Was bedeutet „al dente“?
„Al dente ist eine Erfindung von Barilla.“ Alessandro Di Antonio verzieht das Gesicht und unterstreicht seine Ablehnung noch mit einer scharfen Handbewegung. Er mag das Modewort von der bissfesten Qualität nicht. „Wir sprechen lieber von Pasta al buono – von wirklich guten Nudeln“. Wo ist da der Unterschied? „Das Entscheidende ist die Trocknung“, sagt der kleine Mann mit den kurzen, schwarzen Locken und beginnt zu erklären. „In einer großen Pastificio (Nudelfabrik) werden die Nudeln in drei bis vier Stunden getrocknet, bei Temperaturen bis 130 Grad.“ Auf der Strecke bleiben bei diesen hohen Temperaturen wichtige Vitalstoffe.
Warum sanft getrocknete Nudel weniger Vitamin-Verluste haben
Alessandro Di Antonio holt zwei dicke Bücher aus dem kleinen Stahlregal an der Wand und sucht die passenden Fachaufsätze. „Hier, sehen Sie, bei 80 Grad Trocknungstemperatur haben sie schon 40 Prozent weniger Vitamin B1 und 53 Prozent weniger Vitamin B2.“ Auch der Gehalt an verfügbarem Lysin und Methionin, zwei essentiellen Aminosäuren, verringert sich deutlich. Und: Bereits ab 60 Grad, so argumentiert Alessandro Di Antonio, verändert sich die Struktur der Stärke. Sie geliert, wird härter und schwerer verdaulich, lässt sich aber gut kochen. „Ganz egal, ob solche Nudeln sieben oder zehn Minuten kochten, sie haben immer etwas Biss, werden nie ganz weich. Die kann ein Restaurant frühmorgens kochen und mittags kurz aufwärmen, sie sind immer al dente.“ Die großen Nudelhersteller hätten in der Werbung diesen Begriff absichtlich nach vorne gerückt. „Der Verbraucher freut sich, dass die Nudeln immer so schön al dente werden und die Hersteller haben erfolgreich vom Qualitätsverlust ihrer schnell getrockneten Nudeln abgelenkt.“
Signore Di Antonio rückt die blaue Brille zurecht, sucht einen weiteren Fachaufsatz. Er will mit Analysen und Messwerten exakt belegen, was seine Familie schon seit Generationen aus Erfahrung weiß. Denn Alessandro ist Pastaio (Nudelmacher) mit Leib und Seele. Sein Urgroßvater Giustino Di Antonio gründete 1874 die gleichnamige Firma, in Teramo, einem kleinen Ort auf dem Weg von der Adria in die Abruzzen. Die Produktion war damals Handarbeit. Nur die Nudelpresse wurde maschinell angetrieben – vom Wasser des Gebirgsflusses Tordino.
In der Sonne getrocknet. Der Urgroßvater hatte schnell Erfolg, wie die golden gerahmten und etwas verblichenen Urkunden zeigen, die über Alessandros Schreibtisch hängen – Auszeichnungen von landwirtschaftlichen Ausstellungen und Messen: Florenz 1907, Bologna 1909, Rom 1912. Auf einem großen Schwarz-Weiß-Foto ist zu sehen, wie vor 100 Jahren die Spaghetti, auf Rohrstöcken aufgehängt, in der Sonne trockneten. Zwei bis drei Tage dauerte es damals, bis die Nudeln fertig waren. Der Nudelmeister musste aus Erfahrung den richtigen Zeitpunkt bestimmen können.
Heute sorgt bei Di Antonio ein genau programmierter Umlufttrockner für das richtige Timing. Dessen Arbeitstemperatur entspricht der Sonnenwärme eines mittelitalienischen Sommers: Sie liegt bei nur 40 Grad. 24 bis 40 Stunden dauert, je nach Sorte, das Trocknen. Eine solche Pasta al buono wird beim Kochen von außen nach innen weich. Fertig ist sie, wenn in der Mitte einer angebrochenen Nudel noch etwas feste Stärke sichtbar ist: ein ganz kleiner weißer Punkt. So fehlertolerant wie Industrie-Pasta sind die Nudeln von Di Antonio in der Küche nicht. „Da muss man während des Kochens schon zwei, drei Mal probieren, um den richtigen Zeitpunkt zu erwischen.“ Die auf den Tüten angegebene Kochzeit ist ein guter Anhaltspunkt. „Aber die kann je nach der Qualität des Hartweizenjahrgangs auch um eine Minute schwanken.“
So werden Spaghetti und andere Nudeln gemacht
Nach der Vorlesung in Pastalogie geht es hinauf in den ersten Stock des unscheinbaren, außen hellblau gekachelten Industriegebäudes. Dort schlägt das Herz der Pastificio Di Antonio. Besser gesagt, es dampft. In dem großen Raum herrscht Nebel bei Temperaturen um die 40 Grad. Zwei jeweils über 20 Meter lange, nebeneinander stehende Maschinen füllen den Raum aus. Die rechte ist für lange Nudeln, die linke für flache, kurze und gebogene Formen. Die Nudeln selbst sind nur kurz zu sehen, wenn der Teig durch die Presse gedrückt wird, in dünnen Fäden herauskommt und von exakt eingestellten Messern auf die passende Länge geschnitten wird. Gleich geht es weiter in den Trockner, einen ziemlich langen, silbrig glänzenden Schrank, den die Nudeln nun im Schneckentempo über mehrere Etagen durchlaufen. Von dort stammt auch der Wasserdampf, der durch die Halle wabert. 500 Kilogramm Nudeln je Stunde kann jede der beiden vollautomatischen Nudelmaschinen produzieren, fast ohne menschliche Hilfe. Zwei Arbeiter genügen, um die Produktion zu kontrollieren.
Druck statt Hitze. Einer von ihnen ist Tonio Di Carolus, der Nudelmeister. Er überwacht die Anlage und versorgt die automatische, kontinuierlich arbeitende Teigknetmaschine mit Hartweizenmehl und Wasser. Geknetet wird unter Luftabschluss. Denn kleine Luftbläschen im Teig könnten die Nudeln brüchig machen. 20 Minuten dauert es, bis der Teig – fertig geknetet – am anderen Ende der Maschine ankommt und zur Presse befördert wird. Die ist das Herzstück der ganzen Anlage. Hier wird der Teig in Form gebracht. Dazu braucht es ordentlich Druck – 170 Bar. Eine Wasserkühlung verhindert, dass der Teig sich bei diesem enormen Druck zu stark erhitzt.
Was bedeutet eigentlich Pasta?
Der italienische Begriff Pasta heißt auf Deutsch „zäher Teig“. Unsere Worte Paste und pastös sind damit verwandt. Während in Deutschland „Pasta“ für Nudeln aus Hartweizen und ohne Ei steht, bedeutet Pasta in Italien ganz einfach Nudel.
Deren Charakter wird durch verschiedene Adjektive beschrieben:
Pasta fresca sind frische Nudeln, die vor allem in Norditalien Eier enthalten können und dann Pasta all’ uovo heißen. Pasta secca sind die getrockneten Nudeln. Wird Vollkornmehl einsetzt, heißen sie Pasta integrale. Das Wort Semola steht für den üblicherweise verwendete teilausgemahlenen Grieß, bei Semolata ist der Schalenanteil etwas höher.
Ob dünne Spaghetti, spiralförmige Fusilli oder Conchiglioni-Muscheln aus dem Teig werden – das entscheidet der jeweilige Form-Einsatz. Tonio Di Carolus schleppt einen der goldfarbenen Metallbalken heran. Auf knapp eineinhalb Metern Länge sind über tausend kleine Löchlein angeordnet: Klar, das ist die Spaghetti-Form. Auf den ersten Blick nicht sichtbar ist ein weiteres kleines Geheimnis der Pastificio Di Antonio. „Bronzo“ heißt das Zauberwort. Es bedeutet, dass die Beschichtung der Löchlein bei diesem Einsatz nicht wie üblich aus Teflon ist, sondern aus Bronze. Dadurch wird die Oberfläche der Nudel leicht aufgeraut und die Nudel ist griffiger. „Da bleibt keine Soße im Teller“, schmunzelt der Nudelmeister. Solche Bronze-Einsätze sind selten geworden, in großen Fabriken werden sie überhaupt nicht eingesetzt. Denn durch die raue Oberfläche benötigt die Presse mehr Druck, mehr Energie und mehr Zeit. Auch sind sie schwerer zu reinigen. Vollkornnudeln werden übrigens grundsätzlich durch Teflon-Einsätze gepresst, weil bei ihnen die Oberfläche durch den Kleie-Anteil von Haus aus rauer ist.
An der Wand steht ein ganzes Sortiment der goldenen Balken. Schließlich gibt es bei Di Antonio allein fünf Sorten Spaghetti, die sich nur im Durchmesser unterscheiden, dazu verschiedene Makkaroni, Bandnudeln wie Fettuccine und mehrere Sorten Lasagne.
Die Einsätze für die andere Nudelmaschine sind rund, Durchmesser etwa 40 Zentimeter. Mit ihrer Hilfe wird die Mehrzahl der rund 90 Nudelsorten produziert. Egal, wie ausgefallen die Form ist – die Herstellung funktioniert ohne Handarbeit. Entscheidend sind die Art der Löcher sowie winzige Luftdüsen, die bei Röhrennudeln das Zusammenkleben des Teiges verhindern.
Eigenes Qualitätssystem. Alle zwei bis drei Stunden werden die Maschinen auf neue Formen umgestellt, um immer alle Nudeln auf Lager zu haben. Dieses befindet sich ein Stockwerk tiefer im Erdgeschoss. Die fertigen Produkte werden automatisch nach unten gebracht, verpackt und kommen dann ins Auslieferungslager. Von dort gehen sie nach Italien, Deutschland, in andere europäische Länder, aber auch nach Japan und in die USA.
So viele Nudeln macht Di Antonio
Einen Teil seiner Produktion vermarktet Alessandro Di Antonio selbst unter seinem Familiennamen. Den größten Teil jedoch liefert er an die Bio-Kooperative La Terra e il Cielo (auf deutsch: Erde und Himmel), die die Nudeln unter ihrem eigenem Namen auch in deutschen Naturkostläden verkauft. Dem Verbund gehören 90 Bauern an, die insgesamt 2.000 Hektar Land bewirtschaften – eine der größten Bio-Kooperativen in Italien. Wichtigstes Anbauprodukt ist Hartweizen, der komplett in die Nudelproduktion geht. Zwei Steinmühlen – eine für Vollkornmehl, eine für Hartweizengrieß – mahlen den Weizen, der von den Bauern in ein zentrales Lager geliefert wird. Rund 40 Prozent werden zu Vollkornnudeln, 60 Prozent zu hellen Nudeln verarbeitet. Zusammen sind das gut 1.000 Tonnen Nudeln im Jahr.
Auch Olivenöl, Wein, Tomatenprodukte oder Getreidekaffe finden sich im Sortiment der Kooperative. „Wir versuchen, möglichst alle Produkte unserer Bauern zu verarbeiten und zu vermarkten“, sagt Geschäftsführer Bruno Sebastianelli. Dadurch erhöht sich die Wertschöpfung für die Genossenschaft, die inzwischen in der Region einige eigene Bio-Läden betreibt. „Und wir haben mehr Einfluss auf die Qualität.“ So gilt für die Bauern, dass sie ihren ganzen Hof biologisch bewirtschaften müssen. Zusätzliche Auflagen wie Schutzabstände und Hecken zu konventionellen Nachbarn sollen Pestizidverfrachtungen minimieren. Zur Qualität gehört für Bruno Sebastianelli auch, dass die Verarbeiter ebenfalls reine Bio-Betriebe sind – wie die Nudelfabrik Di Antonio, wo bereits seit zehn Jahren nur noch Bio-Hartweizen in die Maschinen kommt.
„Für unsere Kunden steht die traditionelle Qualität im Vordergrund“, sagt der Firmenchef. Auch die vielen Formen seien überliefert, neue Nudelsorten gebe es praktisch nicht. Wirklich nicht? Alessandro Di Antonio bringt einige Packungen ohne Etikett. „Die Produkte testen wir gerade.“ In der Tüte sind viereckige Spaghetti.
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