Auch niedrigere Müllsteuern für Märkte mit einem geringen Müllaufkommen sind geplant.
In Großbritannien unterstützt die Regierung seit zehn Jahren das „Waste and Resources Action Programm“, das öffentliche Kampagnen durchführt und freiwillige Vereinbarungen mit Handelsketten und Herstellern trifft – immer mit dem Ziel, weniger Lebensmittelmüll zu produzieren. In England ist auch die Datenlage besser, da Studien durchgeführt worden sind, für die nicht nur im Elfenbeinturm gerechnet, sondern auch echter Müll aus mehr als 2 000 Haushalten untersucht wurde. Eine zeigt, dass die Haushalte zwischen 2007 und 2012 ein Fünftel weniger Lebensmittelabfälle produziert haben. In Dänemark hat im Februar sogar ein Supermarkt eröffnet, der nur ausrangierte Nahrungsmittel anbietet. „Wefood“ wurde über Crowdfunding finanziert, das Team arbeitet unentgeltlich. Dänemark ist überhaupt ein Vorreiter: Die nationale Kampagne „Stop Spild Af Mad“ gegen Verschwendung begann schon vor acht Jahren, und in den letzten fünf Jahren sank die Menge der Lebensmittelabfälle um 25 Prozent.
Deutschland setzt auf Freiwilligkeit
Die Bundesregierung hat das Ziel, die Lebensmittelverluste bis 2030 zu halbieren. Auf Gesetze wie in Frankreich und Italien will sie dabei nicht setzen. Stattdessen sollen mit allen Akteuren entlang der Wertschöpfungskette Vereinbarungen auf freiwilliger Basis getroffen werden, teilte ein Sprecher des Landwirtschaftsministeriums mit. Außerdem soll das MHD weiterentwickelt werden. Details dazu wollte das Ministerium nicht nennen. Die zunächst von Schmidt angekündigte Abschaffung ist vom Tisch, weil Untersuchungen zeigen, dass das MHD doch kein so wichtiger Grund fürs Wegwerfen sei wie oft angenommen.
Für Valentin Thurn ist das nicht genug. Er wünscht sich mehr Einsatz auf politischer Ebene: „Es sollte eine Abteilung geben mit 10 oder 20 Planstellen, das ist überhaupt nicht zu viel, um sich so einer Mega-Aufgabe zu stellen.“ Auch der WWF fordert eine Koordinierungsstelle und vor allem eine Strategie mit verbindlichen Zielen für alle an der Herstellung von Lebensmitteln Beteiligten. Thurn schlägt zudem vor, die Entsorgungskosten für Lebensmittel-Müll zu erhöhen. Im Moment lohne es sich für Supermärkte betriebswirtschaftlich, etwas wegzuwerfen. „Wenn in einem Netz Orangen eine faulig ist, dann ist es mehr Aufwand, das aufzureißen und neu zu sortieren als gleich das ganze Netz wegzuschmeißen“, nennt er ein Beispiel.
Projekte, Aktionen, Petitionen
Der Verein Foodsharing, in dem der Filmemacher aktiv ist, will mit der Petition „Leere Tonne“ einen Wegwerfstopp für Supermärkte wie in Frankreich erreichen. Außerdem bestücken die ehrenamtlich tätigen Mitarbeiter öffentlich zugängliche „Fair-Teiler“ mit übrig gebliebenen Lebensmitteln von Privatleuten, Händlern und Landwirten. Zugreifen darf jeder. Und auch andere Initiativen machen vor, wie man Essen retten kann. Der Verein „Restlos glücklich“ betreibt ein Restaurant in Berlin, in dem aufgetischt wird, was Bio-Händler übrig haben. Die Gründer von Querfeld (ehemals Ugly Fruits) versuchen, Supermärkte zu überzeugen, nicht ganz makelloses Obst und Gemüse aus der Region anzubieten. Und dann gibt es noch Unternehmen wie biond (Interview Seite 22). Die Cateringfirma erhielt im Frühjahr den Bundespreis „Zu gut für die Tonne“ vom Bundeslandwirtschaftsministerium. Den erhalten Projekte, die es schaffen, Lebensmittelabfälle zu verringern. Und davon kann es nicht genug geben. Retten Sie mit! Damit im nächs-ten Jahr der Tag der Lebensmittelverschwendung um
einige Kalendertage nach vorne rückt.
So einfach geht es: Lebensmittel retten
- Nicht mehr als nötig kaufen ( Einkaufszettel helfen!). Vor dem Kochen schauen, was zuerst weg muss. Reste einfrieren oder verwerten. Tipps geben Kochbücher und Apps wie „Zu gut für die Tonne!“.
- Lebensmittel richtig lagern – oft gibt die Verpackung Hinweise.
- Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen? Nichts ungesehen wegwerfen, sondern mit allen Sinnen prüfen, ob das Produkt noch gut ist.
- Auswärts essen : Bei kleinem Hunger kleine Portionen bestellen.
- Petitionen unterstützen:
www.leeretonne.de (Wegwerfstopp für Supermärkte)
www.foodsharing.de (Fair-Teiler retten), www.change.org, Stichwort „Lebensmittel“ (Supermärkte sollen Lebensmittel spenden)
Interview: „Wir schmeißen nur drei Prozent weg“
Wie kann eine Großküche weniger Abfall produzieren?
Wir arbeiten mit Bio-Lebensmitteln und wissen, wie viel Mühe und Leidenschaft da drin stecken. Daher ist es für uns selbstverständlich, sorgfältig damit umzugehen. Das fängt bei der Speiseplanung an. Da stimme ich mich mit den Bio-Landwirten und unserem Metzger ab. Aus Gemüseresten stellen wir Fonds her, und junge Möhren verarbeiten wir mit Schale. Man könnte auch das Billigste einkaufen, dann ist Wegschmeißen günstiger als darüber nachzudenken, was man noch damit machen könnte. Wir wissen, dass Großküchen bis zu 45 Prozent wegwerfen. Wir liegen bei knapp drei Prozent.
Sie beliefern Schulmensen und beziehen die Kinder mit ein. Wie machen Sie das?
Die Kinder können ihr Essen an bis zu sieben Buffetstationen zusammenstellen. So nehmen sie nur, was sie auch essen möchten. Kaum etwas landet im Abfall. Die Kinder begreifen schnell, dass man mehrmals gehen kann, statt Riesenportionen aufzuladen und dann etwas wegzuschmeißen. Wir bieten ihnen auch „Probierchen“ an, wenn sie etwas noch nicht kennen. Die Regel ist, dass ein leerer Teller abgegeben werden soll. Für das „Abfallbarometer“ werden täglich die Abfälle gewogen. Ist das Ziel erreicht, gibt es am nächsten Tag ein Extra-Dessert.
Warum ist es Ihnen wichtig, die Kinder mit einzubeziehen?
Die Kinder sollen die Vielfalt der Lebensmittel kennenlernen und eine Beziehung dazu aufbauen. Dann gehen sie respektvoller damit um. Wir beziehen die Kinder auch in die Mensabläufe ein. Sie achten darauf, dass die Stationen ordentlich ausschauen, und sie säubern die Teller. In unseren Workshops können die Kinder schnippeln und probieren. Wenn sie sehen, was ein Stück Rote Bete aus einem Smoothie macht, sind sie begeistert: „Das wird ja pink, cool!“
www.foodsharing.de
Plattform mit interaktiver Karte für alle, die Lebensmittel anbieten oder abholen möchten.
www.wwf.de/das-grosse-wegschmeissen
WWF-Studie „Das große Wegschmeißen“
www.umweltbundesamt.de/tags/lebensmittelverschwendung
Fakten zur Lebensmittelverschwendung und den Folgen für die Umwelt
www.zugutfuerdietonne.de
Infokampagne des Bundesministeriums für Ernährung
Möller, Hildegard: Restlos! Clever kochen mit Resten.
Kosmos Verlag, 2014, 144 Seiten, 14,99 Euro
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